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Fragen an die Turkei (Questions to Turkey)

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  • Fragen an die Turkei (Questions to Turkey)

    Taz, die tageszeitung, Deutschland
    15. April 2005

    Le Monde diplomatique; S. 1,10-11

    Fragen an die Türkei

    AUTOR: NIELS KADRITZKE


    Am 24. April 2005 jährt sich zum 90. Mal der Tag, an dem die
    Verfolgung der Armenier durch die jungtürkische Militärjunta während
    des Ersten Weltkriegs begann. Bis Ende 1915 wurden mindestens eine
    Million armenische Bürger des Osmanischen Reichs aufgrund eines
    geheimen Plans umgebracht - durch Hinrichtungen, durch Auszehrung auf
    Hungermärschen, durch Massaker staatlich organisierter Mörderbanden.
    Die türkische Republik hat dieses "Verbrechen gegen die
    Menschlichkeit" nie anerkannt. Die heutige Regierung spricht
    lediglich von einer kriegsbedingten "Tragödie" und weist den Vorwurf
    des "Völkermords" empört zurück. Das kemalistische Erbe verstellt
    nach wie vor den offenen Blick auf die dunklen Seiten der eigenen
    Geschichte. Doch die kritischen türkischen Historiker werden sich auf
    die Dauer nicht bevormunden lassen.

    Von


    DIE ERMORDUNG DER ARMENIER UND DIE GESELLSCHAFTLICHE AMNESIE

    ERLIN im Mai 1997: ein langer Demonstrationszug unter roten Fahnen.
    Die Türken der deutschen Hauptstadt protestieren gegen den Kongress
    in Washington. Jenseits des Atlantiks wird gerade eine Resolution
    diskutiert, die den Massenmord, der 1915 vom osmanischen Regime an
    den Armeniern Anatoliens begangen wurde, als Genozid verurteilen
    soll.

    Wie viele der Demonstranten haben über dieses Thema je etwas Seriöses
    gelesen? Die Frage ist falsch gestellt. Als gute Türken sind sie
    überzeugt, dass ihrer Nation Unrecht geschieht. In seinem
    irrationalen Kern ist Nationalismus die kollektiv gefühlte Meinung
    über Dinge, von denen man nichts weiß. Die türkische Variante äußert
    sich am klarsten in der unwissenden Empörung über "die
    Armenierfrage".

    Wie alle Nationalismen ist auch der türkische Nationalismus in einer
    bestimmten historische Konstellation entstanden. Und wie andere
    nationale Projekte auch hat sich der kemalistische Staat, der am Ende
    des Ersten Weltkriegs auf den Ruinen des Osmanischen Reichs entstand,
    eine neue Nationalgeschichte erfunden. Es galt ja, den Verlust eines
    gescheiterten Imperiums zu kompensieren. Doch der Stolz auf die
    "Rettung" der Nation angesichts einer existenziellen Bedrohung
    blockiert die Einsicht, dass im Übergang vom Osmanischen Reich zum
    türkischen Nationalstaat ein furchtbares Verbrechen geschehen ist.
    Diese Sperre wirkt noch heute, sechs Monate bevor die
    Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU beginnen.

    Die Vertreibung und Vernichtung von mindestens einer Million
    anatolischer Armenier erfüllt nach aktuellem internationalem Recht
    den Tatbestand des Völkermords. Wie Wolfgang Gust, der Herausgeber
    wichtiger Dokumente aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes,
    überzeugend resümiert, planten die Täter, "eine ethnische, rassische
    oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören".
    Das kennzeichnet nach der Genozid-Konvention der UN einen
    Völkermord.1 Unter Historikern ist der Begriff nicht unumstritten.
    Unbestreitbar ist jedoch, dass die 1915 von der jungtürkischen Junta
    beschlossene "Deportation in den Tod" ein "Verbrechen gegen die
    Menschlichkeit" darstellt. Dass die offizielle Türkei, aber auch eine
    große Mehrheit der Türken dies zurückweist, ja als nationale
    Beleidigung empfindet, ist das Ergebnis einer brachialen
    Geschichtspolitik. In der Türkei war die nationale Geschichte nie ein
    offenes Feld der Forschung und der Kontroverse, sondern stets ein
    patriotisches Projekt. Kemal Atatürk hinterließ seinem Volk einen
    historischen Mythos von Orwellschem Zuschnitt. Der "Vater der Türken"
    gründete 1931 die "Türkische Historisches Gesellschaft", deren
    Aufgabe es war, der jungen Nation eine glorreiche Vergangenheit zu
    erfinden.

