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Mythos Karabach: Armenien und Aserbaidschan zwischen Sobelrasseln...

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  • Mythos Karabach: Armenien und Aserbaidschan zwischen Sobelrasseln...

    Frankfurter Allgemeine Zeitung
    23. April 2005

    Mythos Karabach;
    Armenien und Aserbaidschan zwischen Säbelrasseln und
    Hoffnungsschimmer

    von Jasper von Altenbockum

    BAKU, im April

    Armenien und Aserbaidschan haben sich im Streit um Nagornyi Karabach
    auf eine Weise verkeilt, daß kaum noch ersichtlich ist, welches
    vernünftige Interesse sie eigentlich leitet. Die mehrheitlich von
    Armeniern bewohnte, in Aserbaidschan gelegene und seit Anfang der
    neunziger Jahre von armenischen Truppen besetzte Provinz - etwas
    größer als das Saarland, allerdings mit 100 000 Einwohnern eine recht
    dünn besiedelte und vom Krieg verheerte Region - ist noch immer so
    heftig umkämpft, daß zu Beginn dieses Jahres der Waffenstillstand zu
    scheitern drohte, der 1994 ausgehandelt worden war. Armenien
    beschuldigte Aserbaidschan, Gebiete zurückerobern zu wollen, die
    Armenien damals um die Provinz als "Pufferzone" erobert hatte und
    seither zusätzlich zur eigentlichen Provinz besetzt hält, unter
    anderem die Landstriche nördlich und südlich des Latschin-Korridors
    zwischen Nagornyi Karabach und Armenien. Der "Präsident" Nagornyi
    Karabachs, Ghoukassian, beschuldigt Aserbaidschan gar, mit
    Drohgebärden und Säbelrasseln die an Verhandlungen interessierten
    Länder erpressen zu wollen - erreiche die Regierung in Baku nicht
    bald, was es wolle, sei sie offenbar auf eine militärische Lösung
    vorbereitet. Das sei ein "gefährliches Spiel".

    Aserbaidschan hingegen bezeichnete die Scharmützel als das übliche
    Frühjahrsspektakel entlang der Demarkationslinie. Armenier seien
    mindestens ebenso schuld daran wie Aseris, nur daß in diesem Jahr die
    Regierung in Eriwan nach Jahren vergeblicher Versuche, die
    Unabhängigkeit der Provinz international anerkennen zu lassen,
    begriffen habe, daß daraus nichts werde und ihre Verhandlungsposition
    schwächer und schwächer zu werden drohe, sie also Grund zur
    Profilierung habe.

    Die aserische Version ist nicht ganz von der Hand zu weisen, was
    nicht unbedingt gegen die armenische spricht. In Armenien gebe es
    nichts, das nicht mit dem Karabach-Konflikt zu tun habe, heißt es aus
    der Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
    Europa (OSZE) in Eriwan, die sich formal damit nicht beschäftigen
    darf, aber aus ebenjenem Grund gar nicht anders kann.
    Demokratisierung, Verfassungsreform, Menschenrechte, wirtschaftliche
    Entwicklung - nichts geht ohne Rücksicht auf "Karabach" voran. Also
    geht so gut wie nichts voran in einem Land, für das der
    Karabach-Konflikt unter dem Eindruck des immer noch allgegenwärtigen
    Traumas der Vertreibung vor neunzig Jahren die Gestalt eines
    unheilvollen Nationalmythos und christlich-muslimischen
    Kulturkonflikts angenommen hat. Armenien und der herrschende
    "Karabach-Clan" um den aus Karabach stammenden Präsidenten
    Kotscharjan beharren auf einer Paketlösung, die mit einem
    Friedensabkommen zugleich auch den Status Karabachs - und das heißt
    für Eriwan: die Unabhängigkeit - festschreiben soll. Für Baku ein
    Ding der Unmöglichkeit.

    Armenien, isoliert zwischen den miteinander befreundeten Nachbarn
    Türkei und Aserbaidschan, kann sich nur auf zwei Verbündete stützen:
    seine Diaspora, die stärker ist als die Bevölkerung der alten Heimat,
    ohne deren finanzielle Unterstützung das Land längst ein "failing
    state" wäre - und Rußland. Russische Staatsfirmen kontrollieren die
    Energieindustrie Armeniens, und für Moskau ist Eriwan der letzte
    zuverlässige Partner, den es im Südkaukasus noch hat, wichtig auch
    als Brücke zu Iran. Auf Rußland und die Auslandsarmenier kann Eriwan
    auch in der "Minsk-Gruppe" bauen, die 1994 den Waffenstillstand
    aushandelte und seither versucht, im Auftrag der OSZE einen Frieden
    zustande zu bringen. Die Gruppe, die nach einem Verhandlungsort
    benannt ist, an dem sie sich nie getroffen hat, besteht aus Rußland
    sowie den Vereinigten Staaten und Frankreich - beides Länder mit
    einer stattlichen armenischen Diaspora.

