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  • =?UNKNOWN?Q?Todesm=E4rsche?= nach Aleppo / Death marches to Aleppo

    Der Spiegel, Deutschland
    Montag 18. April 2005


    Death Marches to Aleppo: In the first Genocide of the 20th century,
    th Turks killed more than a million Armenians


    Todesmärsche nach Aleppo

    von Klaus Wiegrefe

    Im ersten Genozid des 20. Jahrhunderts brachten Türken mehr als eine
    Million Armenier um.

    Garbis Hagopjan hasst Hunde, seit er mitansehen musste, wie
    streunende Tiere den Leichnam seines Vaters zerfleischten, der an
    Erschöpfung gestorben war. "Er hat mir alles an Essen gegeben, was er
    auftreiben konnte", sagt Garbis, "er hat sich geopfert, damit ich
    lebe."

    Der Junge war damals acht Jahre alt, vielleicht auch neun, so genau
    weiß er das nicht, denn die Familienpapiere sind verloren gegangen.
    Irgendwo auf dem langen Weg zwischen seinem armenischen Heimatdorf
    Çalgara bei Bursa in der Westtürkei und Mossul im heutigen Irak -
    einem Todesmarsch, der ihn und seine Familie während des Ersten
    Weltkriegs quer durch das Osmanische Reich geführt hat.

    Die Leidensgeschichte der Hagopjans begann im Frühjahr 1915, als
    türkische Uniformierte in Çalgara auftauchten und den Armeniern des
    Ortes befahlen, sich auf einen Abtransport vorzubereiten. Auch die
    Hagopjans mussten sich fertig machen.

    Garbis ging schon zur Schule, daran kann er sich erinnern - und
    daran, dass er nach dem mehrtägigen Marsch zum Sammelplatz in Kütahya
    die ersten Toten gesehen hat: verhungerte oder verdurstete Armenier.
    Niemand kümmerte sich um die Tausende Deportierten, die aus der
    ganzen Umgebung auf freiem Feld zusammengetrieben wurden.

    Schon bald ließen die Häscher Marschkolonnen bilden. Dann ging es bei
    glühender Hitze mehrere Wochen über staubige, baumlose Wege und
    Gebirgspfade Richtung Südosten. Der Elendszug, in dem die Familie
    Hagopjan mitlief, war einige hundert Meter lang. Jeden Tag wurde er
    kürzer. Wer nicht mitkam, verendete auf der Straße.

    Schreckliche Szenen prägten sich dem Jungen ein: Überfälle von Türken
    und Kurden, welche die Vertriebenen ausplünderten; Tritte gegen
    schwangere Frauen, die dann ihre Föten verloren; die Trennung von
    Mutter und Schwester, als türkische Gendarme vor Aleppo im heutigen
    Syrien den Zug teilten. Garbis hat sie nie wiedergesehen.

    Immerhin schafften es er, sein Vater und eine weitere Schwester bis
    in die Gegend um Mossul. Dort wurden sie auf arabische Dörfer
    verteilt, doch nur der Junge überlebte die Strapazen. Eine arabische
    Familie nahm ihn als Diener auf.

    Erst als 1918 Amerikaner, Briten und Franzosen das Osmanische Reich -
    während des Ersten Weltkriegs Bündnispartner Kaiser Wilhelms II. -
    besiegt hatten, endete Hagopjans Leidensweg. Die Ankunft indischer
    Kavalleristen des Empires in Mossul, die Bonbons in die Menge warfen,
    zählt bis heute zu den schönsten Momenten in seinem langen Leben.

    Garbis Hagopjan wohnt in Paris und muss in diesen Tagen oft das
    Erlebte berichten. Denn er gehört zu den wenigen, die den ersten
    großen Genozid des 20. Jahrhunderts noch bezeugen können: die Tötung
    der Armenier im Osmanischen Reich vor 90 Jahren.

    Die jungtürkische Bewegung aus westlich orientierten Mili-

    tärs und Beamten um Kriegsminister Enver Pascha sowie den
    Innenminister und späteren Großwesir Talaat Pascha träumte von einer
    Großtürkei ohne bedeutende ethnische Minderheiten. Und gnadenlos
    setzten die Jungtürken diesen Traum in die Wirklichkeit um.