    Beflissene Geschichtsbürokraten produzierten den "Türk Tarihinin Ana
    Hatlari", einen "Grundriss der türkischen Geschichte", der als Basis
    für sämtliche Schulbücher diente. Im Kern sollte die neue Doktrin ein
    uraltes "historisches Recht" auf Anatolien begründen. Der
    "islamischen Eroberung" durch Seldschuken und Osmanen wurde eine
    rassisch fundierte Vorgeschichte hinzugedichtet: Sämtliche
    Kulturvölker, die im Umkreis der heutigen Türkei je existiert haben,
    wurden zu Prototürken erklärt: Sumerer und Skythen, Hethiter,
    Trojaner und archaische Griechenvölker.2

    Diese kemalistische Geschichtsmär gehört zum gröbsten Unfug, der je
    einem Volk als Ursprungsmythos beigebracht wurde. Damit hat man
    Generationen von Türken eingeredet, dass ihre Vorfahren die Väter
    aller großen Kulturen waren. Die Folgen sind noch heute zu spüren.
    Zwar nimmt kein seriöser türkischer Historiker den "Grundriss" ernst,
    aber der ideologische Prachtbau wurde nie demontiert. Sonst hätte man
    ja das Andenken des Staatsgründers befleckt, das so rein bleiben muss
    wie die eigene Geschichte.

    Nur vor diesem volkspädagogischen Hintergrund ist die Wut
    verständlich, mit der die staatlichen Instanzen alles, was diese
    Reinheit gefährdet, als türkenfeindliches Komplott denunzieren. Das
    gilt besonders für die "Armenierfrage". Wenn gar ein Türke dieses
    Tabu verletzt, ist er für die Hüter des kemalistischen Erbes ein
    Verrückter. So schrieb der prominente Kolumnist Gündüz Aktan, ein
    ehemaliger Diplomat, kürzlich über die "redlichen Intellektuellen",
    die sich "schuldig für alles" fühlen, dass sie in Wahrheit an
    Identitätsverlust leiden, also an einem "psychopathologischen
    Zustand".3

    Wie es um die intellektuelle Redlichkeit der kemalistischen
    Historiker steht, lässt sich aus ihrem Umgang mit historischen
    Quellen ersehen. Die Echtheit von Dokumenten aus dem Ersten Weltkrieg
    spielt bei der Klärung der "Armenierfrage" eine große Rolle. Zwei
    kemalistische Historiker haben, um eine Sammlung von dechiffrierten
    Telegrammen der jungtürkischen Führer als Fälschung zu entlarven,
    eine bemerkenswerte Argumentation entwickelt: Dass ein osmanischer
    Beamter in Aleppo die fraglichen Dokumente einem Armenier
    ausgehändigt haben soll, mache diese höchst verdächtig. Niemals hätte
    ein Türke gegenüber einem Nichttürken eigene Landsleute angeschwärzt,
    "als würden diese zu einer anderen Nation gehören".4

    Ein anständiger Türke verrät keine Familiengeheimnisse nach außen,
    schon gar nicht an Armenier. Dieses Gebot haben die staatstreuen
    türkischen Historiker lange Zeit loyal befolgt. Im Umkreis der
    "Historischen Gesellschaft" wurde so geforscht und publiziert, dass
    das Ansehen der Türkei keinen Schaden nahm. Deshalb musste man auch
    die Urteile abwerten, die türkische Richter vor 86 Jahren über die
    mutmaßlichen Haupttäter der jungtürkischen Junta gefällt haben.

