Taz, die tageszeitung, Deutschland
15. April 2005
Le Monde diplomatique; S. 1,10-11
Fragen an die Türkei
AUTOR: NIELS KADRITZKE
Am 24. April 2005 jährt sich zum 90. Mal der Tag, an dem die
Verfolgung der Armenier durch die jungtürkische Militärjunta während
des Ersten Weltkriegs begann. Bis Ende 1915 wurden mindestens eine
Million armenische Bürger des Osmanischen Reichs aufgrund eines
geheimen Plans umgebracht - durch Hinrichtungen, durch Auszehrung auf
Hungermärschen, durch Massaker staatlich organisierter Mörderbanden.
Die türkische Republik hat dieses "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit" nie anerkannt. Die heutige Regierung spricht
lediglich von einer kriegsbedingten "Tragödie" und weist den Vorwurf
des "Völkermords" empört zurück. Das kemalistische Erbe verstellt
nach wie vor den offenen Blick auf die dunklen Seiten der eigenen
Geschichte. Doch die kritischen türkischen Historiker werden sich auf
die Dauer nicht bevormunden lassen.
Von
DIE ERMORDUNG DER ARMENIER UND DIE GESELLSCHAFTLICHE AMNESIE
ERLIN im Mai 1997: ein langer Demonstrationszug unter roten Fahnen.
Die Türken der deutschen Hauptstadt protestieren gegen den Kongress
in Washington. Jenseits des Atlantiks wird gerade eine Resolution
diskutiert, die den Massenmord, der 1915 vom osmanischen Regime an
den Armeniern Anatoliens begangen wurde, als Genozid verurteilen
soll.
Wie viele der Demonstranten haben über dieses Thema je etwas Seriöses
gelesen? Die Frage ist falsch gestellt. Als gute Türken sind sie
überzeugt, dass ihrer Nation Unrecht geschieht. In seinem
irrationalen Kern ist Nationalismus die kollektiv gefühlte Meinung
über Dinge, von denen man nichts weiß. Die türkische Variante äußert
sich am klarsten in der unwissenden Empörung über "die
Armenierfrage".
Wie alle Nationalismen ist auch der türkische Nationalismus in einer
bestimmten historische Konstellation entstanden. Und wie andere
nationale Projekte auch hat sich der kemalistische Staat, der am Ende
des Ersten Weltkriegs auf den Ruinen des Osmanischen Reichs entstand,
eine neue Nationalgeschichte erfunden. Es galt ja, den Verlust eines
gescheiterten Imperiums zu kompensieren. Doch der Stolz auf die
"Rettung" der Nation angesichts einer existenziellen Bedrohung
blockiert die Einsicht, dass im Übergang vom Osmanischen Reich zum
türkischen Nationalstaat ein furchtbares Verbrechen geschehen ist.
Diese Sperre wirkt noch heute, sechs Monate bevor die
Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU beginnen.
Die Vertreibung und Vernichtung von mindestens einer Million
anatolischer Armenier erfüllt nach aktuellem internationalem Recht
den Tatbestand des Völkermords. Wie Wolfgang Gust, der Herausgeber
wichtiger Dokumente aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes,
überzeugend resümiert, planten die Täter, "eine ethnische, rassische
oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören".
Das kennzeichnet nach der Genozid-Konvention der UN einen
Völkermord.1 Unter Historikern ist der Begriff nicht unumstritten.
Unbestreitbar ist jedoch, dass die 1915 von der jungtürkischen Junta
beschlossene "Deportation in den Tod" ein "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit" darstellt. Dass die offizielle Türkei, aber auch eine
große Mehrheit der Türken dies zurückweist, ja als nationale
Beleidigung empfindet, ist das Ergebnis einer brachialen
Geschichtspolitik. In der Türkei war die nationale Geschichte nie ein
offenes Feld der Forschung und der Kontroverse, sondern stets ein
patriotisches Projekt. Kemal Atatürk hinterließ seinem Volk einen
historischen Mythos von Orwellschem Zuschnitt. Der "Vater der Türken"
gründete 1931 die "Türkische Historisches Gesellschaft", deren
Aufgabe es war, der jungen Nation eine glorreiche Vergangenheit zu
erfinden.
Beflissene Geschichtsbürokraten produzierten den "Türk Tarihinin Ana
Hatlari", einen "Grundriss der türkischen Geschichte", der als Basis
für sämtliche Schulbücher diente. Im Kern sollte die neue Doktrin ein
uraltes "historisches Recht" auf Anatolien begründen. Der
"islamischen Eroberung" durch Seldschuken und Osmanen wurde eine
rassisch fundierte Vorgeschichte hinzugedichtet: Sämtliche
Kulturvölker, die im Umkreis der heutigen Türkei je existiert haben,
wurden zu Prototürken erklärt: Sumerer und Skythen, Hethiter,
Trojaner und archaische Griechenvölker.2
Diese kemalistische Geschichtsmär gehört zum gröbsten Unfug, der je
einem Volk als Ursprungsmythos beigebracht wurde. Damit hat man
Generationen von Türken eingeredet, dass ihre Vorfahren die Väter
aller großen Kulturen waren. Die Folgen sind noch heute zu spüren.
Zwar nimmt kein seriöser türkischer Historiker den "Grundriss" ernst,
aber der ideologische Prachtbau wurde nie demontiert. Sonst hätte man
ja das Andenken des Staatsgründers befleckt, das so rein bleiben muss
wie die eigene Geschichte.