    Am Abend des 24. April 1915 verhafteten Polizisten in Konstantinopel,
    wie Istanbul damals hieß, 235 armenische Politiker, Journalisten,
    Bankiers, Intellektuelle - für die Armenier seither der Tag des
    Gedenkens an den Beginn des Völkermords. Die Männer wurden in rote
    Militärbusse geprügelt, am nächsten Tag aus der Hauptstadt gefahren
    und fast alle erschlagen. Offenkundig wollten Enver und Talaat
    zunächst die Führung der Minderheit ausschalten.

    Wohl knapp zwei Millionen der gregorianisch-orthodoxen Christen
    lebten 1915 im Bosporus-Imperium. Die meisten arbeiteten als Bauern
    und Handwerker in Anatolien, wo Armenier seit über 3000 Jahren
    siedelten. Einige hunderttausend waren auch im Laufe der Jahrhunderte
    in die Küstenregionen abgewandert und trieben dort Handel. Doch am
    Ende des Ersten Weltkriegs, drei Jahre später, gab es in den
    zentralen Siedlungsgebieten keine Armenier mehr.

    Was mit ihnen geschah, haben nicht nur Überlebende, sondern auch
    Krankenschwestern, Techniker, Diplomaten oder deutsche Offiziere
    bezeugt, die dem türkischen Bündnispartner als Militärberater
    dienten.

    W. Spieker etwa, der bei der Bagdad-Bahn beschäftigt war, berichtete
    am 27. Juli 1915 dem deutschen Konsul in Aleppo: "In Besniye ist die
    ganze Bevölkerung von circa 1800 Frauen und Kindern und nur wenigen
    Männern ausgewiesen; sie sollten angeblich nach Urfa abtransportiert
    werden. Am Göksu ... mussten sie sich auskleiden, wurden sämtlich
    niedergemacht und in den Fluss geworfen."

    Schwester Alma Johansson vom Waisenhaus des "Deutschen Hülfsbundes
    für christliches Liebeswerk im Orient" notierte im Herbst 1915 über
    die Deportationen in Mus: "Wo alle aus unseren Häusern fort waren,
    bekamen wir zwei Gendarmen zum Schutz, diese erzählten uns alle
    dieselben haarsträubenden Geschichten. Die Männer, die noch lebendig
    eingefangen wurden, wurden gleich außerhalb der Stadt erschossen. Die
    Frauen wurden mit den Kindern nach den nächsten Dörfern gebracht, zu
    Hunderten in Häuser getan und verbrannt."

    Der deutsche Konsul Wilhelm Litten schrieb auf, was er am 31. Januar
    1916 auf der Straße zwischen Deir al-Sor und Tibni im heutigen Syrien
    sah:

    2 Uhr: 5 frische Gräber. Rechts: ein bekleideter Mann.
    Geschlechtsteil entblößt.

    2.05 Uhr: Rechts: 1 Mann, Unterleib und blutendes Geschlechtsteil
    entblößt.

    2.07 Uhr: Rechts: 1 Mann in Verwesung.

    2.08 Uhr: Rechts: 1 Mann, vollkommen bekleidet, auf dem Rücken, Mund
    weit aufgerissen, Kopf nach hinten gestemmt, schmerzentstelltes
    Gesicht.

    2.10 Uhr: 1 Mann, Unterkörper bekleidet, Oberkörper angefressen.

    2.25 Uhr: Links am Wege: 1 Frau, auf dem Rücken liegend, Unterkörper
    angefressen, nur die blutigen Schenkelknochen ragen noch aus dem
    Tuch.

    Es sind Szenen, wie sie heutzutage aus Bosnien oder Ruanda bekannt
    sind: Flüsse führten Tausende aufgedunsener Körper mit sich; in
    abgelegenen Schluchten verwesten Leichen in Massengräbern, die
    Gebeine säumten auf Hunderten von Kilometern die Wegränder.

    Schon Zeitgenossen empfanden das Vorgehen der Führung in
    Konstantinopel um den intelligenten und skrupellosen Talaat, der sich
    vom Angestellten eines Telegrafenamts hochgearbeitet hatte, als Bruch
    mit der Zivilisation. Der spätere britische Premierminister Winston
    Churchill, 1915 Kriegsmarineminister, sprach von einem "schändlichen
    Massenmord".

