Die Türkei sieht sich immer noch als Opfer
Die Türkei sieht sich immer noch als Opfer
Ankara fordert die Ã-ffnung aller Archive, um die Wahrheit über
die "armenische Tragödie" herauszufinden
von Boris Kalnoky
In Eriwan hängt eine Fotowand mit Bildern von 90 noch lebenden
Zeitzeugen
Foto: dpa
Istanbul - Wer dem türkischen AuÃ=9Fenminister Abdullah Gül
lange genug zuhört, dem beginnt die Türkei leid zu tun. Eine
kleine Gruppe geistig verwirrter Menschen, die nicht mehr wissen, wer
sie sind, bringt das unschuldige Land mit bösartigen Lügen in
derartige politische Bedrängnis, daÃ=9F am Ende noch der ersehnte
EU-Beitritt darunter leiden könnte.
Die Irren, von denen die Rede ist, sind "gewisse Teile der armenischen
Diaspora", sagt Gül, "die an Schuldkomplexen und
Identitätsproblemen leiden". Sie, die groÃ=9Fe Worte schwingen,
um Gerechtigkeit für ihr Volk zu fordern, weigern sich selbst,
irgend etwas für ihr Volk zu tun: "Ihren ganzen Reichtum, den sie
im Westen erworben hatten, müÃ=9Ften sie nach Armenien bringen.
Sie müÃ=9Ften selbst in die Heimat zurückkehren, wie die
Juden das mit Israel machen", giftet Gül. Aber nein, die
Exil-Armenier sind zu geizig und bequem. Statt dessen verbreiten sie
Lügen über einen Völkermord, der, so Gül, nie
stattgefunden hat.
Am Sonntag gedenken die Armenier des groÃ=9Fen Sterbens, das vor 90
Jahren begann. Sie selbst und weite Teile der Weltöffentlichkeit
nennen es den ersten Völkermord der modernen Geschichte. Gül
und die türkische Regierung nennen es, wie alle türkischen
Regierungen seit den Greueltaten, neutral und ohne Schuldgefühle
eine "Tragödie".
Insbesondere Gül hat jedoch erkannt, daÃ=9F die Genozidfrage
allmählich zu einem ernsten diplomatischen Problem wird.
Europäische Länder und Politiker, die einen EU-Beitritt der
Türkei verhindern wollen, fordern als Vorbedingung ein
Schuldeingeständnis, das politischen Selbstmord für jede
türkische Regierung bedeuten würde. Die Armenier nutzen
ihrerseits die Gunst der Stunde und drängen die Parlamente der
Staaten immer erfolgreicher dazu, die Massaker von 1915 bis 1923
offiziell als "Völkermord" anzuerkennen.
Die Türkei hat bislang nie mehr als defensive Allgemeinheiten zu
der Debatte beigetragen. Es herrschte Krieg, die Armenier machten mit
dem Feind gemeinsame Sache, daher war die Regierung gezwungen, sie zu
deportieren, lautet die Argumentation. Der Rest sei eine Folge
unglücklicher Umstände gewesen - mörderische Angriffe der
Lokalbevölkerung gegen die Deportierten, mangelnde Hygiene und
versagende Bürokraten, die aber oft für ihre Haltung vor
Gericht zur Verantwortung gezogen, teilweise sogar hingerichtet worden
seien.
DaÃ=9F das nicht genügt, hat Gül erkannt. Er steht an der
Spitze einer neuen türkischen Kampagne, die die
Weltöffentlichkeit mit Fakten und Argumenten überzeugen will,
daÃ=9F zwar viel Blut vergossen wurde, aber kein Völkermord
stattgefunden hat. Zentrale StoÃ=9Frichtung dieser Strategie ist die
Forderung, "alle Archive zu öffnen". Dann werde man sehen, wer
recht hat.
Es ist ein geschickter Schachzug. Die Türkei hat wirklich ihre
Archive geöffnet, "sogar die Militärarchive", sagt Gül.
"Wir sind dabei vollkommen ehrlich. Wenn wir etwas verstecken oder
zerstören würden und erst dann die Historiker an die Dokumente
lassen, dann würden die Experten das sofort merken. Wir sind also
völlig offen in dieser Sache." Er fordert nun auch "Frankreich,
Deutschland und Armenien" auf, ihre Archive vorbehaltlos zu öffnen
und von Historikern auswerten zu lassen. Das richtet sich vor allem
gegen Armenien, das bislang offenbar keinen freien Zugang zu seinen
Archiven gewährt. Das zeigt die Türkei in gutem Licht, und
Armenien sieht so aus, als habe es etwas zu verbergen. Gül droht
nun gar, "wir werden versuchen, die Ã-ffnung der Archive zu
erzwingen".
Die türkischen Staatsarchive haben es ihrerseits mit der "Wahrheit"
so eilig, daÃ=9F sie gar nicht erst auf die Historiker warten.