Nur vor diesem volkspädagogischen Hintergrund ist die Wut
verständlich, mit der die staatlichen Instanzen alles, was diese
Reinheit gefährdet, als türkenfeindliches Komplott denunzieren. Das
gilt besonders für die "Armenierfrage". Wenn gar ein Türke dieses
Tabu verletzt, ist er für die Hüter des kemalistischen Erbes ein
Verrückter. So schrieb der prominente Kolumnist Gündüz Aktan, ein
ehemaliger Diplomat, kürzlich über die "redlichen Intellektuellen",
die sich "schuldig für alles" fühlen, dass sie in Wahrheit an
Identitätsverlust leiden, also an einem "psychopathologischen
Zustand".3
Wie es um die intellektuelle Redlichkeit der kemalistischen
Historiker steht, lässt sich aus ihrem Umgang mit historischen
Quellen ersehen. Die Echtheit von Dokumenten aus dem Ersten Weltkrieg
spielt bei der Klärung der "Armenierfrage" eine große Rolle. Zwei
kemalistische Historiker haben, um eine Sammlung von dechiffrierten
Telegrammen der jungtürkischen Führer als Fälschung zu entlarven,
eine bemerkenswerte Argumentation entwickelt: Dass ein osmanischer
Beamter in Aleppo die fraglichen Dokumente einem Armenier
ausgehändigt haben soll, mache diese höchst verdächtig. Niemals hätte
ein Türke gegenüber einem Nichttürken eigene Landsleute angeschwärzt,
"als würden diese zu einer anderen Nation gehören".4
Ein anständiger Türke verrät keine Familiengeheimnisse nach außen,
schon gar nicht an Armenier. Dieses Gebot haben die staatstreuen
türkischen Historiker lange Zeit loyal befolgt. Im Umkreis der
"Historischen Gesellschaft" wurde so geforscht und publiziert, dass
das Ansehen der Türkei keinen Schaden nahm. Deshalb musste man auch
die Urteile abwerten, die türkische Richter vor 86 Jahren über die
mutmaßlichen Haupttäter der jungtürkischen Junta gefällt haben.
Die Sonderkriegsgerichte, die ab Frühjahr 1919 tagten, untersuchten
auch die Massenmorde von 1915 (unter Anklagepunkten wie "Übergriffe
gegen Armenier und andere Volksgruppen" oder "Plünderung und
Zerstörung von Eigentum"). Sie fällten, noch nach osmanischem Recht,
siebzehn Todesurteile, von denen drei vollstreckt wurden. Doch die
Urteile wurden weder von der späteren kemalistischen Staatsführung
noch von der öffentlichen Meinung je anerkannt. Damit waren auch die
Beweismittel delegitimiert.
Ein Argument gegen diese Prozesse ist noch heute die Vokabel
"Siegerjustiz". Tatsächlich fanden die Prozesse auf Druck
Großbritanniens statt, das seit Kriegsende auch Besatzungsmacht war.
Doch das Gericht bestand aus türkischen Richtern, deren Autorität
allerdings angeschlagen war, als sie auch Todesurteile gegen die
nationalistischen Führer fällten, die sich gegen die Regierung in
Istanbul erhoben hatten. Die Legitimität der osmanischen Gerichte war
vollends zerstört, als griechische Truppen im Mai 1920 die Region um
Izmir besetzten und sich anschickten, den Westen Kleinasiens zu
erobern. Angesichts der drohenden Aufteilung des Landes erschienen
die Istanbuler Sondergerichte als Werkzeuge der Besatzungsmächte, die
dem von Mustafa Kemal organisierten nationalen Widerstand das Genick
brechen wollten.
Die Prozesse wurden eingestellt, als Mustafa Kemal, der Führer des
Befreiungskampfes, dem britischen Hochkommissariat am 12. August 1920
aus Anatolien übermitteln ließ, falls die in Istanbul verhängten
Todesstrafen vollstreckt würden, werde man "die in unseren Händen
befindlichen englischen Gefangenen sofort allesamt hinrichten".5
Kemals Drohung war eine Reaktion auf den Vertrag von Sèvres, den die
osmanische Regierung zwei Tage zuvor unterzeichnet hatte.
Das Wort Sèvres signalisiert für die meisten Türken bis heute die
Gefahr der Zerstückelung und Kontrolle ihres Landes durch
ausländische Mächte. Ohne die Erinnerung an Sèvres, das türkische
Versailles, lässt sich nicht verstehen, warum nach Umfragen von Mitte
Februar 2005 noch 50,4 Prozent der Bevölkerung glauben, ihr Land sei
von Feinden umgeben - obwohl zugleich 75,9 Prozent den EU-Beitritt
der Türkei befürworten.
Als Ausdruck des Sèvres-Syndroms kann man auch den rhetorischen
Reflex sehen, der kürzlich dem türkischen Ministerpräsidenten
unterlaufen ist. Als die Istanbuler Presse die Übergriffe der Polizei
auf demonstrierende Frauen am 8. März als "EU-unwürdig" kritisierte,
warf der "demokratische Reformer" Tahip Erdogan den Journalisten vor,
sie würden ihr Land "in Europa" anschwärzen. Wenn der Ruf der Nation
auf dem Spiel steht, wird die EU auch für Erdogan wieder zum -
potenziell - feindlichen Ausland. Das ist Wasser auf die
Propagandamühlen der türkischen EU-Gegner, die unablässig vor einem
"neuen Sèvres" warnen.