    Das 20. Jahrhundert hatte mit großer Aufbruchstimmung begonnen. Die
    Menschen glaubten an eine goldene Zukunft voller Fortschritt und
    Wohlstand. Der Genozid an den Armeniern trug dazu bei, dass dieser
    Optimismus verloren ging. Dem ebenfalls bei der Bagdad-Bahn
    angestellten Ingenieur Linsmeyer kamen die Tränen, als er in Ras
    al-Ain anderthalbtausend halbverhungerte Frauen und Kinder bei über
    40 Grad schutzlos in der Sonne liegen sah: "Ich hielt es nicht für
    möglich, dass in unserem Jahrhundert so etwas passieren könne."

    Das gleiche "Nie wieder", das sich die Überlebenden des
    Konzentrationslagers Buchenwald 1945 schworen, war auch schon nach
    der Armenierverfolgung zu vernehmen. Der polnische Jurist Raphael
    Lemkin entwarf nach diesem Völkermord ein Gesetz "gegen die
    Zerstörung nationaler, religiöser und rassischer Gruppen", doch die
    Anregung blieb ohne Echo. Erst nach dem Holocaust fand Lemkin - von
    ihm stammt das Kunstwort Genozid, zusammengesetzt aus dem
    griechischen "genos" ("Geschlecht") und dem lateinischen "caedere"
    ("töten") - Gehör. 1948 wurde aus seinem Entwurf die Uno-Konvention
    über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords abgeleitet, heute
    Grundlage etwa für die Verfahren vor dem internationalen
    Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gegen Slobodan Milosevic und
    andere Täter, die in Jugoslawien wüteten.

    Womöglich war der Mord an den Armeniern sogar das Schlüsselereignis
    des durch Völkermorde geprägten 20. Jahrhunderts. Denn die
    Zeitgenossen registrierten genau, dass die meisten Verbrechen an den
    Armeniern nicht geahndet wurden. Unter dem Druck der siegreichen
    Alliierten verurteilten zwar türkische Gerichte 17 der
    Hauptverantwortlichen um Talaat zum Tode, doch fast alle entzogen
    sich der Strafe durch Flucht. Einige wurden später sogar Minister.

    Die Bewunderung der Nationalsozialisten für die Jungtürken war
    jedenfalls groß. NS-Chefideologe Alfred Rosenberg lobte sie 1926 als
    treue Verbündete und schmähte die Opfer. Diese wären - wie auch die
    Juden - den Mittelmächten während des Ersten Weltkriegs in den Rücken
    gefallen. Da seien "einige Härten nicht zu umgehen" gewesen. 1939
    soll Hitler bei einer Ansprache vor den Spitzen der Wehrmacht
    mögliche Einwände gegen den Massenmord an polnischen Zivilisten mit
    dem Hinweis "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"
    verworfen haben.

    Die jungtürkische Führung camouflierte den Genozid als kriegsbedingte
    Umsiedlung, bei der es nur wenige Tote gegeben habe, was deutsche
    Diplomaten schon damals als "krasse Lügen" bezeichneten. Armenische
    Männer wurden meist vor Ort umgebracht, die Überlebenden gemeinsam
    mit Frauen und Kindern zunächst nach Aleppo und dann in die syrische
    und mesopotamische Wüste deportiert. Ungefähr 200 000 Menschen fielen
    dort Massenhinrichtungen zum Opfer. Weitere 400 000 verendeten auf
    den Todesmärschen oder in Lagern unter freiem Himmel.

    Nach der militärischen Niederlage gab das türkische Innenministerium
    die Zahl der Opfer mit 800 000 an. Die deutsche Botschaft in
    Konstantinopel ging von knapp doppelt so vielen Toten aus, und so
    sehen es die Armenier bis heute.