Kürzlich wurde aus Archivquellen eine Liste von Massakern an
türkischen Zivilisten durch armenische Gruppen zusammengetragen.
Laut türkischen Medienberichten ergibt sich daraus die
atemberaubende Opferzahl von mehr als einer halben Million
türkischer Zivilisten. Nach herkömmlicher türkischer
Auffassung starben "nur" etwa 300 000 Armenier in jenen Jahren. Ein
Genozid nicht also an Armeniern, sondern an Türken?
Man muÃ=9F schon genau hinsehen, um die entscheidende Schwachstelle
der türkischen Taktik zu erkennen. Die Staatsarchive enthalten
wahrscheinlich wirklich keinen Hinweis darauf, daÃ=9F die Vernichtung
eines groÃ=9Fen Teiles der armenischen Bevölkerung Staatspolitik
war, weil die Staatsorgane nicht mit der Umsetzung des Völkermordes
betraut waren. Neutrale, der Türkei wohlgesinnte Historiker wie
Erik J. Zürcher (Turkey - a Modern History, 1993, jüngste
Ausgabe 2001) weisen darauf hin, daÃ=9F die Opferzahlen wohl irgendwo
zwischen den Angaben beider Lager liegen, vermutlich bei 600 000 bis 800
000 Menschenleben, und daÃ=9F weder der formale Verwaltungsapparat
noch das Militär Order hatten, die Armenier als Volk zu
liquidieren.
Ein "innerer Kreis" der damals regierenden Jungtürken unter Leitung
von Innenminister Talaat Pascha habe jedoch vermutlich sehr wohl
beabsichtigt, die Armenier unter dem Deckmantel der Deportationen
auszurotten. Mit der Umsetzung seien jedoch weder Staat noch
Militär, sondern die ideologisch verläÃ=9Flicheren internen
Parteistrukturen betraut worden, vor allem die sogenannte
Spezialorganisation, ein ZusammenschluÃ=9F jungtürkischer
Offiziere, die in vielen Konflikten im In- und Ausland bereits als
Untergrundorganisation gewirkt hatten. Und hier kommt der springende
Punkt: Die Archive dieser Organisation sind zerstört, und jene der
Jungtürken (das Komitee für Einheit und Fortschritt) gelten
als verloren.
Die Ã-ffnung der türkischen Staatsarchive sieht mithin sehr gut
aus, ist aber vermutlich irrelevant. Wenn es je türkische Dokumente
gab, die einen Genozid belegen, dann waren sie nie dort.
Artikel erschienen am Sa, 23. April 2005
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© WELT.de 1995 - 2005
From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress
Die Türkei sieht sich immer noch als Opfer
Ankara fordert die Ã-ffnung aller Archive, um die Wahrheit über
die "armenische Tragödie" herauszufinden
von Boris Kalnoky
In Eriwan hängt eine Fotowand mit Bildern von 90 noch lebenden
Zeitzeugen
Foto: dpa
Istanbul - Wer dem türkischen AuÃ=9Fenminister Abdullah Gül
lange genug zuhört, dem beginnt die Türkei leid zu tun. Eine
kleine Gruppe geistig verwirrter Menschen, die nicht mehr wissen, wer
sie sind, bringt das unschuldige Land mit bösartigen Lügen in
derartige politische Bedrängnis, daÃ=9F am Ende noch der ersehnte
EU-Beitritt darunter leiden könnte.
Die Irren, von denen die Rede ist, sind "gewisse Teile der armenischen
Diaspora", sagt Gül, "die an Schuldkomplexen und
Identitätsproblemen leiden". Sie, die groÃ=9Fe Worte schwingen,
um Gerechtigkeit für ihr Volk zu fordern, weigern sich selbst,
irgend etwas für ihr Volk zu tun: "Ihren ganzen Reichtum, den sie
im Westen erworben hatten, müÃ=9Ften sie nach Armenien bringen.
Sie müÃ=9Ften selbst in die Heimat zurückkehren, wie die
Juden das mit Israel machen", giftet Gül. Aber nein, die
Exil-Armenier sind zu geizig und bequem. Statt dessen verbreiten sie
Lügen über einen Völkermord, der, so Gül, nie
stattgefunden hat.
Am Sonntag gedenken die Armenier des groÃ=9Fen Sterbens, das vor 90
Jahren begann. Sie selbst und weite Teile der Weltöffentlichkeit
nennen es den ersten Völkermord der modernen Geschichte. Gül
und die türkische Regierung nennen es, wie alle türkischen
Regierungen seit den Greueltaten, neutral und ohne Schuldgefühle
eine "Tragödie".
Insbesondere Gül hat jedoch erkannt, daÃ=9F die Genozidfrage
allmählich zu einem ernsten diplomatischen Problem wird.
Europäische Länder und Politiker, die einen EU-Beitritt der
Türkei verhindern wollen, fordern als Vorbedingung ein
Schuldeingeständnis, das politischen Selbstmord für jede
türkische Regierung bedeuten würde. Die Armenier nutzen
ihrerseits die Gunst der Stunde und drängen die Parlamente der
Staaten immer erfolgreicher dazu, die Massaker von 1915 bis 1923
offiziell als "Völkermord" anzuerkennen.