Warum scheut sich die politische Klasse der Türkei noch heute, die
drei Paschas Enver, Talaat und Djemal wegen des Mords an den
Armeniern zu verurteilen? Diese Männer gelten doch als Totengräber
des Osmanischen Reiches, die das türkische Volk ohne demokratische
Legitimation an der Seite der Deutschen in den Weltkrieg gezerrt
hatten. Weder der Vertrag von Sèvres noch die unpatriotische Rolle
der Istanbuler Sondergerichte können erklären, warum die in den
Prozessen von 1919 vorgelegten Dokumente nicht als beweiskräftig
anerkannt werden. Der tiefere Grund liegt wohl auf der personellen
Ebene: Viele der Istanbuler Angeklagten waren Freunde oder Kameraden
von Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk. Innenminister Talaat Pascha,
der Hauptorganisator der Vernichtungsstrategie gegen die Armenier,
war zwar eher ein Rivale als ein Freund des Staatsgründers. Doch
andere Mittäter von 1915 wurden zu Mitkämpfern im Befreiungskrieg und
zu Ministern in kemalistischen Regierungen, etwa Sükrü Kaya, der
langjährige Innenminister.6
Atatürk selbst hat sich zum Mord an den Armeniern unterschiedlich
geäußert. Vor dem Parlament in Ankara kritisierte er 1924 diese
"Schandtat der Vergangenheit". In privaten Gesprächen soll er von 800
000 getöteten Armeniern geredet haben. Doch in seinen öffentlichen
Reden entwickelte er das Grundmuster apologetischer Rhetorik, mit der
die offizielle Türkei das Verbrechen zur "Tragödie" erklärt, also der
Schuldfrage entrückt: Das alles habe sich im Zuge des Krieges
ereignet und sei überdies eine "Folge der Sezessionspolitik", die von
den Nichtmuslimen des Reiches im Verein mit äußeren Feinden betrieben
wurde.
Entscheidend für die Haltung Kemals dürfte gewesen sein, dass die
meisten der Angeklagten alte Kameraden waren. Einige von ihnen hat er
auch im Gefängnis besucht. Für den Historiker Taner Akçam erklärt
dies, warum Kemal "sich für die Verantwortlichen und Täter des
Völkermordes einsetzte und ihre Bestrafung zu verhindern versuchte".
Deshalb sei mit dem Sieg des Kemalismus die Frage einer Bestrafung
erledigt gewesen.7
Die quasireligiöse Autorität des "Vaters der Türken" und das Dogma
von der unbefleckten Empfängnis des türkischen Nationalstaats
behindern noch heute - 86 Jahre nach Sèvres und 67 Jahre nach dem Tod
des Staatsgründers - eine offene und öffentliche Diskussion der
"Armenierfrage". Taner Akçam spricht deshalb von einer
"gesellschaftlichen Amnesie".8
Da diese Amnesie ein Politikum ist, kann sie nur allmählich und "von
unten" abgebaut werden. Dass in der türkischen Zivilgesellschaft in
dieser Hinsicht schon bemerkenswerte Entwicklungen im Gange sind,
wird im Ausland häufig ignoriert. So stand im Entwurf zu einem
Armenien-Antrag, der am 22. April im Deutschen Bundestag diskutiert
werden soll, in der Türkei könne die Edition von Büchern wie Franz
Werfels berühmtem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh"
strafrechtlich verfolgt werden. Tatsächlich liegt das Buch seit acht
Jahren in türkischer Übersetzung vor; der Verleger ist auf freiem
Fuß.
Auch türkische Historiker schreiben über das Thema weit unbefangener
als noch vor zehn Jahren. Ende Mai wird in Istanbul eine Konferenz
über das Schicksal der osmanischen Armenier stattfinden. Die
Tatsache, dass alle Referate auf Türkisch vorliegen werden, belegt
das Interesse gerade türkischer Historiker an diesem tabuisierten
Thema. Auch auf journalistischer Ebene werden die offiziellen
Stereotype in der "Armenierfrage" stärker kritisiert. Allerdings
bestehen die kritischen türkischen Historiker und Publizisten darauf,
das Geschehen in seinen historischen Kontext zu stellen, also auf den
Zerfall des Osmanischen Reiches und die Strategien der Sieger des
Ersten Weltkrieges zu beziehen.9 Sie erörtern auch die
Unabhängigkeitsbestrebungen armenischer Nationalisten, die von der
armenischen Diaspora oft verschwiegen werden.
Statt die Herausforderung zu einer differenzierten historischen
Diskussion anzunehmen, verschanzt sich die offizielle Türkei in den
alten Schützengräben. Nach Aussage des türkischen Botschafters in
Deutschland, der durch sein Bemühen bekannt wurde, die
"Armenierfrage" aus den Lehrplänen des Landes Brandenburg zu tilgen,
gab es 1915 weder einen Völkermord noch ethnische Säuberungen.10 Als
guter Diplomat vertritt er nur die offizielle Position seines
Staates, auf die sich das islamische und das kemalistische Lager vor
kurzem offiziell geeinigt haben. Am 17. März tagte der "Ausschuss zur
Bekämpfung der Völkermord-Anschuldigungen", der dem
Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrats angelagert ist.
Vertreten waren der Generalstab, das Außen- und das
Erziehungsministerium, die "Türkische Historische Gesellschaft" und
ein staatlicher Propagandafonds.
Einleitend erklärte Außenminister Abdullah Gül, die
Genozid-Anschuldigungen im Vorfeld des armenischen Gedenktages am 24.
April drohten die Beziehungen der Türkei zur EU zu belasten. Deshalb
beschloss das Gremium eine türkischen "Offensive", deren Nahziel es
ist, "die Anschuldigungen hinsichtlich des so genannten Genozids an
den Armeniern aus den Schulbüchern in den USA und in Frankreich zu
entfernen". Dafür will man Gelder aus dem staatlichen Propagandafonds
investieren. Unter Federführung des Kultur- und des
Tourismusministeriums soll ein Museum zum Thema "Das Osmanische Reich
und die türkische Toleranz" gebaut werden. Das staatliche Fernsehen
wird aufklärende Programme vorbereiten, die privaten Medien sollen
sich an der Kampagne beteiligen. Und die Universitäten bekommen
Sondermittel, "um Studien zu dem Thema durchzuführen".11
Die Vorstellung, eine solche "Offensive" könnte die Krise im
Verhältnis mit der EU entschärfen, macht deutlich, dass die
"offizielle" Türkei noch immer kein Gespür für ihre "Probleme" mit
der europäischen Öffentlichkeit entwickelt hat. Diese Strategie
diskreditiert zudem den vernünftigen Vorschlag, den Ankara kurz zuvor
gemacht hatte: Eine gemischte Kommission von türkischen und
armenischen Experten solle ein historisches Gutachten zu den
Ereignissen von 1915 erarbeiten, womöglich unter Schirmherrschaft der
Unesco. Wo das Ergebnis der historischen Bemühungen vorgegeben ist,
wird es in einer Kommission mit "offiziellen" Repräsentanten nicht zu
einem wissenschaftlichen Diskurs, sondern zu einem diplomatisches
Tauziehen kommen.
Wie Ankara diese "armenische Offensive" betreiben will, lässt auch
das Auftreten des US-Historikers Justin McCarthy erahnen, der Ende
März im türkischen Parlament reden durfte. McCarthy bekräftigte die
offizielle türkische These von der "kriegsbedingten Tragödie" und
erklärte, die damaligen Bestrebungen armenischer Nationalisten hätten
das Osmanische Reich akut bedroht. Doch dieses immer wieder
angeführte Entlastungsargument ist ein historiografischer Trick: Das
Potenzial zu einem armenischen Aufstand war bereits seit Ende 1914
neutralisiert, als man alle wehrfähigen armenischen (und
griechischen) Männer in Arbeitsbataillone steckte. Ganz abgesehen
davon, dass die Vernichtungsstrategie des Talaat Pascha auf die
gesamte Zivilbevölkerung zielte.12
McCarthy beendete seinen Vortrag mit einer aktuellen Warnung: Wenn
Ankara eine historische Schuld anerkenne, würden die Armenier nicht
nur gewaltige Entschädigungen fordern, sondern auch territoriale
Ansprüche in Anatolien stellen. Eine solche Warnung ist angesichts
der rechtlichen Fakten und der politischen Realitäten völlig absurd.
Sie soll also nur neue Sèvres-Ängste auslösen. Die türkischen
Parlamentarier aller Fraktionen dankten es McCarthy mit großem
Beifall.
Solange die politische Klasse der Türkei das Sèvres-Syndrom
kultiviert, statt es im politischen Diskurs mit der Gesellschaft zu
überwinden, wird die Kommunikation mit den europäischen Partnern
gestört bleiben. Und solange Ankara die Behandlung schwieriger
historischer Themen als Provokation oder nationale Demütigung
begreift, hat es nicht verstanden, was Europa bedeutet. Seit Jahren
versichert Ministerpräsident Erdogan, sein Land wolle sich nicht zum
Gefallen der EU, sondern um seiner selbst willen demokratisieren.
Doch die Politiker - Kemalisten wie islamisch orientierte Kräfte -
verweigern beharrlich, was mutige Schriftsteller, liberale
Journalisten und seriöse Historiker einfordern: ehrliche Antworten
auf klare Fragen zur eigenen Geschichte.
Da in der Türkei die Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in
öffentliches Bewusstsein ein langwieriger Prozess ist, wird eine
breite Diskussion der "armenischen Frage" noch länger auf sich warten
lassen. Ein "auserwähltes Volk", zu dem der Gründungsmythos die
türkische Nation ernannt hat, hat es schwer, die dunklen Seiten
seiner Geschichte zu sehen. Ein erster Schritt wäre die Einsicht,
dass radikales Fragen nicht irgendwelchen Feinden dient, sondern der
gesellschaftlichen Selbstaufklärung. Wenn die türkische Gesellschaft
ihre Geschichte aufarbeitet, kann sie nicht nur die genannte
kollektive Amnesie überwinden. Ehrliche Antworten auf die
"Armenierfrage" könnten vor allem auch eine historischen Entlastung
"der Nation" bewirken.
Am 8. November 1918 hat ein Abgeordneter im letzten osmanischen
Parlament eine leidenschaftliche Rede gehalten: "Meine Herren, Sie
wissen, dass sich die Türkei in den Augen der zivilisierten Welt
heute in der Position des Angeklagten befindet. [...] Es geht um das
große Mordgeschehen, das die düsterste und blutigste Phase der
osmanischen Geschichte darstellt. Und dieses Morden wird nunmehr der
türkischen Nation angelastet. [...] Ich aber sage hier: Das große
Morden ist die Tat der früheren Regierung, um es genauer zu sagen:
die Tat einer regierenden Verbrecherbande."13
Die Stimme, die das türkische Volk in Schutz nehmen wollte, gehörte
dem Armenier Artin Boigezenyan. Was der Abgeordnete aus Aleppo damals
sagte, ist auch für die politische Klasse der heutigen Türkei
bedenkenswert: Man kann "die Kette von Verdächtigungen, die man den
Türken um den Hals legt", nur zerbrechen, indem man die wahren Täter
benennt.