    Dabei hatte das Osmanische Reich jahrhundertelang religiöse
    Minderheiten besser behandelt, als es die europäischen Imperien
    taten. Gleiche Rechte erhielten Christen und Juden freilich nie. Dass
    diese Gruppen dennoch vom wirtschaftlichen Aufschwung besonders
    profitierten und teilweise ganze Wirtschaftszweige dominierten,
    machte sie zusätzlich unbeliebt. Schon bei Pogromen im letzten
    Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts starben mindestens 200 000 Armenier.

    Die europäischen Rivalen der Hohen Pforte, insbesondere Russland, wo
    vor dem Ersten Weltkrieg etwa eine Million Armenier lebte, nutzten
    die Unterdrückung der Christen, um das marode Osmanische Reich weiter
    zu schwächen. Bald galt die armenische Minderheit als fünfte Kolonne
    Moskaus.

    Eine Lösung für die sogenannte armenische Frage schien sich erst
    anzubahnen, als die Jungtürken 1908 die Macht übernahmen. Viele der
    späteren Massenmörder hatten zuvor - während des Sultanats - im
    französischen Exil gelebt. Die nach der Pariser Zeitschrift "La Jeune
    Turquie" benannte Bewegung wollte das Osmanische Reich durch
    Modernisierung nach westlichem Vorbild retten. Gegenüber Forderungen
    der Armenier nach Selbstverwaltung zeigten sich die Jungtürken
    zunächst aufgeschlossen.

    Doch zwischen 1908 und 1913 mussten die selbsternannten Reformer fast
    den gesamten europäischen Teil des Reichs abtreten: Bulgarien,
    Bosnien-Herzegowina und Kreta; die dort lebenden Muslime wurden
    massenhaft vertrieben. Die durchaus begründete Angst, dass der Zar
    nun auch noch die armenische Frage nutzte, um Anatolien abzuspalten,
    ließ Untergangsstimmung aufkommen.

    Jetzt entfaltete das andere Erbe seine Wirkung, das die Exilanten aus
    Westeuropa mitgebracht hatten: der Traum vom ethnisch homogenen
    Nationalstaat. Das Gefühl griff um sich, berichtete die jungtürkische
    Schriftstellerin Halide Edip Adivar später, "die Türken müssten
    andere ausrotten, um ihrer eigenen Ausrottung zuvorzukommen".

    Jungtürkische Ideologen propagierten zudem einen Staat aller
    Turkvölker zwischen Thrakien im Westen und China im Osten. Da störten
    die Armenier, deren Siedlungsgebiete beiderseits der
    osmanisch-russischen Grenze sich wie ein Riegel durch die
    muslimischen Gebiete schoben.

    "Wir haben den Balkan verlassen und müssen uns zum Osten ausdehnen",
    erklärte später der türkische General Mehmed Vehib gegenüber
    Armeniern, "unsere Brüder sind in Daghestan, Turkestan und
    Aserbaidschan. Ihr Armenier steht uns da im Weg. Ihr müsst weichen
    und uns den Raum geben."

    Die Historiker streiten, ob es schon vor dem Ersten Weltkrieg einen
    zentralen Beschluss gegeben hat, die Armenier umzubringen. Anzeichen
    dafür gibt es. So bezeichneten Jungtürken intern die Armenier als
    "Tumoren" oder "Seuchenherde", die es zu beseitigen gelte.

    Doch viele Unterlagen sind verschwunden. Die wichtigen Entscheidungen
    wurden von wohl einem Dutzend Männer im Zentralkomitee der
    jungtürkischen Partei getroffen.

    Manche Wissenschaftler meinen, dass zunächst eine Vertreibung, wie
    sie im Weltkrieg auch der Zar mit den Juden in seinem Reich
    praktizierte, nicht aber ein Genozid geplant gewesen sei. Die Türken
    hatten im Laufe der Geschichte des Osmanischen Reichs immer wieder
    ethnische Minderheiten aus strategisch wichtigen Gebieten
    ausgesiedelt. Die ersten opferreichen Vertreibungen von Armeniern im
    Herbst 1914 und die Entwaffnung armenischer Soldaten scheinen noch
    von solchen Erwägungen bestimmt gewesen zu sein.