    Die Sonderkriegsgerichte, die ab Frühjahr 1919 tagten, untersuchten
    auch die Massenmorde von 1915 (unter Anklagepunkten wie "Übergriffe
    gegen Armenier und andere Volksgruppen" oder "Plünderung und
    Zerstörung von Eigentum"). Sie fällten, noch nach osmanischem Recht,
    siebzehn Todesurteile, von denen drei vollstreckt wurden. Doch die
    Urteile wurden weder von der späteren kemalistischen Staatsführung
    noch von der öffentlichen Meinung je anerkannt. Damit waren auch die
    Beweismittel delegitimiert.

    Ein Argument gegen diese Prozesse ist noch heute die Vokabel
    "Siegerjustiz". Tatsächlich fanden die Prozesse auf Druck
    Großbritanniens statt, das seit Kriegsende auch Besatzungsmacht war.
    Doch das Gericht bestand aus türkischen Richtern, deren Autorität
    allerdings angeschlagen war, als sie auch Todesurteile gegen die
    nationalistischen Führer fällten, die sich gegen die Regierung in
    Istanbul erhoben hatten. Die Legitimität der osmanischen Gerichte war
    vollends zerstört, als griechische Truppen im Mai 1920 die Region um
    Izmir besetzten und sich anschickten, den Westen Kleinasiens zu
    erobern. Angesichts der drohenden Aufteilung des Landes erschienen
    die Istanbuler Sondergerichte als Werkzeuge der Besatzungsmächte, die
    dem von Mustafa Kemal organisierten nationalen Widerstand das Genick
    brechen wollten.

    Die Prozesse wurden eingestellt, als Mustafa Kemal, der Führer des
    Befreiungskampfes, dem britischen Hochkommissariat am 12. August 1920
    aus Anatolien übermitteln ließ, falls die in Istanbul verhängten
    Todesstrafen vollstreckt würden, werde man "die in unseren Händen
    befindlichen englischen Gefangenen sofort allesamt hinrichten".5
    Kemals Drohung war eine Reaktion auf den Vertrag von Sèvres, den die
    osmanische Regierung zwei Tage zuvor unterzeichnet hatte.

    Das Wort Sèvres signalisiert für die meisten Türken bis heute die
    Gefahr der Zerstückelung und Kontrolle ihres Landes durch
    ausländische Mächte. Ohne die Erinnerung an Sèvres, das türkische
    Versailles, lässt sich nicht verstehen, warum nach Umfragen von Mitte
    Februar 2005 noch 50,4 Prozent der Bevölkerung glauben, ihr Land sei
    von Feinden umgeben - obwohl zugleich 75,9 Prozent den EU-Beitritt
    der Türkei befürworten.

    Als Ausdruck des Sèvres-Syndroms kann man auch den rhetorischen
    Reflex sehen, der kürzlich dem türkischen Ministerpräsidenten
    unterlaufen ist. Als die Istanbuler Presse die Übergriffe der Polizei
    auf demonstrierende Frauen am 8. März als "EU-unwürdig" kritisierte,
    warf der "demokratische Reformer" Tahip Erdogan den Journalisten vor,
    sie würden ihr Land "in Europa" anschwärzen. Wenn der Ruf der Nation
    auf dem Spiel steht, wird die EU auch für Erdogan wieder zum -
    potenziell - feindlichen Ausland. Das ist Wasser auf die
    Propagandamühlen der türkischen EU-Gegner, die unablässig vor einem
    "neuen Sèvres" warnen.

    Warum scheut sich die politische Klasse der Türkei noch heute, die
    drei Paschas Enver, Talaat und Djemal wegen des Mords an den
    Armeniern zu verurteilen? Diese Männer gelten doch als Totengräber
    des Osmanischen Reiches, die das türkische Volk ohne demokratische
    Legitimation an der Seite der Deutschen in den Weltkrieg gezerrt
    hatten. Weder der Vertrag von Sèvres noch die unpatriotische Rolle
    der Istanbuler Sondergerichte können erklären, warum die in den
    Prozessen von 1919 vorgelegten Dokumente nicht als beweiskräftig
    anerkannt werden. Der tiefere Grund liegt wohl auf der personellen
    Ebene: Viele der Istanbuler Angeklagten waren Freunde oder Kameraden
    von Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk. Innenminister Talaat Pascha,
    der Hauptorganisator der Vernichtungsstrategie gegen die Armenier,
    war zwar eher ein Rivale als ein Freund des Staatsgründers. Doch
    andere Mittäter von 1915 wurden zu Mitkämpfern im Befreiungskrieg und
    zu Ministern in kemalistischen Regierungen, etwa Sükrü Kaya, der
    langjährige Innenminister.6

    Atatürk selbst hat sich zum Mord an den Armeniern unterschiedlich
    geäußert. Vor dem Parlament in Ankara kritisierte er 1924 diese
    "Schandtat der Vergangenheit". In privaten Gesprächen soll er von 800
    000 getöteten Armeniern geredet haben. Doch in seinen öffentlichen
    Reden entwickelte er das Grundmuster apologetischer Rhetorik, mit der
    die offizielle Türkei das Verbrechen zur "Tragödie" erklärt, also der
    Schuldfrage entrückt: Das alles habe sich im Zuge des Krieges
    ereignet und sei überdies eine "Folge der Sezessionspolitik", die von
    den Nichtmuslimen des Reiches im Verein mit äußeren Feinden betrieben
    wurde.

    Entscheidend für die Haltung Kemals dürfte gewesen sein, dass die
    meisten der Angeklagten alte Kameraden waren. Einige von ihnen hat er
    auch im Gefängnis besucht. Für den Historiker Taner Akçam erklärt
    dies, warum Kemal "sich für die Verantwortlichen und Täter des
    Völkermordes einsetzte und ihre Bestrafung zu verhindern versuchte".
    Deshalb sei mit dem Sieg des Kemalismus die Frage einer Bestrafung
    erledigt gewesen.7

    Die quasireligiöse Autorität des "Vaters der Türken" und das Dogma
    von der unbefleckten Empfängnis des türkischen Nationalstaats
    behindern noch heute - 86 Jahre nach Sèvres und 67 Jahre nach dem Tod
    des Staatsgründers - eine offene und öffentliche Diskussion der
    "Armenierfrage". Taner Akçam spricht deshalb von einer
    "gesellschaftlichen Amnesie".8

    Da diese Amnesie ein Politikum ist, kann sie nur allmählich und "von
    unten" abgebaut werden. Dass in der türkischen Zivilgesellschaft in
    dieser Hinsicht schon bemerkenswerte Entwicklungen im Gange sind,
    wird im Ausland häufig ignoriert. So stand im Entwurf zu einem
    Armenien-Antrag, der am 22. April im Deutschen Bundestag diskutiert
    werden soll, in der Türkei könne die Edition von Büchern wie Franz
    Werfels berühmtem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh"
    strafrechtlich verfolgt werden. Tatsächlich liegt das Buch seit acht
    Jahren in türkischer Übersetzung vor; der Verleger ist auf freiem
    Fuß.