© Le Monde diplomatique, Berlin
15. April 2005
Le Monde diplomatique; S. 1,10-11
Fragen an die Türkei
AUTOR: NIELS KADRITZKE
Am 24. April 2005 jährt sich zum 90. Mal der Tag, an dem die
Verfolgung der Armenier durch die jungtürkische Militärjunta während
des Ersten Weltkriegs begann. Bis Ende 1915 wurden mindestens eine
Million armenische Bürger des Osmanischen Reichs aufgrund eines
geheimen Plans umgebracht - durch Hinrichtungen, durch Auszehrung auf
Hungermärschen, durch Massaker staatlich organisierter Mörderbanden.
Die türkische Republik hat dieses "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit" nie anerkannt. Die heutige Regierung spricht
lediglich von einer kriegsbedingten "Tragödie" und weist den Vorwurf
des "Völkermords" empört zurück. Das kemalistische Erbe verstellt
nach wie vor den offenen Blick auf die dunklen Seiten der eigenen
Geschichte. Doch die kritischen türkischen Historiker werden sich auf
die Dauer nicht bevormunden lassen.
Von
DIE ERMORDUNG DER ARMENIER UND DIE GESELLSCHAFTLICHE AMNESIE
ERLIN im Mai 1997: ein langer Demonstrationszug unter roten Fahnen.
Die Türken der deutschen Hauptstadt protestieren gegen den Kongress
in Washington. Jenseits des Atlantiks wird gerade eine Resolution
diskutiert, die den Massenmord, der 1915 vom osmanischen Regime an
den Armeniern Anatoliens begangen wurde, als Genozid verurteilen
soll.
Wie viele der Demonstranten haben über dieses Thema je etwas Seriöses
gelesen? Die Frage ist falsch gestellt. Als gute Türken sind sie
überzeugt, dass ihrer Nation Unrecht geschieht. In seinem
irrationalen Kern ist Nationalismus die kollektiv gefühlte Meinung
über Dinge, von denen man nichts weiß. Die türkische Variante äußert
sich am klarsten in der unwissenden Empörung über "die
Armenierfrage".
Wie alle Nationalismen ist auch der türkische Nationalismus in einer
bestimmten historische Konstellation entstanden. Und wie andere
nationale Projekte auch hat sich der kemalistische Staat, der am Ende
des Ersten Weltkriegs auf den Ruinen des Osmanischen Reichs entstand,
eine neue Nationalgeschichte erfunden. Es galt ja, den Verlust eines
gescheiterten Imperiums zu kompensieren. Doch der Stolz auf die
"Rettung" der Nation angesichts einer existenziellen Bedrohung
blockiert die Einsicht, dass im Übergang vom Osmanischen Reich zum
türkischen Nationalstaat ein furchtbares Verbrechen geschehen ist.
Diese Sperre wirkt noch heute, sechs Monate bevor die
Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU beginnen.
Die Vertreibung und Vernichtung von mindestens einer Million
anatolischer Armenier erfüllt nach aktuellem internationalem Recht
den Tatbestand des Völkermords. Wie Wolfgang Gust, der Herausgeber
wichtiger Dokumente aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes,
überzeugend resümiert, planten die Täter, "eine ethnische, rassische
oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören".
Das kennzeichnet nach der Genozid-Konvention der UN einen
Völkermord.1 Unter Historikern ist der Begriff nicht unumstritten.
Unbestreitbar ist jedoch, dass die 1915 von der jungtürkischen Junta
beschlossene "Deportation in den Tod" ein "Verbrechen gegen die
Menschlichkeit" darstellt. Dass die offizielle Türkei, aber auch eine
große Mehrheit der Türken dies zurückweist, ja als nationale
Beleidigung empfindet, ist das Ergebnis einer brachialen
Geschichtspolitik. In der Türkei war die nationale Geschichte nie ein
offenes Feld der Forschung und der Kontroverse, sondern stets ein
patriotisches Projekt. Kemal Atatürk hinterließ seinem Volk einen
historischen Mythos von Orwellschem Zuschnitt. Der "Vater der Türken"
gründete 1931 die "Türkische Historisches Gesellschaft", deren
Aufgabe es war, der jungen Nation eine glorreiche Vergangenheit zu
erfinden.
Beflissene Geschichtsbürokraten produzierten den "Türk Tarihinin Ana
Hatlari", einen "Grundriss der türkischen Geschichte", der als Basis
für sämtliche Schulbücher diente. Im Kern sollte die neue Doktrin ein
uraltes "historisches Recht" auf Anatolien begründen. Der
"islamischen Eroberung" durch Seldschuken und Osmanen wurde eine
rassisch fundierte Vorgeschichte hinzugedichtet: Sämtliche
Kulturvölker, die im Umkreis der heutigen Türkei je existiert haben,
wurden zu Prototürken erklärt: Sumerer und Skythen, Hethiter,
Trojaner und archaische Griechenvölker.2
Diese kemalistische Geschichtsmär gehört zum gröbsten Unfug, der je
einem Volk als Ursprungsmythos beigebracht wurde. Damit hat man
Generationen von Türken eingeredet, dass ihre Vorfahren die Väter
aller großen Kulturen waren. Die Folgen sind noch heute zu spüren.
Zwar nimmt kein seriöser türkischer Historiker den "Grundriss" ernst,
aber der ideologische Prachtbau wurde nie demontiert. Sonst hätte man
ja das Andenken des Staatsgründers befleckt, das so rein bleiben muss
wie die eigene Geschichte.
