SPIEGEL ONLINE - 17. Dezember 2004, 17:43
URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,33331 5,00.html
DEBATTE
"Hrt auf, den Vlkermord an den Armeniern zu leugnen"
Von Henryk M. Broder
Die einzige Bedingung, welche die EU den Trken fur eine Aufnahme in die
Gemeinschaft stellen sollte, ist die Anerkennung des Vlkermordes an den
Armeniern. Aber genau dies wird die EU nicht tun.
Berlin - Jetzt wird alles gut. Nachstes Jahr werden die Verhandlungen uber
einen EU-Beitritt der Turkei beginnen, sie werden nicht "ergebnisoffen",
sondern "zielorientiert" sein, und dann wird es nur zehn bis zwanzig Jahre
dauern, bis die Turken werden sagen knnen: "Wir sind auch Europaer!"
Alle sind zufrieden, vermutlich auch CDU-Chefin Angela Merkel, die bis zum
Schluss wie ein Kerl gegen eine solche Regelung gekampft und den Turken
eine "privilegierte Partnerschaft" angeboten hatte, wohl wissend, dass es
diese bereits gibt und dass man auf der Ebene von Staaten nicht das
praktizieren kann, was bei Randgruppen moglich ist: eine Art von "Ehe
light", mit einem "Vertrag" statt einem Trauschein. Denn Merkel wusste
auch, dass sie verlieren wrde, und da konnte sie sich risikolos als
Verteidigerin von Werten inszenieren, die bei uns immer dann beschworen
werden, wenn eine fremde Gefahr abgewehrt werden muss.
[Picture: Trkei um 1915: Hinrichtung armenischer Mnner in Alep. AFP]
Sogar Altbundeskanzler Helmut Kohl, "ein Freund der Turkei" und
Schwiegervater einer Turkin, schaltete sich in die Debatte ein und
erklarte, er sei immer dafur eingetreten, "die Turkei so nah wie moglich
unterhalb der Schwelle der Mitgliedschaft an die EU heranzufhren".
Das klang so, als wurde ein Pfarrer Petting im Autokino statt richtigen
Sex im Bett empfehlen, um eine kritische "Schwelle" nicht zu berschreiten.
Bisher war uns vieles an der Turkei recht
Was haben wir uberhaupt im Laufe der Debatte fr irre Argumente gehrt. Die
Turkei sei "so gross" und "so unterentwickelt" und so "ganz anders" als
wir, sie passe nicht zu uns. Abgesehen davon, dass die Verhaltnisse in
Sudanatolien sich nicht allzu sehr von den Verhaltnissen in Ostpolen
unterscheiden durften, waren das alles recht spate Einsichten.
Bis jetzt sind wir sehr gerne in die Turkei gefahren - vier Personen, vier
Wochen, vierhundert Euro, all inclusive - und haben schamlos das
Lohngefalle zu unseren Gunsten ausgenutzt. Umgekehrt waren Turken als
Mullmanner, Bauarbeiter und Reservisten auf dem Arbeitsmarkt herzlich
willkommen, die man bei Bedarf einberufen und wieder nach Hause schicken
konnte.
Auch dass die Turkei innerhalb der Nato die Ostflanke bewachte, war uns
sehr recht. Und als in Istanbul Terror-Bomben losgingen, da haben wir
Beileidstelegramme geschickt und waren erleichtert, dass die Turken etwas
abbekamen, was eigentlich uns gegolten hatte. Wir sind fr einen "Wandel
durch Dialog" mit den Mullahs in Iran, haben grosste Muhe, eine sakulare
Ordnung bei uns zu etablieren, wissen aber nicht, ob wir der Turkei trauen
konnen, der einzigen muslimischen Demokratie, die zwar nicht vollkommen
ist, aber grosse Anstrengungen unternimmt, die Voraussetzungen fr eine
"Europaisierung" zu erfullen.
Die Turken haben die Todesstrafe und die Folter abgeschafft, es gibt freie
Wahlen, eine funktionierende Gewaltenteilung und Eliten, die auf Bildung,
Erziehung und Mobilitat setzen. Naturlich gibt es auch ein kulturelles
Gefalle zwischen den Milieus in den Stadten und auf dem Lande,
Parallelgesellschaften sozusagen, aber die gibt es in Spanien, Portugal
und Griechenland ebenso.
Turken fuhlen sich verschaukelt
Die einzige Frage, auf die es ankommt, ist die, ob sich langfristig die
Sakularisten in den Stadten oder die Traditionalisten auf dem Lande
durchsetzen werden. Und da konnte man in der Tat den Sakularisten helfen,
aber nicht, indem man ihnen sagt: "Kinder, Ihr seid noch nicht so weit!"