Die Türkei hat bislang nie mehr als defensive Allgemeinheiten zu
der Debatte beigetragen. Es herrschte Krieg, die Armenier machten mit
dem Feind gemeinsame Sache, daher war die Regierung gezwungen, sie zu
deportieren, lautet die Argumentation. Der Rest sei eine Folge
unglücklicher Umstände gewesen - mörderische Angriffe der
Lokalbevölkerung gegen die Deportierten, mangelnde Hygiene und
versagende Bürokraten, die aber oft für ihre Haltung vor
Gericht zur Verantwortung gezogen, teilweise sogar hingerichtet worden
seien.
DaÃ=9F das nicht genügt, hat Gül erkannt. Er steht an der
Spitze einer neuen türkischen Kampagne, die die
Weltöffentlichkeit mit Fakten und Argumenten überzeugen will,
daÃ=9F zwar viel Blut vergossen wurde, aber kein Völkermord
stattgefunden hat. Zentrale StoÃ=9Frichtung dieser Strategie ist die
Forderung, "alle Archive zu öffnen". Dann werde man sehen, wer
recht hat.
Es ist ein geschickter Schachzug. Die Türkei hat wirklich ihre
Archive geöffnet, "sogar die Militärarchive", sagt Gül.
"Wir sind dabei vollkommen ehrlich. Wenn wir etwas verstecken oder
zerstören würden und erst dann die Historiker an die Dokumente
lassen, dann würden die Experten das sofort merken. Wir sind also
völlig offen in dieser Sache." Er fordert nun auch "Frankreich,
Deutschland und Armenien" auf, ihre Archive vorbehaltlos zu öffnen
und von Historikern auswerten zu lassen. Das richtet sich vor allem
gegen Armenien, das bislang offenbar keinen freien Zugang zu seinen
Archiven gewährt. Das zeigt die Türkei in gutem Licht, und
Armenien sieht so aus, als habe es etwas zu verbergen. Gül droht
nun gar, "wir werden versuchen, die Ã-ffnung der Archive zu
erzwingen".
Die türkischen Staatsarchive haben es ihrerseits mit der "Wahrheit"
so eilig, daÃ=9F sie gar nicht erst auf die Historiker warten.
Kürzlich wurde aus Archivquellen eine Liste von Massakern an
türkischen Zivilisten durch armenische Gruppen zusammengetragen.
Laut türkischen Medienberichten ergibt sich daraus die
atemberaubende Opferzahl von mehr als einer halben Million
türkischer Zivilisten. Nach herkömmlicher türkischer
Auffassung starben "nur" etwa 300 000 Armenier in jenen Jahren. Ein
Genozid nicht also an Armeniern, sondern an Türken?
Man muÃ=9F schon genau hinsehen, um die entscheidende Schwachstelle
der türkischen Taktik zu erkennen. Die Staatsarchive enthalten
wahrscheinlich wirklich keinen Hinweis darauf, daÃ=9F die Vernichtung
eines groÃ=9Fen Teiles der armenischen Bevölkerung Staatspolitik
war, weil die Staatsorgane nicht mit der Umsetzung des Völkermordes
betraut waren. Neutrale, der Türkei wohlgesinnte Historiker wie
Erik J. Zürcher (Turkey - a Modern History, 1993, jüngste
Ausgabe 2001) weisen darauf hin, daÃ=9F die Opferzahlen wohl irgendwo
zwischen den Angaben beider Lager liegen, vermutlich bei 600 000 bis 800
000 Menschenleben, und daÃ=9F weder der formale Verwaltungsapparat
noch das Militär Order hatten, die Armenier als Volk zu
liquidieren.
Ein "innerer Kreis" der damals regierenden Jungtürken unter Leitung
von Innenminister Talaat Pascha habe jedoch vermutlich sehr wohl
beabsichtigt, die Armenier unter dem Deckmantel der Deportationen
auszurotten. Mit der Umsetzung seien jedoch weder Staat noch
Militär, sondern die ideologisch verläÃ=9Flicheren internen
Parteistrukturen betraut worden, vor allem die sogenannte
Spezialorganisation, ein ZusammenschluÃ=9F jungtürkischer
Offiziere, die in vielen Konflikten im In- und Ausland bereits als
Untergrundorganisation gewirkt hatten. Und hier kommt der springende
Punkt: Die Archive dieser Organisation sind zerstört, und jene der
Jungtürken (das Komitee für Einheit und Fortschritt) gelten
als verloren.
Die Ã-ffnung der türkischen Staatsarchive sieht mithin sehr gut
aus, ist aber vermutlich irrelevant. Wenn es je türkische Dokumente
gab, die einen Genozid belegen, dann waren sie nie dort.
Artikel erschienen am Sa, 23. April 2005
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From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress