Associated Press Worldstream
Montag, 18. April 2005
Interview with the German expert on Armenia Forscher Wolfgang Gust
over the Armenian question
»Sehr genaues Bild von der Planmäßigkeit des Völkermords«;
Interview mit dem deutschen Armenien-Experten Gust über die
Verfolgung der Armenier vor 90 Jahren
Frankfurt/Main
Vor 90 Jahren, am 24. April 1915, begann im damaligen Osmanischen
Reich eine Verfolgung der armenischen Bevölkerung, die bis zu 1,5
Millionen Menschen in den Tod trieb. Das deutsche Kaiserreich war als
einer der engsten Verbündeten der Türkei genau über die Ereignisse
informiert, wie der deutsche Forscher Wolfgang Gust mit einer gerade
veröffentlichten Dokumentation mit Aufzeichnungen aus den Beständen
des Auswärtigen Amtes belegt. Nachfolgend ein Interview mit dem
früheren »Spiegel«-Journalisten im Wortlaut.
AP: Aus bislang weitgehend unveröffentlichten Dokumenten des
deutschen Auswärtigen Amtes ergibt sich ein bislang so wohl nicht
bestehendes detailliertes Bild einer deutschen Rolle. Wie sind Sie
auf dieses Archiv gestoßen?
Gust: Den Wissenschaftlern steht das Archiv des Auswärtigen Amts seit
längerem zur Verfügung, seit einigen Jahren sind auch die
Personalakten freigegeben worden. Darüber hinaus haben die Alliierten
nach dem Zweiten Weltkrieg einen großen Teil der Bestände
fotografiert, womit die Akten auch in Washington und London
einzusehen sind. Das Problem war weniger der Zugang, als die
Entzifferung der Archive. Vor allem die Archive der damaligen
deutschen Botschaft in Konstantinopel, wie Istanbul im Ersten
Weltkrieg noch offiziell hieß, sind zumeist handschriftlich - und das
in der alten deutschen »Sütherlin« genannten gotischen Schrift. Diese
Schriftstücke zu lesen war bislang kein Ausländer in der Lage. Und
die deutschen Historiker interessieren sich bis heute kaum für die
Akten zum Völkermord an den Armeniern. Ein weiteres Problem bestand
darin, dass viele Dokumente nur mit Paraphen abgezeichnet worden
sind. Es war also notwendig, die dahinter stehenden Personen zu
identifizieren.
AP: Wie würden Sie das Verhalten Deutschlands charakterisieren? Gibt
es eine Mitschuld?
Es gab zwei große Gruppen Deutscher im Osmanischen Reich, die mit dem
Völkermord direkt zu tun hatten. Das waren einmal die Militärs und
zum anderen die Diplomaten. Über die Militärs haben einige
Wissenschaftler geforscht, besonders der Schweizer Historiker
Christoph Dinkel, nach dessen Arbeit sehr wohl von einer Mitschuld
die Rede sein kann. In den diplomatischen Akten gibt es einen
Deportationsbefehl, den der im türkischen Großen Hauptquartier für
das Eisenbahnwesen zuständige deutsche Offizier Böttrich
unterzeichnete. Es ist der einzige Befehl dieser Art überhaupt, der
überliefert worden ist. Ihn trifft wegen des tödlichen Schicksals
vieler armenischer Angestellter der Bagdadbahn zweifellos eine
direkte Schuld.
Bei den Diplomaten, mit denen ich mich ausschließlich
auseinandergesetzt habe, muss schon differenziert werden. Die
deutschen Konsuln vor Ort haben ihre Vorgesetzten hervorragend
informiert und sich zum Teil persönlich für die Armenier eingesetzt.
Unter den Botschaftern tat dies nur Paul Graf Wolff-Metternich, bis
er auf Druck deutscher Offiziere in Konstantinopel abgesetzt wurde.
In der Berliner Zentrale des Auswärtigen Amts gab es zwar ab und zu
kritische Worte zum Vorgehen der Türken, aber zu mehr als verbalen
Protesten ist es nicht gekommen. Und diese verbalen Proteste hatten
zumeist den Sinn, die deutsche Position bei den anstehenden
Friedensverhandlungen (gegen Ende des 1. Weltkriegs) zu stärken.
Es gibt aber auch Hinweise, dass die Deutschen dem Deportationsplan
selbst zugestimmt haben. Wolff-Metternich selbst bezeugt dies in
einem Bericht vom 3. April 1916, wo er sagt, die türkische Regierung
vertrete den Standpunkt, »dass die Umsiedelungsmaßnahme nicht nur, -
wie wir zugegeben haben -, in den Ostprovinzen, sondern im ganzen
Reichsgebiet durch militärische Gründe gerechtfertigt war.« Also
hatten die Deutschen den Deportationen im Osten zugestimmt, und im
Osten der Türkei war das eigentliche Siedlungsgebiet der Armenier.
AP: Viele Berichte der Diplomaten und anderer Augenzeugen sind in
einer meist mitleidlos-sachlichen und unheimlich direkten, nicht
verklausulierten Sprache verfasst, in der von Ausrottung, Vernichtung
und Konzentrationslagern die Rede ist. Kann an dem Wahrheitsgehalt
der Angaben gezweifelt werden?
Gust: Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Die Deutschen waren die
einzigen, die sämtliche Berichte verschlüsseln durften, ein Privileg,
das nicht einmal den ebenfalls verbündeten Österreichern zugestanden
wurde. Während die Amerikaner die Berichte ihrer Konsuln mühsam durch
Mittelmänner nach Konstantinopel weitergeben mussten und diese
Berichte in vielen Fällen Berichte verloren gingen, konnten die
deutschen Diplomaten ungeschminkt und oft nur Stunden nach den
Ereignissen die Tatsachen übermitteln. Hinzu kommt, dass die
Informationen nur für einen kleinen Kreis von Vorgesetzten bestimmt
waren. Propaganda-Gesichtspunkte spielten keine Rolle. Das macht die
deutschen Zeugnisse so wertvoll und deshalb zweifle ich auch nicht an
deren Wahrheitsgehalt.
AP: Welche Auswirkung können diese Dokumente auf die Forschung über
den Völkermord an den Armeniern haben? Gibt es noch wissenschaftliche
Zweifel an der planmäßigen Ausführung? Die Türkei spricht bis heute
offiziell von einzelnen Massakern und Übergriffen...
Gust: Auch die deutsche Reichsregierung sprach seinerzeit von
einzelnen Übergriffen örtlicher Behörden, aber das waren nur
Beschwichtigungen nach Innen, besonders gegenüber den deutschen
Christen. Die Gesamtheit der deutschen Dokumente zeichnet aber ein
sehr genaues Bild von der Planmäßigkeit des Völkermords, wenngleich
die deutschen Diplomaten die genaue zentrale Planung des Völkermords
durch eine spezielle Organisation nicht sogleich erfasst hatten. Wenn
dazu noch die Dokumente anderer Staaten hinzugezogen werden, kann von
wissenschaftlichen Zweifeln an der Faktizität des Völkermords an den
Armeniern nicht mehr die Rede sein.
AP: Von Hitler ist der Satz überliefert: »Wer redet heute noch von
der Vernichtung der Armeniern?« Gibt es eine direkte Verbindung von
der deutschen Beobachtung des Völkermords an den Armeniern zum von
Deutschen begangenen Holocaust?
Gust: Direkte Verbindungen vom Völkermord an den Armeniern zur Shoah
in dem Sinne, dass die Planer und Durchführenden des Holocaust sich
auf den Völkermord an den Armeniern bezogen, kenne ich - vom
Hitler-Zitat abgesehen - nicht. Indirekte Verbindungen sehe ich aber
sehr wohl. Antisemitismus und rassisches Denken war in der Kaiserzeit
schon sehr ausgeprägt, auch unter Diplomaten.