    Auch türkische Historiker schreiben über das Thema weit unbefangener
    als noch vor zehn Jahren. Ende Mai wird in Istanbul eine Konferenz
    über das Schicksal der osmanischen Armenier stattfinden. Die
    Tatsache, dass alle Referate auf Türkisch vorliegen werden, belegt
    das Interesse gerade türkischer Historiker an diesem tabuisierten
    Thema. Auch auf journalistischer Ebene werden die offiziellen
    Stereotype in der "Armenierfrage" stärker kritisiert. Allerdings
    bestehen die kritischen türkischen Historiker und Publizisten darauf,
    das Geschehen in seinen historischen Kontext zu stellen, also auf den
    Zerfall des Osmanischen Reiches und die Strategien der Sieger des
    Ersten Weltkrieges zu beziehen.9 Sie erörtern auch die
    Unabhängigkeitsbestrebungen armenischer Nationalisten, die von der
    armenischen Diaspora oft verschwiegen werden.

    Statt die Herausforderung zu einer differenzierten historischen
    Diskussion anzunehmen, verschanzt sich die offizielle Türkei in den
    alten Schützengräben. Nach Aussage des türkischen Botschafters in
    Deutschland, der durch sein Bemühen bekannt wurde, die
    "Armenierfrage" aus den Lehrplänen des Landes Brandenburg zu tilgen,
    gab es 1915 weder einen Völkermord noch ethnische Säuberungen.10 Als
    guter Diplomat vertritt er nur die offizielle Position seines
    Staates, auf die sich das islamische und das kemalistische Lager vor
    kurzem offiziell geeinigt haben. Am 17. März tagte der "Ausschuss zur
    Bekämpfung der Völkermord-Anschuldigungen", der dem
    Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrats angelagert ist.
    Vertreten waren der Generalstab, das Außen- und das
    Erziehungsministerium, die "Türkische Historische Gesellschaft" und
    ein staatlicher Propagandafonds.

    Einleitend erklärte Außenminister Abdullah Gül, die
    Genozid-Anschuldigungen im Vorfeld des armenischen Gedenktages am 24.
    April drohten die Beziehungen der Türkei zur EU zu belasten. Deshalb
    beschloss das Gremium eine türkischen "Offensive", deren Nahziel es
    ist, "die Anschuldigungen hinsichtlich des so genannten Genozids an
    den Armeniern aus den Schulbüchern in den USA und in Frankreich zu
    entfernen". Dafür will man Gelder aus dem staatlichen Propagandafonds
    investieren. Unter Federführung des Kultur- und des
    Tourismusministeriums soll ein Museum zum Thema "Das Osmanische Reich
    und die türkische Toleranz" gebaut werden. Das staatliche Fernsehen
    wird aufklärende Programme vorbereiten, die privaten Medien sollen
    sich an der Kampagne beteiligen. Und die Universitäten bekommen
    Sondermittel, "um Studien zu dem Thema durchzuführen".11

    Die Vorstellung, eine solche "Offensive" könnte die Krise im
    Verhältnis mit der EU entschärfen, macht deutlich, dass die
    "offizielle" Türkei noch immer kein Gespür für ihre "Probleme" mit
    der europäischen Öffentlichkeit entwickelt hat. Diese Strategie
    diskreditiert zudem den vernünftigen Vorschlag, den Ankara kurz zuvor
    gemacht hatte: Eine gemischte Kommission von türkischen und
    armenischen Experten solle ein historisches Gutachten zu den
    Ereignissen von 1915 erarbeiten, womöglich unter Schirmherrschaft der
    Unesco. Wo das Ergebnis der historischen Bemühungen vorgegeben ist,
    wird es in einer Kommission mit "offiziellen" Repräsentanten nicht zu
    einem wissenschaftlichen Diskurs, sondern zu einem diplomatisches
    Tauziehen kommen.

