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Diese "Ereignisse" im Osten

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  • Diese "Ereignisse" im Osten

    taz, die tageszeitung
    23. April 2005

    Diese "Ereignisse" im Osten

    von EBERHARD SEIDEL


    Am 24. April 1915 ließ die jungtürkische Regierung des Osmanischen
    Reiches die gesamte armenische Elite in Istanbul verhaften. Mehr als
    600 Intellektuelle wurden nach Anatolien deportiert, die meisten in
    der Folge ermordet. Der 24. April gilt als der Beginn der
    systematischen und planmäßig durchgeführten Vertreibung und
    Vernichtung der Armenier, die damals auf dem Gebiet der heutigen
    Türkei gelebt haben.

    ie Ermordung von rund 800.000 der knapp zwei Millionen in der Türkei
    lebenden Armenier wird von vielen als der erste Völkermord des an
    Genoziden so reichen 20. Jahrhunderts gesehen. Von vielen, aber nicht
    von allen. Denn im Gegensatz zum Völkermord an den europäischen
    Juden, der für die Völkergemeinschaft eine feststehende Tatsache ist,
    gilt dies für die Massenmorde in den Jahren 1915 bis 1917 nicht. Er
    ist bis heute nicht in das Weltbewusstsein eingedrungen. Während der
    Nachfolgestaat des NS-Regimes den Holocaust zugegeben und die
    Verantwortung für die Folgen übernommen hat, bestreitet die türkische
    Republik, die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches, bis heute
    jegliche Schuld.

    Die "Ereignisse" im Osten des Osmanischen Reiches seien unvermeidbare
    Begleiterscheinungen militärischer Aktionen gegen armenische
    Separatisten im Verlauf des Ersten Weltkriegs gewesen, lautet die
    offizielle türkische Sprachregelung.

    Auch in Deutschland ist der Völkermord an den Armeniern ein
    Randthema. Das ist verwunderlich, denn kein westliches Land war so in
    das Geschehen verwickelt wie das deutsche Kaiserreich, das in den
    Jahren 1914 bis 1918 der wichtigste Verbündete der jungtürkischen
    Regierung war. Deutschland war es auch, das den beiden
    Hauptverantwortlichen des Genozids, Talaat Pascha und Enver Pascha,
    zur Flucht verhalf - sie konnten sich so der Verantwortung vor dem
    Istanbuler Kriegsgerichtshof entziehen.

    Verwiesen sei an dieser Stelle auf das kürzlich von Wolfgang Gust
    herausgegebene Buch "Der Völkermord an den Armeniern 1915/1916.
    Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes" (zu
    Klampen Verlag). Darin sind Akten dokumentiert, die die
    Mitwisserschaft und in einigen Fällen auch die Mittäterschaft
    deutscher Militärberater an den Deportationen der Armenier belegen.

    Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat die inzwischen zum
    Standardwerk avancierte Studie "Armenien und der Völkermord. Die
    Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung"
    dankenswerterweise neu aufgelegt. Der Autor Taner Akcam analysiert
    darin die türkische Haltung zum Völkermord anhand türkischer Quellen.
    Einen besonderen Stellenwert räumt Akcam dabei den Protokollen der
    Kriegsgerichtsprozesse ein, die in Istanbul zwischen 1919 und 1921
    gegen die Verantwortlichen des Genozids stattgefunden haben.

    Die Istanbuler Prozesse waren der historisch erste Versuch,
    Menschenrechtsprinzipien mit Hilfe einer internationalen
    Strafgerichtsbarkeit durchzusetzen. Dieser fehlgeschlagene Vorläufer
    der Nürnberger Prozesse wurde vor allem auf Druck der alliierten
    Siegermächte USA, England und Frankreich durchgeführt. 17
    Todesurteile wurden verhängt, von denen drei vollstreckt wurden. Nach
    Auffassung des Kriegsgerichtshofes gab es keinen Zweifel, dass es
    sich bei den Vertreibungen 1915 bis 1917 um einen geplanten
    Massenmord gehandelt hat.

