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Die Schwierigkeit, den Genozid an den Armeniern vor 90 Jahren

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  • Die Schwierigkeit, den Genozid an den Armeniern vor 90 Jahren

    Süddeutsche Zeitung, Deutschland
    12. April 2005


    "Politics with Mass Murder: The difficult, the Genocide of the
    Armenians 90 years ago - which Turkey still denies - appropriately
    representative"


    Politik mit einem Massenmord;
    Die Schwierigkeit, den Genozid an den Armeniern vor 90 Jahren - den
    die Türkei bis heute leugnet - angemessen darzustellen


    Die Türkei will in die EU, doch die Mehrheit der Bürger Europas
    halten die EU wie Altkanzler Helmut Kohl oder der Historiker
    Hans-Ulrich Wehler für einen christlichen Club. Andere hegen
    wirtschaftliche Bedenken gegen einen EU-Beitritt, ungeachtet dessen,
    dass das gesamte Wirtschaftsleben eines EU-Landes wie der
    Slowakei"leicht im Eminönü-Viertel von Istanbul Platz hätte" (so der
    Historiker Norman Stone). Schließlich gibt es eine Reihe politischer
    Bedenken, die vor allem die Garantie von Grund- und Menschenrechten
    betreffen. Zu dieser Art Gründen gehört auch der Massenmord an den
    Armeniern im Ersten Weltkrieg. Nicht dass er stattgefunden hat, wird
    den Türken dabei zur Last gelegt - denn ein staatlicher Massenmord
    kann aus nahe liegenden Gründen keineswegs ein Ausschlusskriterium
    für "Europa" sein; das Problem ist vielmehr, dass die Türkei einen
    Genozid an den Armeniern bis heute leugnet. Seit Jahrzehnten tobt
    deshalb ein Kampf der Historiker, vornehmlich armenischer und
    türkischer, um die Frage, ob der Mord an den Armeniern eine bewusst
    geplante Vernichtungsaktion war.

    Apodiktischer Ton

    In der armenischen Version heißt es, dass die Armenier unschuldige
    Opfer eines unprovozierten Genozids des jungtürkischen Regimes waren.
    In der türkischen Version wird behauptet, dass die
    Massendeportationen eine notwendige Antwort auf einen armenischen,
    von Russen und Briten unterstützten Aufstand gewesen seien. Die hohe
    Zahl der Toten erklärt sie mit Hunger, Krankheiten infolge dieser
    Deportationen und bürgerkriegsähnlichen Handlungen. Da in diesem
    international ausgetragenen Wettstreit die Differenzierung oft auf
    der Strecke bleibt, empfiehlt es sich in jedem Fall, neben den
    historiografischen Texten deren eigene Kontexte zu berücksichtigen.
    Das gilt auch für drei Bücher zum 90. Jahrestag des Beginns der
    Massaker an den Armeniern.

    Die Hamburger Edition hat das zehn Jahre alte Buch "Armenien und der
    Völkermord" von Taner Akçam wiederaufgelegt. Es war seinerzeit eines
    der wenigen historischen Bücher in deutscher Sprache, die sich mit
    dem Massaker beschäftigten. Das besondere Interesse galt der
    strafrechtlichen Ahndung eines staatlichen Verbrechens. Neben einem
    kurzen historischen Abriss dokumentiert Akçam vor allem eine Reihe
    von Prozessen gegen führende türkische Politiker vor dem
    Kriegsgericht in Istanbul in den Jahren 1919 bis 1921. Das Buch ist
    ein wissenschaftlich unterfüttertes Plädoyer für einen
    internationalen Gerichtshof - der inzwischen längst besteht. Dass
    Akçams Werk nun unverändert - das heißt ohne auf die Veränderungen in
    der internationalen Politik wie auf jüngere Forschungen hinsichtlich
    des Massenmordes an den Armeniern einzugehen - einfach in zwei neue
    Buchdeckel gebunden wird, ist enttäuschend.

    "Porträt einer Hoffnung: Die Armenier", herausgegeben von Huberta von
    Voss, ist dagegen nicht der Aufklärung des Genozids gewidmet. Dieser
    wird zu Anfang von den Autoritäten Yehuda Bauer und Vahakn N. Dadrian
    "festgestellt". Der Sammelband möchte stattdessen anhand von
    Lebenswegen und Erinnerungsorten der leidvollen Geschichte der
    Armenier, aber auch ihrem Behauptungswillen und glänzenden Beitrag
    zur menschlichen Zivilisation nachgehen. Hier ist infolgedessen viel
    von Würde und Identität die Rede. Das Buch versucht, Sympathie für
    die Armenier zu wecken - als wäre die Anerkennung des Völkermordes an
    den Nachweis kultureller Leistungen gebunden. Die Idee, anhand
    ausgewählter gewöhnlicher wie ungewöhnlicher Lebenswege kollektive
    armenische Erfahrungen des 20. Jahrhunderts einzufangen, ist
    gleichwohl eine originelle.