Nur vor diesem volkspädagogischen Hintergrund ist die Wut
verständlich, mit der die staatlichen Instanzen alles, was diese
Reinheit gefährdet, als türkenfeindliches Komplott denunzieren. Das
gilt besonders für die "Armenierfrage". Wenn gar ein Türke dieses
Tabu verletzt, ist er für die Hüter des kemalistischen Erbes ein
Verrückter. So schrieb der prominente Kolumnist Gündüz Aktan, ein
ehemaliger Diplomat, kürzlich über die "redlichen Intellektuellen",
die sich "schuldig für alles" fühlen, dass sie in Wahrheit an
Identitätsverlust leiden, also an einem "psychopathologischen
Zustand".3
Wie es um die intellektuelle Redlichkeit der kemalistischen
Historiker steht, lässt sich aus ihrem Umgang mit historischen
Quellen ersehen. Die Echtheit von Dokumenten aus dem Ersten Weltkrieg
spielt bei der Klärung der "Armenierfrage" eine große Rolle. Zwei
kemalistische Historiker haben, um eine Sammlung von dechiffrierten
Telegrammen der jungtürkischen Führer als Fälschung zu entlarven,
eine bemerkenswerte Argumentation entwickelt: Dass ein osmanischer
Beamter in Aleppo die fraglichen Dokumente einem Armenier
ausgehändigt haben soll, mache diese höchst verdächtig. Niemals hätte
ein Türke gegenüber einem Nichttürken eigene Landsleute angeschwärzt,
"als würden diese zu einer anderen Nation gehören".4
Ein anständiger Türke verrät keine Familiengeheimnisse nach außen,
schon gar nicht an Armenier. Dieses Gebot haben die staatstreuen
türkischen Historiker lange Zeit loyal befolgt. Im Umkreis der
"Historischen Gesellschaft" wurde so geforscht und publiziert, dass
das Ansehen der Türkei keinen Schaden nahm. Deshalb musste man auch
die Urteile abwerten, die türkische Richter vor 86 Jahren über die
mutmaßlichen Haupttäter der jungtürkischen Junta gefällt haben.
Die Sonderkriegsgerichte, die ab Frühjahr 1919 tagten, untersuchten
auch die Massenmorde von 1915 (unter Anklagepunkten wie "Übergriffe
gegen Armenier und andere Volksgruppen" oder "Plünderung und
Zerstörung von Eigentum"). Sie fällten, noch nach osmanischem Recht,
siebzehn Todesurteile, von denen drei vollstreckt wurden. Doch die
Urteile wurden weder von der späteren kemalistischen Staatsführung
noch von der öffentlichen Meinung je anerkannt. Damit waren auch die
Beweismittel delegitimiert.
Ein Argument gegen diese Prozesse ist noch heute die Vokabel
"Siegerjustiz". Tatsächlich fanden die Prozesse auf Druck
Großbritanniens statt, das seit Kriegsende auch Besatzungsmacht war.
Doch das Gericht bestand aus türkischen Richtern, deren Autorität
allerdings angeschlagen war, als sie auch Todesurteile gegen die
nationalistischen Führer fällten, die sich gegen die Regierung in
Istanbul erhoben hatten. Die Legitimität der osmanischen Gerichte war
vollends zerstört, als griechische Truppen im Mai 1920 die Region um
Izmir besetzten und sich anschickten, den Westen Kleinasiens zu
erobern. Angesichts der drohenden Aufteilung des Landes erschienen
die Istanbuler Sondergerichte als Werkzeuge der Besatzungsmächte, die
dem von Mustafa Kemal organisierten nationalen Widerstand das Genick
brechen wollten.
Die Prozesse wurden eingestellt, als Mustafa Kemal, der Führer des
Befreiungskampfes, dem britischen Hochkommissariat am 12. August 1920
aus Anatolien übermitteln ließ, falls die in Istanbul verhängten
Todesstrafen vollstreckt würden, werde man "die in unseren Händen
befindlichen englischen Gefangenen sofort allesamt hinrichten".5
Kemals Drohung war eine Reaktion auf den Vertrag von Sèvres, den die
osmanische Regierung zwei Tage zuvor unterzeichnet hatte.
Das Wort Sèvres signalisiert für die meisten Türken bis heute die
Gefahr der Zerstückelung und Kontrolle ihres Landes durch
ausländische Mächte. Ohne die Erinnerung an Sèvres, das türkische
Versailles, lässt sich nicht verstehen, warum nach Umfragen von Mitte
Februar 2005 noch 50,4 Prozent der Bevölkerung glauben, ihr Land sei
von Feinden umgeben - obwohl zugleich 75,9 Prozent den EU-Beitritt
der Türkei befürworten.
Als Ausdruck des Sèvres-Syndroms kann man auch den rhetorischen
Reflex sehen, der kürzlich dem türkischen Ministerpräsidenten
unterlaufen ist. Als die Istanbuler Presse die Übergriffe der Polizei
auf demonstrierende Frauen am 8. März als "EU-unwürdig" kritisierte,
warf der "demokratische Reformer" Tahip Erdogan den Journalisten vor,
sie würden ihr Land "in Europa" anschwärzen. Wenn der Ruf der Nation
auf dem Spiel steht, wird die EU auch für Erdogan wieder zum -
potenziell - feindlichen Ausland. Das ist Wasser auf die
Propagandamühlen der türkischen EU-Gegner, die unablässig vor einem
"neuen Sèvres" warnen.
