Süddeutsche Zeitung
12. April 2005
"The massacres overlooked: The alliance was more important to the
empire than the Armenians"
Beim Massaker weggeschaut; Dem Kaiserreich war das Bündnis wichtiger
als die Armenier
Mitschuldig" am Völkermord an den Armeniern "durch Billigung", so
lautet das Urteil von Wolfgang Gust über das deutsche Kaiserreich,
den Weltkriegs-Verbündeten der Osmanen. Der frühere Spiegel-Redakteur
hat die Akten des Auswärtigen Amts vor allem der Jahre 1915/16,
soweit noch vorhanden, ausgewertet. Die Deutschen waren gut
informiert über die "Zwangsumsiedlung" von über einer Million
Armeniern, die zum Massenmord und Massensterben wurde.
Augenzeugenberichte im Ton des ehrlichen Entsetzens wurden von
deutschen Konsuln aus den anatolischen Provinzen an den Botschafter
in Konstantinopel und nach Berlin gekabelt, wo Bündnisinteressen aber
einer humanitären Intervention entgegenstanden. So lief ins Leere,
was da in grausigen Details geschildert wurde von Mord, Folter und
Vergewaltigung, wie vom "schamlosen" Raubzug an Hab und Gut der
Armenier. Bisweilen klang dabei allerdings schon ein Ton durch, der
später viel lauter werden sollte. So dichtete Hans Freiherr von
Wangenheim, 1915 Botschafter in Konstantinopel, den Armeniern die
Fähigkeit an, das ganze Wirtschaftsleben an sich zu reißen, "gleich
den Juden". Als der Wangenheim-Nachfolger Paul Graf Wolff-Metternich
im Dezember 1915 Berlin doch bat, "den Unmut über die
Armenier-Verfolgung zum Ausdruck kommen zu lassen", beschied ein
erboster Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, "unser einziges
Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu
halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder
nicht". Die Dokumente können auch eine Mahnung sein, die Empörung
über die Türkei zu dämpfen, die sich so zögerlich und ängstlich der
eigenen Geschichte stellt. Die Mitwisserschaft an den Morden wird als
deutsches Thema erst entdeckt.
Dazu leistet Gusts Fleißarbeit einen wesentlichen Beitrag. Des
gelegentlichen höhnischen Tonfalls hätte es dabei gar nicht bedurft.
Die Dokumente sprechen für sich. In der Türkei hat die kritische
Betrachtung von 1915/16 begonnen. Gusts Buch kann dabei das Argument
entkräften, deutsche Archive bewahrten ihr Geheimnis.
CHRISTIANE SCHLÖTZER
WOLFGANG GUST (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16.
Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts.
Zu Klampen Verlag, Springe 2005. 700 Seiten, 39,80 Euro.
12. April 2005
"The massacres overlooked: The alliance was more important to the
empire than the Armenians"
Beim Massaker weggeschaut; Dem Kaiserreich war das Bündnis wichtiger
als die Armenier
Mitschuldig" am Völkermord an den Armeniern "durch Billigung", so
lautet das Urteil von Wolfgang Gust über das deutsche Kaiserreich,
den Weltkriegs-Verbündeten der Osmanen. Der frühere Spiegel-Redakteur
hat die Akten des Auswärtigen Amts vor allem der Jahre 1915/16,
soweit noch vorhanden, ausgewertet. Die Deutschen waren gut
informiert über die "Zwangsumsiedlung" von über einer Million
Armeniern, die zum Massenmord und Massensterben wurde.
Augenzeugenberichte im Ton des ehrlichen Entsetzens wurden von
deutschen Konsuln aus den anatolischen Provinzen an den Botschafter
in Konstantinopel und nach Berlin gekabelt, wo Bündnisinteressen aber
einer humanitären Intervention entgegenstanden. So lief ins Leere,
was da in grausigen Details geschildert wurde von Mord, Folter und
Vergewaltigung, wie vom "schamlosen" Raubzug an Hab und Gut der
Armenier. Bisweilen klang dabei allerdings schon ein Ton durch, der
später viel lauter werden sollte. So dichtete Hans Freiherr von
Wangenheim, 1915 Botschafter in Konstantinopel, den Armeniern die
Fähigkeit an, das ganze Wirtschaftsleben an sich zu reißen, "gleich
den Juden". Als der Wangenheim-Nachfolger Paul Graf Wolff-Metternich
im Dezember 1915 Berlin doch bat, "den Unmut über die
Armenier-Verfolgung zum Ausdruck kommen zu lassen", beschied ein
erboster Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, "unser einziges
Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu
halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder
nicht". Die Dokumente können auch eine Mahnung sein, die Empörung
über die Türkei zu dämpfen, die sich so zögerlich und ängstlich der
eigenen Geschichte stellt. Die Mitwisserschaft an den Morden wird als
deutsches Thema erst entdeckt.
Dazu leistet Gusts Fleißarbeit einen wesentlichen Beitrag. Des
gelegentlichen höhnischen Tonfalls hätte es dabei gar nicht bedurft.
Die Dokumente sprechen für sich. In der Türkei hat die kritische
Betrachtung von 1915/16 begonnen. Gusts Buch kann dabei das Argument
entkräften, deutsche Archive bewahrten ihr Geheimnis.
CHRISTIANE SCHLÖTZER
WOLFGANG GUST (Hrsg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16.
Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts.
Zu Klampen Verlag, Springe 2005. 700 Seiten, 39,80 Euro.