    Im Frühjahr 1915 spitzte sich die militärische Lage jedoch zu. Im
    Osten flohen die osmanischen Truppen vor der zaristischen Armee, am
    19. Februar 1915 begann dann der Angriff der Briten auf die
    Dardanellen; der Fall Konstantinopels schien unmittelbar
    bevorzustehen. In der Hauptstadt standen bereits Züge für eine Flucht
    Talaats bereit.

    Die Panik erwies sich als unbegründet; das Kriegsglück wendete sich
    bald wieder. Aber die Hysterie gab Verschwörungstheorien Auftrieb,
    denen zufolge die Armenier mit dem Feind paktierten.

    Obwohl nur eine kleine Minderheit der Armenier gegen die osmanische
    Herrschaft aufbegehrte, Waffenlager anlegte und als Freiwillige auf
    russischer Seite kämpfte, steigerte sich der Hass der türkischen
    Elite auf die Armenier "zu einer Obsession", so die Wissenschaftler
    Hans-Lukas Kieser und Dominik Schaller. Man müsse "vor dem inneren
    Feind genauso viel Angst haben wie vor dem äußeren", erklärte
    Bahaeddin S~akir, einer der Organisatoren des Genozids. Er ließ die
    Opfer nun auch aus strategisch unwichtigen Gebieten deportieren und
    umbringen.

    Die Durchführung des Massenmords übernahm die sogenannte
    Spezialorganisation, eine paramilitärische Einheit aus etwa 30 000
    Sträflingen, Kurden und Türken, die aus den ehemals osmanischen
    Gebieten in Europa vertrieben worden waren. Die Männer unterstanden
    der Armee und wurden von Offizieren oder Parteisekretären der
    Jungtürken angeleitet. Reguläre Armee-Einheiten und kurdische Stämme
    unterstützten die Paramilitärs.

    Wie weit der Genozid bis in die Einzelheiten von der
    Regierungszentrale geplant war und wann er sich aus der jeweiligen
    Situation vor Ort entwickelte, ist nicht mit letzter Sicherheit zu
    klären. Ein Transport mit einigen tausend Armeniern aus Erzurum wurde
    zunächst von 300 Soldaten ins 200 Kilometer entfernte Kemah geführt.
    Dort präsentierte ein Offizier eine Liste mit 200 Namen; er ließ die
    Betreffenden abseits führen und von Angehörigen der
    Spezialorganisation umbringen. Alle anderen mussten den Weg
    fortsetzen.

    Dann, 150 Kilometer weiter südlich, übergaben die Militärs den Zug
    einigen Kurdenführern. Sie brachten die Deportierten in die Berge und
    massakrierten alle Männer, die nicht kurdisch sprechen konnten. Der
    Rest zog mit den Frauen weiter. Ein Großteil erlag schließlich den
    Strapazen.

    Anders als die Nazis, die jüdische Kinder ebenso ermordeten wie zum
    Christentum übergetretene Juden, ließen Türken und Kurden häufig die
    verschleppten und später zwangsislamisierten Kinder und Frauen am
    Leben - meist um sie auszubeuten. Gendarmen, welche die
    Deportationsmärsche begleiteten, verkauften junge Frauen an Kurden
    oder in türkische Harems. Aus Kemah bezeugten Rot-Kreuz-Mitarbeiter,
    dass die Deportierten am Ortseingang halten mussten und Türken kamen,
    um sich Kinder zu holen. Es sei der "reine Sklavenmarkt" gewesen, nur
    "dass nichts gezahlt wurde".

    Immerhin überlebten vor allem Kinder auf diese Weise den Genozid.

    Dass die Jungtürken nicht mit jener rassistischen Radikalität und mit
    der Rationalität des modernen Industriestaates mordeten, die den
    Holocaust zu einem einzigartigen Verbrechen macht, ist aufgeklärten
    türkischen Historikern wichtig. An der moralischen Bewertung ändert
    es freilich nichts, denn viele Türken und Kurden profitierten vom
    Genozid - ähnlich wie auch Deutsche vom Holocaust. Die Versteigerung
    zurückgelassener Kleidung, etwa gebrauchter Kinderschuhe, erinnert
    fatal an Auktionen im ausgebombten Hamburg, auf denen
    Wohnungseinrichtungen deportierter Juden veräußert wurden.