(Die Fragen stellte AP-Korrespondent Uwe Käding)
--Boundary_(ID_ju6d5VllYw4y2ca5N2fCeQ)--
Montag, 18. April 2005
Interview with the German expert on Armenia Forscher Wolfgang Gust
over the Armenian question
»Sehr genaues Bild von der Planmäßigkeit des Völkermords«;
Interview mit dem deutschen Armenien-Experten Gust über die
Verfolgung der Armenier vor 90 Jahren
Frankfurt/Main
Vor 90 Jahren, am 24. April 1915, begann im damaligen Osmanischen
Reich eine Verfolgung der armenischen Bevölkerung, die bis zu 1,5
Millionen Menschen in den Tod trieb. Das deutsche Kaiserreich war als
einer der engsten Verbündeten der Türkei genau über die Ereignisse
informiert, wie der deutsche Forscher Wolfgang Gust mit einer gerade
veröffentlichten Dokumentation mit Aufzeichnungen aus den Beständen
des Auswärtigen Amtes belegt. Nachfolgend ein Interview mit dem
früheren »Spiegel«-Journalisten im Wortlaut.
AP: Aus bislang weitgehend unveröffentlichten Dokumenten des
deutschen Auswärtigen Amtes ergibt sich ein bislang so wohl nicht
bestehendes detailliertes Bild einer deutschen Rolle. Wie sind Sie
auf dieses Archiv gestoßen?
Gust: Den Wissenschaftlern steht das Archiv des Auswärtigen Amts seit
längerem zur Verfügung, seit einigen Jahren sind auch die
Personalakten freigegeben worden. Darüber hinaus haben die Alliierten
nach dem Zweiten Weltkrieg einen großen Teil der Bestände
fotografiert, womit die Akten auch in Washington und London
einzusehen sind. Das Problem war weniger der Zugang, als die
Entzifferung der Archive. Vor allem die Archive der damaligen
deutschen Botschaft in Konstantinopel, wie Istanbul im Ersten
Weltkrieg noch offiziell hieß, sind zumeist handschriftlich - und das
in der alten deutschen »Sütherlin« genannten gotischen Schrift. Diese
Schriftstücke zu lesen war bislang kein Ausländer in der Lage. Und
die deutschen Historiker interessieren sich bis heute kaum für die
Akten zum Völkermord an den Armeniern. Ein weiteres Problem bestand
darin, dass viele Dokumente nur mit Paraphen abgezeichnet worden
sind. Es war also notwendig, die dahinter stehenden Personen zu
identifizieren.
AP: Wie würden Sie das Verhalten Deutschlands charakterisieren? Gibt
es eine Mitschuld?
Es gab zwei große Gruppen Deutscher im Osmanischen Reich, die mit dem
Völkermord direkt zu tun hatten. Das waren einmal die Militärs und
zum anderen die Diplomaten. Über die Militärs haben einige
Wissenschaftler geforscht, besonders der Schweizer Historiker
Christoph Dinkel, nach dessen Arbeit sehr wohl von einer Mitschuld
die Rede sein kann. In den diplomatischen Akten gibt es einen
Deportationsbefehl, den der im türkischen Großen Hauptquartier für
das Eisenbahnwesen zuständige deutsche Offizier Böttrich
unterzeichnete. Es ist der einzige Befehl dieser Art überhaupt, der
überliefert worden ist. Ihn trifft wegen des tödlichen Schicksals
vieler armenischer Angestellter der Bagdadbahn zweifellos eine
direkte Schuld.
Bei den Diplomaten, mit denen ich mich ausschließlich
auseinandergesetzt habe, muss schon differenziert werden. Die
deutschen Konsuln vor Ort haben ihre Vorgesetzten hervorragend
informiert und sich zum Teil persönlich für die Armenier eingesetzt.
Unter den Botschaftern tat dies nur Paul Graf Wolff-Metternich, bis
er auf Druck deutscher Offiziere in Konstantinopel abgesetzt wurde.