Warum scheut sich die politische Klasse der Türkei noch heute, die
drei Paschas Enver, Talaat und Djemal wegen des Mords an den
Armeniern zu verurteilen? Diese Männer gelten doch als Totengräber
des Osmanischen Reiches, die das türkische Volk ohne demokratische
Legitimation an der Seite der Deutschen in den Weltkrieg gezerrt
hatten. Weder der Vertrag von Sèvres noch die unpatriotische Rolle
der Istanbuler Sondergerichte können erklären, warum die in den
Prozessen von 1919 vorgelegten Dokumente nicht als beweiskräftig
anerkannt werden. Der tiefere Grund liegt wohl auf der personellen
Ebene: Viele der Istanbuler Angeklagten waren Freunde oder Kameraden
von Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk. Innenminister Talaat Pascha,
der Hauptorganisator der Vernichtungsstrategie gegen die Armenier,
war zwar eher ein Rivale als ein Freund des Staatsgründers. Doch
andere Mittäter von 1915 wurden zu Mitkämpfern im Befreiungskrieg und
zu Ministern in kemalistischen Regierungen, etwa Sükrü Kaya, der
langjährige Innenminister.6
Atatürk selbst hat sich zum Mord an den Armeniern unterschiedlich
geäußert. Vor dem Parlament in Ankara kritisierte er 1924 diese
"Schandtat der Vergangenheit". In privaten Gesprächen soll er von 800
000 getöteten Armeniern geredet haben. Doch in seinen öffentlichen
Reden entwickelte er das Grundmuster apologetischer Rhetorik, mit der
die offizielle Türkei das Verbrechen zur "Tragödie" erklärt, also der
Schuldfrage entrückt: Das alles habe sich im Zuge des Krieges
ereignet und sei überdies eine "Folge der Sezessionspolitik", die von
den Nichtmuslimen des Reiches im Verein mit äußeren Feinden betrieben
wurde.
Entscheidend für die Haltung Kemals dürfte gewesen sein, dass die
meisten der Angeklagten alte Kameraden waren. Einige von ihnen hat er
auch im Gefängnis besucht. Für den Historiker Taner Akçam erklärt
dies, warum Kemal "sich für die Verantwortlichen und Täter des
Völkermordes einsetzte und ihre Bestrafung zu verhindern versuchte".
Deshalb sei mit dem Sieg des Kemalismus die Frage einer Bestrafung
erledigt gewesen.7
Die quasireligiöse Autorität des "Vaters der Türken" und das Dogma
von der unbefleckten Empfängnis des türkischen Nationalstaats
behindern noch heute - 86 Jahre nach Sèvres und 67 Jahre nach dem Tod
des Staatsgründers - eine offene und öffentliche Diskussion der
"Armenierfrage". Taner Akçam spricht deshalb von einer
"gesellschaftlichen Amnesie".8
Da diese Amnesie ein Politikum ist, kann sie nur allmählich und "von
unten" abgebaut werden. Dass in der türkischen Zivilgesellschaft in
dieser Hinsicht schon bemerkenswerte Entwicklungen im Gange sind,
wird im Ausland häufig ignoriert. So stand im Entwurf zu einem
Armenien-Antrag, der am 22. April im Deutschen Bundestag diskutiert
werden soll, in der Türkei könne die Edition von Büchern wie Franz
Werfels berühmtem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh"
strafrechtlich verfolgt werden. Tatsächlich liegt das Buch seit acht
Jahren in türkischer Übersetzung vor; der Verleger ist auf freiem
Fuß.
Auch türkische Historiker schreiben über das Thema weit unbefangener
als noch vor zehn Jahren. Ende Mai wird in Istanbul eine Konferenz
über das Schicksal der osmanischen Armenier stattfinden. Die
Tatsache, dass alle Referate auf Türkisch vorliegen werden, belegt
das Interesse gerade türkischer Historiker an diesem tabuisierten
Thema. Auch auf journalistischer Ebene werden die offiziellen
Stereotype in der "Armenierfrage" stärker kritisiert. Allerdings
bestehen die kritischen türkischen Historiker und Publizisten darauf,
das Geschehen in seinen historischen Kontext zu stellen, also auf den
Zerfall des Osmanischen Reiches und die Strategien der Sieger des
Ersten Weltkrieges zu beziehen.9 Sie erörtern auch die
Unabhängigkeitsbestrebungen armenischer Nationalisten, die von der
armenischen Diaspora oft verschwiegen werden.
Statt die Herausforderung zu einer differenzierten historischen
Diskussion anzunehmen, verschanzt sich die offizielle Türkei in den
alten Schützengräben. Nach Aussage des türkischen Botschafters in
Deutschland, der durch sein Bemühen bekannt wurde, die
"Armenierfrage" aus den Lehrplänen des Landes Brandenburg zu tilgen,
gab es 1915 weder einen Völkermord noch ethnische Säuberungen.10 Als
guter Diplomat vertritt er nur die offizielle Position seines
Staates, auf die sich das islamische und das kemalistische Lager vor
kurzem offiziell geeinigt haben. Am 17. März tagte der "Ausschuss zur
Bekämpfung der Völkermord-Anschuldigungen", der dem
Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrats angelagert ist.
Vertreten waren der Generalstab, das Außen- und das
Erziehungsministerium, die "Türkische Historische Gesellschaft" und
ein staatlicher Propagandafonds.
Einleitend erklärte Außenminister Abdullah Gül, die
Genozid-Anschuldigungen im Vorfeld des armenischen Gedenktages am 24.