    Die Jungtürken hatten festgelegt, dass die Armenier bewegliche Habe
    mit sich führen durften. Viele Christen versuchten daher, Häuser oder
    Mobiliar zu verkaufen, und ihre Nachbarn nutzten die Notlage zur
    großen Schnäppchenjagd. Die osmanische Zentralregierung, die
    örtlichen Eliten und das einfache Volk lieferten sich einen
    regelrechten Kampf um das Eigentum der Armenier, so der
    Genozid-Experte Christian Gerlach.

    Auf den Todesmärschen ging der Raub dann weiter. Garbis Hagopjan
    berichtet, dass sein Zug von der Bevölkerung in den Dörfern, die sie
    passierten, wie von Aasgeiern geplündert wurde. Vielfach
    verstümmelten die Täter ihre Opfer, weil sie vermuteten, diese hätten
    Gold oder Schmuck verschluckt oder in Körperöffnungen versteckt.

    Über den Wert des entwendeten armenischen Eigentums liegen nur
    Schätzungen vor. Einer Angabe für die Versailler Friedenskonferenz
    zufolge belief sich die Summe auf umgerechnet bis zu fünf Milliarden
    Euro.

    Eine Kollektivschulddebatte ist den Türken allerdings bis heute
    erspart geblieben. Genozid-Experten wie der Bochumer Wissenschaftler
    Mihran Dabag gehen jedoch davon aus, dass die Todesmärsche "nur
    möglich waren angesichts einer hohen gesellschaftlichen Breite der
    ausführenden und planenden Täter". Für die Akzeptanz des Genozids
    unter der türkischen Bevölkerung sprechen auch die jetzt von dem
    ehemaligen SPIEGEL-Redakteur Wolfgang Gust herausgegebenen deutschen
    Türkei-Akten aus dem Ersten Weltkrieg*.

    Für Ankara sind sie eine besonders unangenehme Quelle, denn niemand
    kann es als armenische Propaganda abtun, wenn beispielsweise der
    deutsche Vizekonsul in Mossul, Walter Holstein, beobachtete, dass
    Gendarmeriepatrouillen in Diyarbakir und Mardin die Bevölkerung
    aufriefen, die Armenier umzubringen. An der ganzen Strecke südlich
    Nusaibins, fährt Holstein fort, habe er "alle Muhamedaner mit krummen
    Schwertern herumlaufen sehen. 'Ermen' ('Armenier') war ihr einziger
    Gedanke".

    Weiter westlich wurde der Bagdad-Bahn-Beamte Spieker - ebenfalls ein
    zuverlässiger Beobachter - Zeuge, wie "täglich Armenier von der
    Civilbevölkerung umgebracht wurden, deren Leichname tagelang in
    Abzugsgräben ... liegen blieben".

    Auch Massenvergewaltigungen waren Teil des großen Leidenszugs. Ein
    von deutschen Beamten als glaubwürdig eingeschätzter Armenier gab an,
    dass unter den Frauen der in Aleppo eintreffenden Kolonnen etwa jede
    vierte "von den sie begleitenden Gendarmen, von Kurden und Türken,
    tags oder nachts mit Gewalt beiseite gezogen und vergewaltigt worden"
    sei. Von einigen Deportationszügen ist bekannt, dass in so gut wie
    jedem Dorf, das die Armenier passierten, Einwohner die Frauen
    schändeten.

    Mitleid und Zivilcourage von Kurden, Türken und Arabern sind freilich
    ebenfalls zahlreich belegt. Viele Überlebende berichteten später,
    dass Familien sie versteckten, obwohl es ungleich gefährlicher für
    Muslime war, sich dem Genozid an den Christen zu widersetzen, als für
    die Deutschen im "Dritten Reich", einem Juden beizustehen. Wer half,
    riskierte den Verlust des Hauses oder sein Leben. Talaat ließ sogar
    Gouverneure oder Landräte umbringen, wenn sie Deportationsbefehle
    nicht befolgten.

    Von ihren Kindern mussten sich die Überlebenden später fragen lassen,
    warum sie sich nicht gewehrt haben. Schließlich begleitete zumeist
    nur eine Hand voll Gendarmen die Elendstrecks. Der Widerstand einiger
    armenischer Dörfer, den der deutsche Schriftsteller Franz Werfel in
    seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" beschrieb, war
    jedenfalls die Ausnahme.