    Wie Ankara diese "armenische Offensive" betreiben will, lässt auch
    das Auftreten des US-Historikers Justin McCarthy erahnen, der Ende
    März im türkischen Parlament reden durfte. McCarthy bekräftigte die
    offizielle türkische These von der "kriegsbedingten Tragödie" und
    erklärte, die damaligen Bestrebungen armenischer Nationalisten hätten
    das Osmanische Reich akut bedroht. Doch dieses immer wieder
    angeführte Entlastungsargument ist ein historiografischer Trick: Das
    Potenzial zu einem armenischen Aufstand war bereits seit Ende 1914
    neutralisiert, als man alle wehrfähigen armenischen (und
    griechischen) Männer in Arbeitsbataillone steckte. Ganz abgesehen
    davon, dass die Vernichtungsstrategie des Talaat Pascha auf die
    gesamte Zivilbevölkerung zielte.12

    McCarthy beendete seinen Vortrag mit einer aktuellen Warnung: Wenn
    Ankara eine historische Schuld anerkenne, würden die Armenier nicht
    nur gewaltige Entschädigungen fordern, sondern auch territoriale
    Ansprüche in Anatolien stellen. Eine solche Warnung ist angesichts
    der rechtlichen Fakten und der politischen Realitäten völlig absurd.
    Sie soll also nur neue Sèvres-Ängste auslösen. Die türkischen
    Parlamentarier aller Fraktionen dankten es McCarthy mit großem
    Beifall.

    Solange die politische Klasse der Türkei das Sèvres-Syndrom
    kultiviert, statt es im politischen Diskurs mit der Gesellschaft zu
    überwinden, wird die Kommunikation mit den europäischen Partnern
    gestört bleiben. Und solange Ankara die Behandlung schwieriger
    historischer Themen als Provokation oder nationale Demütigung
    begreift, hat es nicht verstanden, was Europa bedeutet. Seit Jahren
    versichert Ministerpräsident Erdogan, sein Land wolle sich nicht zum
    Gefallen der EU, sondern um seiner selbst willen demokratisieren.
    Doch die Politiker - Kemalisten wie islamisch orientierte Kräfte -
    verweigern beharrlich, was mutige Schriftsteller, liberale
    Journalisten und seriöse Historiker einfordern: ehrliche Antworten
    auf klare Fragen zur eigenen Geschichte.

    Da in der Türkei die Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in
    öffentliches Bewusstsein ein langwieriger Prozess ist, wird eine
    breite Diskussion der "armenischen Frage" noch länger auf sich warten
    lassen. Ein "auserwähltes Volk", zu dem der Gründungsmythos die
    türkische Nation ernannt hat, hat es schwer, die dunklen Seiten
    seiner Geschichte zu sehen. Ein erster Schritt wäre die Einsicht,
    dass radikales Fragen nicht irgendwelchen Feinden dient, sondern der
    gesellschaftlichen Selbstaufklärung. Wenn die türkische Gesellschaft
    ihre Geschichte aufarbeitet, kann sie nicht nur die genannte
    kollektive Amnesie überwinden. Ehrliche Antworten auf die
    "Armenierfrage" könnten vor allem auch eine historischen Entlastung
    "der Nation" bewirken.

    Am 8. November 1918 hat ein Abgeordneter im letzten osmanischen
    Parlament eine leidenschaftliche Rede gehalten: "Meine Herren, Sie
    wissen, dass sich die Türkei in den Augen der zivilisierten Welt
    heute in der Position des Angeklagten befindet. [...] Es geht um das
    große Mordgeschehen, das die düsterste und blutigste Phase der
    osmanischen Geschichte darstellt. Und dieses Morden wird nunmehr der
    türkischen Nation angelastet. [...] Ich aber sage hier: Das große
    Morden ist die Tat der früheren Regierung, um es genauer zu sagen:
    die Tat einer regierenden Verbrecherbande."13

    Die Stimme, die das türkische Volk in Schutz nehmen wollte, gehörte
    dem Armenier Artin Boigezenyan. Was der Abgeordnete aus Aleppo damals
    sagte, ist auch für die politische Klasse der heutigen Türkei
    bedenkenswert: Man kann "die Kette von Verdächtigungen, die man den
    Türken um den Hals legt", nur zerbrechen, indem man die wahren Täter
    benennt.



    © Le Monde diplomatique, Berlin
Working...
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