    Die OSZE steht also nicht im Verdacht, armenische Interessen
    geringzuschätzen. Dennoch oder gerade deshalb ist es die OSZE unter
    slowenischem Ratsvorsitz, die den Druck auf Armenien jetzt verstärken
    will, einer Übereinkunft endlich zuzustimmen. Der slowenische
    Außenminister Rupel sprach Anfang April von ungeahnten Möglichkeiten,
    die es zu nutzen gelte - Möglichkeiten, die zumindest Eriwan bis
    dahin offenbar falsch verstanden hatte. Der Verdacht Bakus, Armenien
    nutze den Schwebezustand der Karabach-Diplomatie aus, um in den
    besetzten Gebieten Armenier anzusiedeln, wurde von einer eigens
    einberufenen OSZE-Mission der Minsk-Gruppe unter deutscher Führung zu
    Anfang des Jahres teilweise bestätigt, ohne daß Eriwan für die
    Siedlungspolitik - vornehmlich im Latschin-Korridor - ausdrücklich
    verantwortlich gemacht würde.

    Rupels Bemerkung zielte indessen auf die Hoffnung, Armenien müsse
    erkennen, daß sein Nachbar den längeren Atem habe. Aserbaidschan ist
    im Vergleich zu Armenien trotz der Karabach-Belastung aufgrund seiner
    Ölförderung geradezu ein blühendes Land, seine internationalen
    Kontakte ausbaufähig, seine an die Minsk-Gruppe lancierten Vorschläge
    für eine Karabach-Lösung deshalb vorerst auf Kompromisse angelegt,
    unter dem Vorbehalt, von Jahr zu Jahr könne die Bereitschaft nur
    sinken, das Fenster der Möglichkeiten offenzuhalten. Aserbaidschan
    wäre demnach bereit, sich auf Sicherheitsgarantien gegenüber einem
    autonomen Karabach und Armenien einzulassen, eine internationale
    Friedenstruppe zur Kontrolle der Karabach-Grenze ins Land zu holen
    und sich mit Armenien über den Latschin-Korridor zu einigen.

    Auf Zeit spielten Aserbaidschan und Armenien schon mehrere Male, als
    die Minsk-Gruppe sich fast am Ziel wähnte. Jeweils mußten die
    Machthaber in Baku oder Eriwan fürchten, sich "Verrat" vorwerfen zu
    lassen, weil jeweilige Maximalforderungen sich nicht erfüllen ließen
    und all jene enttäuscht werden mußten, für die der Konflikt und seine
    Konsequenzen - Kriegsopfer und Flüchtlinge auf beiden Seiten - ein
    Werkzeug ihres Machterhalts ist.

    Zuletzt scheiterte eine Einigung am Machtwechsel in Baku, wo sich
    Ilham Alijew nach dem Tod seines Vaters Haidar Ende 2003 in das
    Präsidentenamt wählen ließ und Wahlkämpfe bislang denkbar schlechte
    Gelegenheiten waren, die Karabach-Emotionen abzukühlen, zumal wenn
    sie so unfrei geführt werden wie in Aserbaidschan oder Armenien. In
    Armenien ließ sich Kotscharjan 2003 im Amt bestätigen - auch das war
    nicht die rechte Zeit, eine pragmatische Linie zu verfolgen. Eine von
    der Minsk-Gruppe vorgeschlagene Übereinkunft hätte damals armenische
    Korridorrechte nach Karabach und Transitrechte Aserbaidschans in
    dessen Exklave Nachitschewan in Armenien geregelt - nur der
    endgültige Status Karabachs blieb offen. Daran dürfte sich nichts
    ändern, sollten die Verhandlungen zwischen Kotscharjan und Alijew,
    wie von beiden Seiten zugesagt, demnächst fortgesetzt werden. Doch
    die Eriwaner Führung und Karabach-"Präsident" Ghoukassian pochen
    vorerst auf ebendieser Statusfrage, was für Armenien bedeutet, daß es
    nicht nur bilaterale Verhandlungen geben dürfe, sondern trilaterale -
    unter Einschluß der "Regierung" in Stepanakert.

    Alijew und Kotscharjan haben nicht endlos Zeit. Alijew sah sich
    kürzlich gezwungen, auf Druck der OSZE und des Europarats politische
    Gefangene freizulassen, wenige Monate vor den Parlamentswahlen im
    November. Bei den Wahlen will die Opposition dem Präsidenten eine
    Revanche für die Machtübernahme von 2003 bereiten - unter anderem mit
    dem Argument, Alijew sei nicht wirklich an einer Karabach-Lösung und
    einer Zukunftsperspektive für die Flüchtlinge gelegen, sondern nutze
    sie nur zur Unterdrückung Andersdenkender. Damals, Ende 2003, kam es
    zu gewaltsamen Protesten im ganzen Land und zu Straßenschlachten in
    Baku, Zustände, die auch Armenien drohen. Denn auch in Armenien wird
    eines Tages wieder gewählt, und Kotscharjan werden Bestrebungen
    nachgesagt, ein drittes Mal kandidieren zu wollen - nur eine vom
    Europarat und von der OSZE geforderte Verfassungsreform könnte ihn
    daran hindern, weshalb es mit der Reform nicht vorangeht, nicht nur
    mit dieser Reform. Für Kotscharjan und seine "Familie" wird die Frage
    immer bedrängender, was sie aus "ihrem" heruntergewirtschafteten Land
    eigentlich machen. Beide Autokraten haben die revolutionären Umbrüche
    in der Nachbarschaft - in Georgien und in der Ukraine - vor Augen.
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