    Hagopjan erinnert sich, dass die Menschen in seinem Zug "wie Lämmer"
    gewesen seien - auf dem Weg zur Schlachtbank. Aber wohin hätten die
    Familien mit Kindern, Alten, Kranken fliehen sollen, die unbewaffnet
    und geschwächt durch Wüsten und Bergzüge stolperten, die sie nicht
    kannten?

    Ab Frühsommer 1915 gab es nur noch eine Macht, welche den Genozid
    wohl hätte verhindern können: das Deutsche Reich.

    Der wichtigste Bündnispartner des Osmanischen Imperiums hatte 1882
    damit begonnen, Militärhilfe zu leisten und die Armee zu
    modernisieren. Fast 800 Offiziere und mehrere tausend Soldaten
    dienten während des Ersten Weltkriegs in der türkischen Armee. "Was
    sie (die Türken) leisten, ist unser Werk, (sind) unsere Offiziere,
    unsere Geschütze, unser Geld", urteilte der Berliner Botschafter in
    Konstantinopel, Paul Graf Wolff Metternich, "ohne unsere Hilfe fällt
    der geblähte Frosch in sich selbst zusammen."

    Der Diplomat drängte denn auch die kaiserliche Regierung in Berlin,
    dem Morden ein Ende zu setzen. Doch Wilhelm II. wollte keinen Ärger
    mit dem Verbündeten. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg
    schrieb auf Wolff Metternichs Eingabe: "Unser einziges Ziel ist, die
    Türkei bis zum Ende des Kriegs an unserer Seite zu halten,
    gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht."

    Die türkischen Täter haben während des Kriegs und danach versucht,
    den Deutschen die Hauptverantwortung zuzuschieben. Jungtürken
    verbreiteten, dass die Deutschen "die Massakres wünschten",
    beobachteten Wolff Metternich und andere Diplomaten.

    Einzelne Offiziere haben in der Tat der Deportation von Armeniern aus
    dem Kriegsgebiet zugestimmt, einige Militärs begrüßten sogar den
    Genozid. Das Vorgehen sei "hart, aber nützlich", urteilte Hans
    Humann, der deutsche Marineattaché in Konstantinopel und ein Freund
    Envers.

    Am schwersten wiegt, dass sich Offiziere - als Teil der osmanischen
    Streitkräfte - am Morden beteiligten. Oberstleutnant Böttrich etwa
    zeichnete als Chef der Eisenbahnabteilung im osmanischen
    Generalhauptquartier mindestens einen Deportationsbefehl ab. Major
    Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg kartätschte mit von
    Deutschland gelieferten Feldhaubitzen das Armenierviertel von Urfa
    zusammen.

    Doch bislang liegt kein glaubwürdiger Beleg vor, dass die Führung des
    Deutschen Reichs die Jungtürken drängte, in einer 2500 Kilometer
    entfernten Region eine christliche Minderheit umzubringen. Und
    antiarmenische Äußerungen und Ausdrücke des Mitgefühls in den
    internen deutschen Papieren halten sich nach Ansicht von Experten
    ungefähr die Waage.

    Nach Kriegsende halfen Berliner Behörden allerdings zahlreichen
    Jungtürken bei der Flucht vor den siegreichen Alliierten.
    Innenminister Talaat - "die Seele der Armenierverfolgungen"
    (Botschafter Wolff Metternich) - versteckte sich mitten in der
    Reichshauptstadt. Der türkischen Schriftstellerin Edip Adivar
    vertraute er an, er sei "bereit zu sterben für das, was ich getan
    habe, und ich weiß, dass ich dafür sterben werde". 1921 erschoss ihn
    ein junger Armenier auf der Hardenbergstraße.

    Dem Attentäter wurde der Prozess gemacht, zur allgemeinen
    Überraschung sprach das Berliner Gericht den Angeklagten frei.