    Ein gewisses Überengagement zeichnet "Operation Nemesis" des
    Filmemachers und Journalisten Rolf Hosfeld aus. Ausgehend vom Mord am
    ehemaligen Großwesir Talaat Pascha am 15. März 1921 in Berlin durch
    den armenischen Aktivisten Tehlirjan erzählt Hosfeld einen spannenden
    Politkrimi, der die wiederholten Massaker an den Armeniern mit dem
    schließlich daran anknüpfenden Völkermord während des Krieges zum
    Gegenstand hat. Notgedrungen fehlt dem Autor bei seinen
    kriminalistisch inspirierten Rückblenden zu Tatorten und Tätern die
    Nüchternheit. Er sucht beständig nach kräftigen Worten für das
    Ungeheuerliche. Hosfeld schreibt offensichtlich vor der Folie des
    Nationalsozialismus: Das, was die Jungtürken bewegt, ist die Suche
    nach "Lebensraum", nach "Eigentlichkeit". Sie wollen eine
    "Herrenrasse" sein. Sie betreiben eine "Heim-ins-Reich"-Politik und
    veranstalten eine "Kristallnacht". Kurzum: Sie führen einen
    "Weltanschauungskrieg". Nur Gaskammern konnte Hosfeld im Osmanischen
    Reich nicht finden.

    Für alle drei Bücher ist klar: Der Mord an den Armeniern war der
    erste Genozid, für Hosfeld gar der ursprüngliche Holocaust! Dagegen
    ist einzuwenden, dass der Begriff der Weltanschauung im Sinne einer
    Welterklärung doch eher dem Arsenal des Antisemitismus zuzurechnen
    ist. Die Aussage "Die Armenier beherrschen die Welt!" hätte noch
    nicht einmal für jungtürkische Fanatiker Plausibilität beansprucht,
    obwohl deren Wahrnehmung der Armenier paranoide Züge gehabt haben
    mag. Aber auch hier ist zu berücksichtigen, dass armenische Milizen
    tatsächlich mit den Russen gegen die Türken gekämpft haben. Das
    Phantasma einer jüdischen Weltverschwörung hat dagegen, wie kaum
    erläutert werden muss, überhaupt keine reale Grundlage.

    Darüber hinaus irritieren die Bücher durch ihren apodiktischen Ton.
    Argumente gegen die These vom zentral gesteuerten, intentionalen
    Genozid sind nicht zugelassen und werden nicht diskutiert. Der
    Pappkamerad, auf den es einzuschlagen gilt, ist die türkische
    Leugnung, dass es überhaupt Massaker im großen Umfang gegeben hat.
    Dass der türkische Staat ungeachtet aller belastenden Dokumente noch
    immer im Bunker verbleibt und gar den Gebrauch des Wortes
    "Völkermord" bis vor kurzem unter Strafe gestellt hat, nährt
    offensichtlich das Bedürfnis nach steilen Gegenthesen. Doch die
    Anerkennung des horrenden Leidens und des mörderischen Verbrechens an
    mehreren hunderttausend Armeniern ist auf Simplifizierungen und
    Übertreibungen nicht angewiesen.

    Unglückliche Überschneidung

    Die alte zentrale Frage - Völkermord ja oder nein? - ist mittlerweile
    für das Gros westlicher Historiker in Richtung der armenischen
    Version entschieden. Unglücklicherweise überschneidet sich der
    Jahrestag des Mordes an den Armeniern mit den Diskussionen um den
    EU-Beitritt der Türkei. Die türkische Anerkennung des Massenmordes
    ist zwar überfällig. Mit der armenischen Frage wird aber leider auch
    so manch anderes politische Süppchen gekocht - sei es die
    Rückprojizierung der antisemitischen NS-Vernichtungspolitik auf den
    Massenmord an den Armeniern oder das Unbehagen einer Zugehörigkeit
    der Türken zu Europa. Anlässlich des 90. Jahrestages des Beginns der
    Vertreibungen und Massaker am 24. April hat die CDU/CSU-Fraktion
    beantragt, dass die Bundesregierung auf die Türkei einwirkt, sich mit
    der Geschichte "vorbehaltlos auseinander zu setzen".

    JÖRG SPÄTER

    TANER AKÇAM: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und
    die türkische Nationalbewegung. Hamburger Edition 2004 (Neuausgabe).
    430 S., 16 Euro.

    HUBERTA VON VOSS (Hrsg.): Porträt einer Hoffnung: Die Armenier.
    Lebensbilder aus aller Welt, mit einem Geleitwort von Yehuda Bauer.
    Verlag Hans Schiler, Berlin 2004. 415 S., 28 Euro.

    ROLF HOSFELD: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der
    Völkermord an den Armeniern. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 351 S.,
    19.90 Euro.

    GRAFIK: Viele Armenier wurden auf Todesmärsche durch die syrische
    Wüste geschickt. Sirpuhi Papasian - hier auf einem Foto von 1987 mit
    einem Bild ihrer ermordeten Verwandten - gab sich als muslimische
    Bäuerin aus und überlebte. Kunz/Bilderberg
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