"Die Türkei muß Genozid anerkennen"Turkey must recognize the Genocide
http://www.welt.de/data/2005/04/20/706977.html?s=2
" Die Türkei muß Genozid anerkennen"
Interview mit Armeniens Außenminister Oskanjan
von Aschot Manutscharjan
DIE WELT: Vor 90 Jahren, am 24. April 1915, begann der Genozid an den Armeniern
in der Osmanischen Türkei. Wie beurteilen Sie heute dieses Verbrechen?
Wardan Oskanjan: Es war der Beginn der schrecklichsten Kapitel in der Geschichte
des 20. Jahrhunderts. Aus politischen Motiven wollte ein Staat ein ganzes Volk
gezielt ausrotten. Die Jungtürkische Regierung versuchte im Schatten des Ersten
Weltkrieges, sich von der sogenannten armenischen Frage "zu befreien". Die
Armenier wollten indes nichts anderes, als in ihrer historischen Heimat frei zu
leben. Im Zuge des Völkermordes wurden 1,5 Millionen Armenier getötet,
Hunderttausende mußten aus ihren historischen Siedlungsgebieten fliehen.
DIE WELT: Warum vergessen die Armenier den Genozid nicht einfach?
Oskanjan: Fast jede armenische Familie hat Opfer zu beklagen. Es ist unsere
moralische Pflicht, unsere ermordeten Familienangehörigen nicht zu vergessen.
Gleichzeitig erinnern wir uns an unsere Geistlichen, Intellektuellen,
Politiker - an alle, die ausgerottet wurden. Vor allem wollen wir jedoch, daß
den Opfern wie den Nachgeborenen Gerechtigkeit widerfährt. Bis heute wird der
Völkermord ausgerechnet in dem Land nicht verurteilt, wo er beschlossen und
exekutiert wurde. Allein schon aus juristischen Gründen fordern wir, daß der Tod
der Ermordeten nachträglich registriert wird und die Verbrecher benannt werden.
DIE WELT: Ist die Anerkennung des Völkermords eine Vorbedingung für die Aufnahme
diplomatischer Beziehungen mit Ankara?
Oskanjan: Nein. Umgekehrt erwarten wir von der Türkei, daß sie uns ebenfalls
keine Vorbedingungen stellt. Im übrigen wird in der Türkei bis heute derjenige
strafrechtlich verfolgt, der den Begriff "Völkermord" im Zusammenhang mit dem
Völkermord an den Armeniern auch nur erwähnt.
DIE WELT: Warum streben Sie eine internationale Anerkennung des Genozids an?
Oskanjan: Die Armenier trauern nicht mehr allein um ihre Ermordeten. Die ganze
Welt erinnert sich inzwischen mit uns an dieses Verbrechen gegen die Menschheit.
Armenien wird den 90. Jahrestag des Beginns des Völkermords unter dem Motto
"Verhindern, Anerkennung und Erinnerung an die Opfer" begehen. Denn wir wollen
die universale Bedeutung des Verbrechens betonen. Uns geht es um die
kompromißlose Ächtung eines jeden Versuchs, ein Volk zu vernichten.
Internationale Institutionen, darunter das Europäische Parlament, haben die
Türkei aufgefordert, sich ihrer Geschichte zu stellen und sich mit der eigenen
Vergangenheit offensiv auseinanderzusetzen. Die schwarzen Seiten der türkischen
Geschichte bleiben virulent, solange sich die Türken nicht mit ihnen aussöhnen.
Dabei sollten sie denselben Mut aufbringen wie die Deutschen, die sich ihrer
Vergangenheit gestellt haben.
DIE WELT: Wie schätzen Sie die Bereitschaft der Türkei ein, den Völkermord
offiziell anzuerkennen?