Kein Wunder, dass sich die Turken verschaukelt fuhlen und auf schrage
Gedanken kommen. Konnte es sein, dass die christlichen Europaer unter sich
bleiben wollen, wie fruher die feine Gesellschaft, die ihren Dienstboten
eine "privilegierte Partnerschaft" im Stall und am Kuchentisch anbot?
Konnte es sein, dass der einzige gravierende Fehler, den die Trken nicht
beheben konnen, um den Europaern entgegen zu kommen, der ist, dass sie
Muslime sind?
Der Witz dabei ist, dass wir uns mit den Muslimen umso schwerer tun, je
liberaler und sakularer sie sind. Die SPD organisiert ein Seminar mit der
Hisbollah in Beirut, weil die Genossen gerne wissen mochten, wie die
Radikalen ticken. Unser Aussenminister legt am Grab des Terroristen Arafat
einen Kranz nieder und wurdigt dessen historische Rolle. Ein
Nobelpreistrager mochte eine Kirche in eine Moschee verwandeln und ein
gruner Fundi einen islamischen Feiertag in der Bundesrepublik einfuhren.
Nur gegenuber der Turkei, die keine Terroristen produziert und im Begriffe
ist, einen sakularen Islam zu entwickeln, sind wir kritisch bis
misstrauisch: Die meinen es nicht, die tun nur so!
Nein, wir sind es, die es nicht so meinen, wir tun nur so als ob.
Einzige Bedingung: Anerkennung des Genozids
Es gibt allerdings eine Bedingung fur den Beitritt der Turkei in die EU,
die wir nicht stellen wollen und die in den Debatten so gut wie nie
genannt wird: die Anerkennung des turkischen Volkermords an den Armeniern.
Es war der zweite Volkermord des 20. Jahrhunderts, nach den Massakern der
Deutschen an den Hereros in Deutsch-Sudwest.
Wie viele Armenier bei der ethnischen Sauberung der Turkei von 1894 bis
1923 getotet wurden, weiss man bis heute nicht genau, die Schatzungen
reichen von 600.000 bis 1,5 Millionen ermordeten Menschen. Aber nicht auf
die Zahl kommt es an, sondern darauf, dass die Turken bis heute behaupten,
es habe keinen Volkermord gegeben, die Armenier seien im "Zuge von
Kriegshandlungen ums Leben" gekommen, wie der Pressesprecher der
turkischen Botschaft behauptet, nachdem sie "mit den Russen und den
Franzosen paktiert" hatten. Es habe damals "viele Massaker gegeben", auch
an Turken, begangen von Armeniern. Das ist reine Geschichtsklitterung.
Schlimmer noch: Es ist die offizielle Position einer Regierung, die auch
von der turkischen offentlichkeit ubernommen wurde. Turken, die von der
amtlichen Linie abweichen, wie der Grunen-EU-Parlamentarier Cem ozdemir,
gelten als Nestbeschmutzer und Verrater.
Es habe keinen Massen- und keinen Volkermord gegeben. Alle Berichte uber
das Massaker vom 24./25. April 1915, bei dem die Fuhrung der Armenier
ausgerottet wurde, uber die Todesmarsche in die Wuste, bei denen
Hunderttausende von Menschen starben, sind Erfindungen und antiturkische
Propaganda.
Sogar Franz Werfel, der mit seinem Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh" den
Armeniern ein Denkmal gesetzt hat, habe spater bedauert, dass er auf
"falsche Dokumente" reingefallen ist - sagt der Pressesprecher der
turkischen Botschaft in Berlin. Und geht davon aus, dass sein Wort uber
jeden Zweifel erhaben ist.
Deswegen sollte die EU den Turken sagen: "Alles, woruber wir verhandeln,
sind technische Details. Es gibt nur eine Forderung, die Ihr vor der
Aufnahme der Verhandlungen erfullen musst. Hort mit dem Leugnen des
Genozids an den Armeniern auf, bittet die Armenier um Vergebung, sagt:
"Wir waren es!"
Aber genau das wird die EU nicht machen. Nicht weil sie es vermeiden
mochte, die Turken zu kranken, sie in eine peinliche Situation zu bringen,
sondern weil ihr ein paar Hunderttausend Armenier, die seit 80 Jahren tot
sind, wurscht sind. So wie ihr ein paar Millionen tote Ruander, Sudanesen
und Kongolesen wurscht sind. So wie ihr alles wurscht ist, was die
gemeinsame Handelsbilanz und die Stabilitat des Euro nicht tangiert.
URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,33331 5,00.html
DEBATTE
"Hrt auf, den Vlkermord an den Armeniern zu leugnen"
Von Henryk M. Broder
Die einzige Bedingung, welche die EU den Trken fur eine Aufnahme in die
Gemeinschaft stellen sollte, ist die Anerkennung des Vlkermordes an den
Armeniern. Aber genau dies wird die EU nicht tun.
Berlin - Jetzt wird alles gut. Nachstes Jahr werden die Verhandlungen uber
einen EU-Beitritt der Turkei beginnen, sie werden nicht "ergebnisoffen",
sondern "zielorientiert" sein, und dann wird es nur zehn bis zwanzig Jahre
dauern, bis die Turken werden sagen knnen: "Wir sind auch Europaer!"
Alle sind zufrieden, vermutlich auch CDU-Chefin Angela Merkel, die bis zum
Schluss wie ein Kerl gegen eine solche Regelung gekampft und den Turken
eine "privilegierte Partnerschaft" angeboten hatte, wohl wissend, dass es
diese bereits gibt und dass man auf der Ebene von Staaten nicht das
praktizieren kann, was bei Randgruppen moglich ist: eine Art von "Ehe
light", mit einem "Vertrag" statt einem Trauschein. Denn Merkel wusste
auch, dass sie verlieren wrde, und da konnte sie sich risikolos als
Verteidigerin von Werten inszenieren, die bei uns immer dann beschworen
werden, wenn eine fremde Gefahr abgewehrt werden muss.
[Picture: Trkei um 1915: Hinrichtung armenischer Mnner in Alep. AFP]
Sogar Altbundeskanzler Helmut Kohl, "ein Freund der Turkei" und
Schwiegervater einer Turkin, schaltete sich in die Debatte ein und
erklarte, er sei immer dafur eingetreten, "die Turkei so nah wie moglich
unterhalb der Schwelle der Mitgliedschaft an die EU heranzufhren".
Das klang so, als wurde ein Pfarrer Petting im Autokino statt richtigen
Sex im Bett empfehlen, um eine kritische "Schwelle" nicht zu berschreiten.
Bisher war uns vieles an der Turkei recht
Was haben wir uberhaupt im Laufe der Debatte fr irre Argumente gehrt. Die
Turkei sei "so gross" und "so unterentwickelt" und so "ganz anders" als
wir, sie passe nicht zu uns. Abgesehen davon, dass die Verhaltnisse in
Sudanatolien sich nicht allzu sehr von den Verhaltnissen in Ostpolen
unterscheiden durften, waren das alles recht spate Einsichten.
Bis jetzt sind wir sehr gerne in die Turkei gefahren - vier Personen, vier
Wochen, vierhundert Euro, all inclusive - und haben schamlos das
Lohngefalle zu unseren Gunsten ausgenutzt. Umgekehrt waren Turken als
Mullmanner, Bauarbeiter und Reservisten auf dem Arbeitsmarkt herzlich
willkommen, die man bei Bedarf einberufen und wieder nach Hause schicken
konnte.
Auch dass die Turkei innerhalb der Nato die Ostflanke bewachte, war uns
sehr recht. Und als in Istanbul Terror-Bomben losgingen, da haben wir
Beileidstelegramme geschickt und waren erleichtert, dass die Turken etwas
abbekamen, was eigentlich uns gegolten hatte. Wir sind fr einen "Wandel
durch Dialog" mit den Mullahs in Iran, haben grosste Muhe, eine sakulare
Ordnung bei uns zu etablieren, wissen aber nicht, ob wir der Turkei trauen
konnen, der einzigen muslimischen Demokratie, die zwar nicht vollkommen
ist, aber grosse Anstrengungen unternimmt, die Voraussetzungen fr eine
"Europaisierung" zu erfullen.
Die Turken haben die Todesstrafe und die Folter abgeschafft, es gibt freie
Wahlen, eine funktionierende Gewaltenteilung und Eliten, die auf Bildung,
Erziehung und Mobilitat setzen. Naturlich gibt es auch ein kulturelles
Gefalle zwischen den Milieus in den Stadten und auf dem Lande,
Parallelgesellschaften sozusagen, aber die gibt es in Spanien, Portugal
und Griechenland ebenso.
Turken fuhlen sich verschaukelt
Die einzige Frage, auf die es ankommt, ist die, ob sich langfristig die
Sakularisten in den Stadten oder die Traditionalisten auf dem Lande
durchsetzen werden. Und da konnte man in der Tat den Sakularisten helfen,
aber nicht, indem man ihnen sagt: "Kinder, Ihr seid noch nicht so weit!"