In der Berliner Zentrale des Auswärtigen Amts gab es zwar ab und zu
kritische Worte zum Vorgehen der Türken, aber zu mehr als verbalen
Protesten ist es nicht gekommen. Und diese verbalen Proteste hatten
zumeist den Sinn, die deutsche Position bei den anstehenden
Friedensverhandlungen (gegen Ende des 1. Weltkriegs) zu stärken.
Es gibt aber auch Hinweise, dass die Deutschen dem Deportationsplan
selbst zugestimmt haben. Wolff-Metternich selbst bezeugt dies in
einem Bericht vom 3. April 1916, wo er sagt, die türkische Regierung
vertrete den Standpunkt, »dass die Umsiedelungsmaßnahme nicht nur, -
wie wir zugegeben haben -, in den Ostprovinzen, sondern im ganzen
Reichsgebiet durch militärische Gründe gerechtfertigt war.« Also
hatten die Deutschen den Deportationen im Osten zugestimmt, und im
Osten der Türkei war das eigentliche Siedlungsgebiet der Armenier.
AP: Viele Berichte der Diplomaten und anderer Augenzeugen sind in
einer meist mitleidlos-sachlichen und unheimlich direkten, nicht
verklausulierten Sprache verfasst, in der von Ausrottung, Vernichtung
und Konzentrationslagern die Rede ist. Kann an dem Wahrheitsgehalt
der Angaben gezweifelt werden?
Gust: Dafür gibt es eine einfache Erklärung. Die Deutschen waren die
einzigen, die sämtliche Berichte verschlüsseln durften, ein Privileg,
das nicht einmal den ebenfalls verbündeten Österreichern zugestanden
wurde. Während die Amerikaner die Berichte ihrer Konsuln mühsam durch
Mittelmänner nach Konstantinopel weitergeben mussten und diese
Berichte in vielen Fällen Berichte verloren gingen, konnten die
deutschen Diplomaten ungeschminkt und oft nur Stunden nach den
Ereignissen die Tatsachen übermitteln. Hinzu kommt, dass die
Informationen nur für einen kleinen Kreis von Vorgesetzten bestimmt
waren. Propaganda-Gesichtspunkte spielten keine Rolle. Das macht die
deutschen Zeugnisse so wertvoll und deshalb zweifle ich auch nicht an
deren Wahrheitsgehalt.
AP: Welche Auswirkung können diese Dokumente auf die Forschung über
den Völkermord an den Armeniern haben? Gibt es noch wissenschaftliche
Zweifel an der planmäßigen Ausführung? Die Türkei spricht bis heute
offiziell von einzelnen Massakern und Übergriffen...
Gust: Auch die deutsche Reichsregierung sprach seinerzeit von
einzelnen Übergriffen örtlicher Behörden, aber das waren nur
Beschwichtigungen nach Innen, besonders gegenüber den deutschen
Christen. Die Gesamtheit der deutschen Dokumente zeichnet aber ein
sehr genaues Bild von der Planmäßigkeit des Völkermords, wenngleich
die deutschen Diplomaten die genaue zentrale Planung des Völkermords
durch eine spezielle Organisation nicht sogleich erfasst hatten. Wenn
dazu noch die Dokumente anderer Staaten hinzugezogen werden, kann von
wissenschaftlichen Zweifeln an der Faktizität des Völkermords an den
Armeniern nicht mehr die Rede sein.
AP: Von Hitler ist der Satz überliefert: »Wer redet heute noch von
der Vernichtung der Armeniern?« Gibt es eine direkte Verbindung von
der deutschen Beobachtung des Völkermords an den Armeniern zum von
Deutschen begangenen Holocaust?
Gust: Direkte Verbindungen vom Völkermord an den Armeniern zur Shoah
in dem Sinne, dass die Planer und Durchführenden des Holocaust sich
auf den Völkermord an den Armeniern bezogen, kenne ich - vom
Hitler-Zitat abgesehen - nicht. Indirekte Verbindungen sehe ich aber
sehr wohl. Antisemitismus und rassisches Denken war in der Kaiserzeit
schon sehr ausgeprägt, auch unter Diplomaten.
(Die Fragen stellte AP-Korrespondent Uwe Käding)
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