April drohten die Beziehungen der Türkei zur EU zu belasten. Deshalb
beschloss das Gremium eine türkischen "Offensive", deren Nahziel es
ist, "die Anschuldigungen hinsichtlich des so genannten Genozids an
den Armeniern aus den Schulbüchern in den USA und in Frankreich zu
entfernen". Dafür will man Gelder aus dem staatlichen Propagandafonds
investieren. Unter Federführung des Kultur- und des
Tourismusministeriums soll ein Museum zum Thema "Das Osmanische Reich
und die türkische Toleranz" gebaut werden. Das staatliche Fernsehen
wird aufklärende Programme vorbereiten, die privaten Medien sollen
sich an der Kampagne beteiligen. Und die Universitäten bekommen
Sondermittel, "um Studien zu dem Thema durchzuführen".11
Die Vorstellung, eine solche "Offensive" könnte die Krise im
Verhältnis mit der EU entschärfen, macht deutlich, dass die
"offizielle" Türkei noch immer kein Gespür für ihre "Probleme" mit
der europäischen Öffentlichkeit entwickelt hat. Diese Strategie
diskreditiert zudem den vernünftigen Vorschlag, den Ankara kurz zuvor
gemacht hatte: Eine gemischte Kommission von türkischen und
armenischen Experten solle ein historisches Gutachten zu den
Ereignissen von 1915 erarbeiten, womöglich unter Schirmherrschaft der
Unesco. Wo das Ergebnis der historischen Bemühungen vorgegeben ist,
wird es in einer Kommission mit "offiziellen" Repräsentanten nicht zu
einem wissenschaftlichen Diskurs, sondern zu einem diplomatisches
Tauziehen kommen.
Wie Ankara diese "armenische Offensive" betreiben will, lässt auch
das Auftreten des US-Historikers Justin McCarthy erahnen, der Ende
März im türkischen Parlament reden durfte. McCarthy bekräftigte die
offizielle türkische These von der "kriegsbedingten Tragödie" und
erklärte, die damaligen Bestrebungen armenischer Nationalisten hätten
das Osmanische Reich akut bedroht. Doch dieses immer wieder
angeführte Entlastungsargument ist ein historiografischer Trick: Das
Potenzial zu einem armenischen Aufstand war bereits seit Ende 1914
neutralisiert, als man alle wehrfähigen armenischen (und
griechischen) Männer in Arbeitsbataillone steckte. Ganz abgesehen
davon, dass die Vernichtungsstrategie des Talaat Pascha auf die
gesamte Zivilbevölkerung zielte.12
McCarthy beendete seinen Vortrag mit einer aktuellen Warnung: Wenn
Ankara eine historische Schuld anerkenne, würden die Armenier nicht
nur gewaltige Entschädigungen fordern, sondern auch territoriale
Ansprüche in Anatolien stellen. Eine solche Warnung ist angesichts
der rechtlichen Fakten und der politischen Realitäten völlig absurd.
Sie soll also nur neue Sèvres-Ängste auslösen. Die türkischen
Parlamentarier aller Fraktionen dankten es McCarthy mit großem
Beifall.
Solange die politische Klasse der Türkei das Sèvres-Syndrom
kultiviert, statt es im politischen Diskurs mit der Gesellschaft zu
überwinden, wird die Kommunikation mit den europäischen Partnern
gestört bleiben. Und solange Ankara die Behandlung schwieriger
historischer Themen als Provokation oder nationale Demütigung
begreift, hat es nicht verstanden, was Europa bedeutet. Seit Jahren
versichert Ministerpräsident Erdogan, sein Land wolle sich nicht zum
Gefallen der EU, sondern um seiner selbst willen demokratisieren.
Doch die Politiker - Kemalisten wie islamisch orientierte Kräfte -
verweigern beharrlich, was mutige Schriftsteller, liberale
Journalisten und seriöse Historiker einfordern: ehrliche Antworten
auf klare Fragen zur eigenen Geschichte.
Da in der Türkei die Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in
öffentliches Bewusstsein ein langwieriger Prozess ist, wird eine
breite Diskussion der "armenischen Frage" noch länger auf sich warten
lassen. Ein "auserwähltes Volk", zu dem der Gründungsmythos die
türkische Nation ernannt hat, hat es schwer, die dunklen Seiten
seiner Geschichte zu sehen. Ein erster Schritt wäre die Einsicht,
dass radikales Fragen nicht irgendwelchen Feinden dient, sondern der
gesellschaftlichen Selbstaufklärung. Wenn die türkische Gesellschaft
ihre Geschichte aufarbeitet, kann sie nicht nur die genannte
kollektive Amnesie überwinden. Ehrliche Antworten auf die
"Armenierfrage" könnten vor allem auch eine historischen Entlastung
"der Nation" bewirken.
Am 8. November 1918 hat ein Abgeordneter im letzten osmanischen
Parlament eine leidenschaftliche Rede gehalten: "Meine Herren, Sie
wissen, dass sich die Türkei in den Augen der zivilisierten Welt
heute in der Position des Angeklagten befindet. [...] Es geht um das
große Mordgeschehen, das die düsterste und blutigste Phase der
osmanischen Geschichte darstellt. Und dieses Morden wird nunmehr der
türkischen Nation angelastet. [...] Ich aber sage hier: Das große
Morden ist die Tat der früheren Regierung, um es genauer zu sagen:
die Tat einer regierenden Verbrecherbande."13
Die Stimme, die das türkische Volk in Schutz nehmen wollte, gehörte
dem Armenier Artin Boigezenyan. Was der Abgeordnete aus Aleppo damals
sagte, ist auch für die politische Klasse der heutigen Türkei
bedenkenswert: Man kann "die Kette von Verdächtigungen, die man den
Türken um den Hals legt", nur zerbrechen, indem man die wahren Täter
benennt.
© Le Monde diplomatique, Berlin