Kein Wunder, dass sich die Turken verschaukelt fuhlen und auf schrage
Gedanken kommen. Konnte es sein, dass die christlichen Europaer unter sich
bleiben wollen, wie fruher die feine Gesellschaft, die ihren Dienstboten
eine "privilegierte Partnerschaft" im Stall und am Kuchentisch anbot?
Konnte es sein, dass der einzige gravierende Fehler, den die Trken nicht
beheben konnen, um den Europaern entgegen zu kommen, der ist, dass sie
Muslime sind?
Der Witz dabei ist, dass wir uns mit den Muslimen umso schwerer tun, je
liberaler und sakularer sie sind. Die SPD organisiert ein Seminar mit der
Hisbollah in Beirut, weil die Genossen gerne wissen mochten, wie die
Radikalen ticken. Unser Aussenminister legt am Grab des Terroristen Arafat
einen Kranz nieder und wurdigt dessen historische Rolle. Ein
Nobelpreistrager mochte eine Kirche in eine Moschee verwandeln und ein
gruner Fundi einen islamischen Feiertag in der Bundesrepublik einfuhren.
Nur gegenuber der Turkei, die keine Terroristen produziert und im Begriffe
ist, einen sakularen Islam zu entwickeln, sind wir kritisch bis
misstrauisch: Die meinen es nicht, die tun nur so!
Nein, wir sind es, die es nicht so meinen, wir tun nur so als ob.
Einzige Bedingung: Anerkennung des Genozids
Es gibt allerdings eine Bedingung fur den Beitritt der Turkei in die EU,
die wir nicht stellen wollen und die in den Debatten so gut wie nie
genannt wird: die Anerkennung des turkischen Volkermords an den Armeniern.
Es war der zweite Volkermord des 20. Jahrhunderts, nach den Massakern der
Deutschen an den Hereros in Deutsch-Sudwest.
Wie viele Armenier bei der ethnischen Sauberung der Turkei von 1894 bis
1923 getotet wurden, weiss man bis heute nicht genau, die Schatzungen
reichen von 600.000 bis 1,5 Millionen ermordeten Menschen. Aber nicht auf
die Zahl kommt es an, sondern darauf, dass die Turken bis heute behaupten,
es habe keinen Volkermord gegeben, die Armenier seien im "Zuge von
Kriegshandlungen ums Leben" gekommen, wie der Pressesprecher der
turkischen Botschaft behauptet, nachdem sie "mit den Russen und den
Franzosen paktiert" hatten. Es habe damals "viele Massaker gegeben", auch
an Turken, begangen von Armeniern. Das ist reine Geschichtsklitterung.
Schlimmer noch: Es ist die offizielle Position einer Regierung, die auch
von der turkischen offentlichkeit ubernommen wurde. Turken, die von der
amtlichen Linie abweichen, wie der Grunen-EU-Parlamentarier Cem ozdemir,
gelten als Nestbeschmutzer und Verrater.
Es habe keinen Massen- und keinen Volkermord gegeben. Alle Berichte uber
das Massaker vom 24./25. April 1915, bei dem die Fuhrung der Armenier
ausgerottet wurde, uber die Todesmarsche in die Wuste, bei denen
Hunderttausende von Menschen starben, sind Erfindungen und antiturkische
Propaganda.
Sogar Franz Werfel, der mit seinem Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh" den
Armeniern ein Denkmal gesetzt hat, habe spater bedauert, dass er auf
"falsche Dokumente" reingefallen ist - sagt der Pressesprecher der
turkischen Botschaft in Berlin. Und geht davon aus, dass sein Wort uber
jeden Zweifel erhaben ist.
Deswegen sollte die EU den Turken sagen: "Alles, woruber wir verhandeln,
sind technische Details. Es gibt nur eine Forderung, die Ihr vor der
Aufnahme der Verhandlungen erfullen musst. Hort mit dem Leugnen des
Genozids an den Armeniern auf, bittet die Armenier um Vergebung, sagt:
"Wir waren es!"
Aber genau das wird die EU nicht machen. Nicht weil sie es vermeiden
mochte, die Turken zu kranken, sie in eine peinliche Situation zu bringen,
sondern weil ihr ein paar Hunderttausend Armenier, die seit 80 Jahren tot
sind, wurscht sind. So wie ihr ein paar Millionen tote Ruander, Sudanesen
und Kongolesen wurscht sind. So wie ihr alles wurscht ist, was die
gemeinsame Handelsbilanz und die Stabilitat des Euro nicht tangiert.