Oskanjan: Inzwischen handelt es sich auch um einen Faktor der türkischen
Innenpolitik. Die Haltung und die allgemeine Bewertung von Völkermorden sagt
viel aus über das politische Wertesystem einer Gesellschaft. Es gibt erste
Anzeichen dafür, daß einige türkische Intellektuelle offen über die Tatsache des
Völkermords an den Armeniern sprechen und ihre Gesellschaft auffordern, für das
Verbrechen die Verantwortung zu übernehmen. Ich achte den Mut dieser Personen,
die versuchen, einen Weg für Versöhnung zu finden. Es ist ein wichtiges Signal,
das vor allem an die türkische Regierung gerichtet ist. Wir sind bereit, unseren
Teil der Strecke zu gehen. Wir warten bis heute, daß uns jemand entgegenkommt.
DIE WELT: Sollte Ankara vor Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen den Genozid
anerkennen?
Oskanjan: Der Beitrittsprozeß der Türkei zur EU kann zu Erfolgen in den
armenisch-türkischen Beziehungen führen, insbesondere was die Öffnung der Grenze
und die Anerkennung des Völkermords betrifft. Tatsache ist aber, daß die EU
Beitrittsverhandlungen mit einem Staat aufnehmen will, der seit mehr als einem
Jahrzehnt die Grenze nach Armenien blockiert und für deren Öffnung unannehmbare
Bedingungen stellt. Im Vergleich zu anderen EU-Beitrittskandidaten ist die
Türkei nicht reif, diese Verhandlungen zu führen. Wir sind beunruhigt, daß die
EU im Fall Türkei eine rein politische Entscheidung fällen wird.
DIE WELT: Was erwarten Sie von Brüssel?
Oskanjan: Wir hoffen, daß die Europäer die Türkei auf die Notwendigkeit
hinweisen, daß sie den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts offiziell
anerkennen muß. Zudem muß die EU deutlich machen, daß Grenzblockaden und die
Leugnung eines Genozids den Werten widersprechen, mit denen sich Europa in der
Welt präsentiert.
Die Fragen stellte Aschot Manutscharjan.
Artikel erschienen am Mi, 20. April 2005
© WELT.de 1995 - 2005
--Boundary_(ID_7fdSPyhUNbxFG1QJW8dWSg)--
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" Die Türkei muß Genozid anerkennen"
Interview mit Armeniens Außenminister Oskanjan
von Aschot Manutscharjan
DIE WELT: Vor 90 Jahren, am 24. April 1915, begann der Genozid an den Armeniern
in der Osmanischen Türkei. Wie beurteilen Sie heute dieses Verbrechen?
Wardan Oskanjan: Es war der Beginn der schrecklichsten Kapitel in der Geschichte
des 20. Jahrhunderts. Aus politischen Motiven wollte ein Staat ein ganzes Volk
gezielt ausrotten. Die Jungtürkische Regierung versuchte im Schatten des Ersten
Weltkrieges, sich von der sogenannten armenischen Frage "zu befreien". Die
Armenier wollten indes nichts anderes, als in ihrer historischen Heimat frei zu
leben. Im Zuge des Völkermordes wurden 1,5 Millionen Armenier getötet,
Hunderttausende mußten aus ihren historischen Siedlungsgebieten fliehen.
DIE WELT: Warum vergessen die Armenier den Genozid nicht einfach?
Oskanjan: Fast jede armenische Familie hat Opfer zu beklagen. Es ist unsere
moralische Pflicht, unsere ermordeten Familienangehörigen nicht zu vergessen.
Gleichzeitig erinnern wir uns an unsere Geistlichen, Intellektuellen,
Politiker - an alle, die ausgerottet wurden. Vor allem wollen wir jedoch, daß
den Opfern wie den Nachgeborenen Gerechtigkeit widerfährt. Bis heute wird der
Völkermord ausgerechnet in dem Land nicht verurteilt, wo er beschlossen und
exekutiert wurde. Allein schon aus juristischen Gründen fordern wir, daß der Tod
der Ermordeten nachträglich registriert wird und die Verbrecher benannt werden.
DIE WELT: Ist die Anerkennung des Völkermords eine Vorbedingung für die Aufnahme
diplomatischer Beziehungen mit Ankara?
Oskanjan: Nein. Umgekehrt erwarten wir von der Türkei, daß sie uns ebenfalls
keine Vorbedingungen stellt. Im übrigen wird in der Türkei bis heute derjenige
strafrechtlich verfolgt, der den Begriff "Völkermord" im Zusammenhang mit dem
Völkermord an den Armeniern auch nur erwähnt.
DIE WELT: Warum streben Sie eine internationale Anerkennung des Genozids an?
Oskanjan: Die Armenier trauern nicht mehr allein um ihre Ermordeten. Die ganze
Welt erinnert sich inzwischen mit uns an dieses Verbrechen gegen die Menschheit.
Armenien wird den 90. Jahrestag des Beginns des Völkermords unter dem Motto
"Verhindern, Anerkennung und Erinnerung an die Opfer" begehen. Denn wir wollen
die universale Bedeutung des Verbrechens betonen. Uns geht es um die
kompromißlose Ächtung eines jeden Versuchs, ein Volk zu vernichten.
Internationale Institutionen, darunter das Europäische Parlament, haben die
Türkei aufgefordert, sich ihrer Geschichte zu stellen und sich mit der eigenen
Vergangenheit offensiv auseinanderzusetzen. Die schwarzen Seiten der türkischen
Geschichte bleiben virulent, solange sich die Türken nicht mit ihnen aussöhnen.
Dabei sollten sie denselben Mut aufbringen wie die Deutschen, die sich ihrer
Vergangenheit gestellt haben.
DIE WELT: Wie schätzen Sie die Bereitschaft der Türkei ein, den Völkermord
offiziell anzuerkennen?
Oskanjan: Inzwischen handelt es sich auch um einen Faktor der türkischen
Innenpolitik. Die Haltung und die allgemeine Bewertung von Völkermorden sagt
viel aus über das politische Wertesystem einer Gesellschaft. Es gibt erste
Anzeichen dafür, daß einige türkische Intellektuelle offen über die Tatsache des
Völkermords an den Armeniern sprechen und ihre Gesellschaft auffordern, für das
Verbrechen die Verantwortung zu übernehmen. Ich achte den Mut dieser Personen,
die versuchen, einen Weg für Versöhnung zu finden. Es ist ein wichtiges Signal,
das vor allem an die türkische Regierung gerichtet ist. Wir sind bereit, unseren
Teil der Strecke zu gehen. Wir warten bis heute, daß uns jemand entgegenkommt.
DIE WELT: Sollte Ankara vor Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen den Genozid
anerkennen?
Oskanjan: Der Beitrittsprozeß der Türkei zur EU kann zu Erfolgen in den
armenisch-türkischen Beziehungen führen, insbesondere was die Öffnung der Grenze
und die Anerkennung des Völkermords betrifft. Tatsache ist aber, daß die EU
Beitrittsverhandlungen mit einem Staat aufnehmen will, der seit mehr als einem
Jahrzehnt die Grenze nach Armenien blockiert und für deren Öffnung unannehmbare
Bedingungen stellt. Im Vergleich zu anderen EU-Beitrittskandidaten ist die
Türkei nicht reif, diese Verhandlungen zu führen. Wir sind beunruhigt, daß die
EU im Fall Türkei eine rein politische Entscheidung fällen wird.
DIE WELT: Was erwarten Sie von Brüssel?
Oskanjan: Wir hoffen, daß die Europäer die Türkei auf die Notwendigkeit
hinweisen, daß sie den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts offiziell
anerkennen muß. Zudem muß die EU deutlich machen, daß Grenzblockaden und die
Leugnung eines Genozids den Werten widersprechen, mit denen sich Europa in der
Welt präsentiert.
Die Fragen stellte Aschot Manutscharjan.
Artikel erschienen am Mi, 20. April 2005
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