    Im Verhandlungssaal saß damals ein Jurastudent jüdischer Herkunft
    namens Robert Kempner und verfolgte aufmerksam das Geschehen. Kempner
    schrieb später, in dem Verfahren sei zum ersten Mal der Grundsatz zur
    Anwendung gekommen, dass "Völkermord durchaus von fremden Staaten
    bekämpft werden könne und keine unzulässige Einmischung in die
    inneren Angelegenheiten" sei.

    Als die Nazis an die Macht kamen, musste Kempner in die USA
    emigrieren. 1945 kehrte er zurück - als stellvertretender
    Chefankläger der Amerikaner beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess.
    KLAUS WIEGREFE

    Flucht vor der Geschichte

    Auch 90 Jahre nach dem Beginn des Völkermordes an den Armeniern
    stellt sich die Türkei nicht ihrer blutigen Vergangenheit. Wer
    öffentlich eingesteht, dass türkische Sonderkommandos zwischen 1915
    und 1916 auf Befehl der Regierung mehr als eine Million Mitglieder
    der christlichen Minderheit auf den Deportationsmärschen von
    Anatolien in den Nahen Osten umbrachten, riskiert noch heute, vor
    Gericht gezerrt zu werden, wie etwa der Schriftsteller Orhan Pamuk.
    In der anatolischen Stadt Kayseri muss er sich wegen "grundloser
    Vorwürfe gegen die türkische Identität, das türkische Militär und die
    Türkei als Ganzes" verantworten, weil er dazu aufgerufen hat, das
    Schweigen zu brechen. Das im Namen einer ethnisch homogenen Nation
    begangene Verbrechen wird auch heute noch von rechten wie linken
    Nationalisten kleingeredet. Die Vorwürfe des Völkermordes entbehrten
    jeder Grundlage und verletzten "die Gefühle der türkischen Nation",
    klagte Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer. In der Geschichte der
    Türkei gebe es kein Kapitel, "für das wir uns schämen müssten",
    meinte Ministerpräsident Tayyip Erdogan vorige Woche. Wo immer
    derzeit an den Massenmord erinnert wird, versuchen türkische
    Funktionäre, das Gedenken zu unterbinden. So intervenierte der
    türkische Generalkonsul Aydin Durusoy beim brandenburgischen
    Ministerpräsidenten Matthias Platzek, um einen Hinweis auf den
    Völkermord in einem Lehrplan zu tilgen. Als die Berliner
    CDU/CSU-Fraktion im Februar forderte, der Bundestag möge zum 24.
    April, an dem 1915 der Massenmord begann, der armenischen Opfer
    gedenken, protestierte der türkische Botschafter Mehmet Ali
    Irtemcelik. Womöglich wird der Bundestag in dieser Woche über die
    Verbrechen debattieren, über die Schuld der Verantwortlichen aber
    nicht abstimmen. Eine Abstimmung wäre auch überflüssig: Historisch
    ist die Schuldfrage längst geklärt.

    GRAFIK: S. 130; Armenische Opfer eines Massakers (1915)
    S. 131; Demonstration türkischer Nationalisten*; OSMAN ORSAL, AP
    CORBIS
    Überlebender Hagopjan in Paris; ROBERT KLUBA
    S. 132; Deportation von Armeniern in Harput (1915); INFORMATIONS- U.
    DOKUMENTATIONSZENTRUM ARMENIEN,; BERLIN
    S. 134; Deportierte Armenier auf dem Todesmarsch in Syrien (1915);
    ARMIN T. WEGNER, WALLSTEIN VERLAG; GÖTTINGEN
    Minister Enver (1913); INTERFOTO
    S. 136; Verhungernde Armenier; INFORMATIONS- UND
    DOKUMENTATIONSZENTRUM ARMENIEN,; BERLIN
    Innenminister Talaat (1918); AKG
    S. 145; Köpfe hingerichteter Armenier, türkische; Offizielle
    Völkermord-Denkmal in Eriwan (2003); DPA
    S. 131; * Mit der Landesflagge als Protest gegen den EU-Beitritt der;
    Türkei am 12. Dezember 2004 in Istanbul.; S. 136; * Wolfgang Gust:
    "Der Völkermord an den Armeniern 1915/16.; Dokumente aus dem
    Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen; Amtes". Zu Klampen
    Verlag, Springe; 676 Seiten; 39,80 Euro.



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