    Dieser Auffassung hat sich auch der spätere Gründer der türkischen
    Republik, Mustafa Kemal Atatürk, zunächst angeschlossen - eine
    moralische oder gar rechtspolitische Bedeutung hat er dem allerdings
    nicht beigemessen. Von Atatürk ist folgende Einschätzung überliefert:
    "Die Ermordung von Menschen und ähnliche Verbrechen kommen in
    Amerika, Frankreich und England ebenso vor, doch nur die Türkei wird
    für das Massaker an 800.000 ihrer Staatsbürger zur Rechenschaft
    gezogen."

    Ab 1920 verloren die Istanbuler Prozesse selbst bei den Gegnern der
    Jungtürken den anfänglich durchaus vorhandenen Rückhalt. Denn mit dem
    Vertrag von Sèvre (August 1920) nahmen die Alliierten dem Osmanische
    Reich faktisch die nationale Souveränität. Sie stellten das Land
    unter ihre Militär- und Finanzkontrolle, erzwangen große
    Gebietsabtretungen in Europa und in Ostanatolien. Und die Griechen
    versuchten große Teile Westanatoliens zu besetzen.



    ür Atatürk, der sich an die Spitze der Widerstandsbewegung stellte,
    hatte die nationale Souveränität jetzt Vorrang vor einer Aufarbeitung
    des Verbrechens. Er drohte 1920/1921, sämtliche in seiner Hand
    befindlichen englischen Gefangenen hinzurichten, falls der unter der
    Kontrolle der Alliierten stehende Kriegsgerichtshof in Istanbul
    weitere Todesurteile vollstrecken sollte. Während der folgenden
    Befreiungskriege kämpfte eine Reihe von Verantwortlichen des
    Völkermordes an seiner Seite, später übernahmen sie hochrangige
    politische Ämter in der neu gegründeten Republik.

    Taner Akcams Buch ist ein Aufruf an die armenische, vor allem an die
    türkische Seite, endlich die Dokumente zur Kenntnis zu nehmen. Sein
    eigener Ansatz, der in der Türkei seit Jahren zumindest in
    zivilgesellschaftlichen Kreisen zustimmend debattiert wird und mit zu
    einer veränderten Sicht beiträgt, ist ein hoffnungsvoller Beginn. Er
    unterwirft den Türkismus und die Pläne zur (muslimischen)
    Homogenisierung des christlich-muslimischen Anatoliens ebenso einer
    kritischen Bewertung wie die Autonomiebestrebungen eines kleinen
    Teils der Armenier während des Zerfallsprozesses des Osmanischen
    Reiches.

    Wo Akcam sich um eine betont sachliche Darstellung bemüht, stellt der
    Journalist und Politikwissenschaftler Rolf Hosfeld das Leid der Opfer
    in den Vordergrund. "Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und
    der Völkermord an den Armeniern" ist eine glänzend geschriebene
    Abhandlung. Eingehend untersucht Hosfeld die Entstehung des
    türkischen Nationalismus als Wurzel des Völkermords an den Armeniern.
    Auf vielen Seiten, gestützt auf Niederschriften von Zeitzeugen,
    schildert er minutiös, auf welche Weise die Menschen getötet wurden.
    Er benennt die Täter - Regierung, Verwaltungsbeamte, Militär,
    paramilitärische Gruppen, kurdische und tscherkessische Banden, aber
    auch ganz normale Bürger - und die Profiteure.

    Der Völkermord war, so Hosfeld, eine gigantische Enteignung und
    Umverteilung von Reichtum - weg von den christlichen Minderheiten der
    Griechen und Armenier, die zu diesem Zeitpunkt mehr als 25 Prozent
    der Bevölkerung stellte, hin zur muslimischen Majorität auf dem
    Gebiet der heutigen Türkei. Vor dem Völkermord befanden sich 66
    Prozent des Binnenhandels, 79 Prozent der Industrie- und
    Handwerksunternehmen und 66 Prozent der akademischen Berufe in den
    Händen der christlichen Minderheiten. Danach spielten sie keine Rolle
    mehr. Diese Umverteilung setzte die Mittel für eine "ursprüngliche
    Akkumulation" einer entstehenden türkischen Bourgeoisie frei.



    ewichtige Teile der Funktionseliten und des Bürgertums der jungen
    türkischen Republik sind mit dem Genozid verknüpft. Das erklärt die
    Staatsdoktrin in dieser Frage seit 1923, entschuldigt allerdings
    nichts. Immerhin, so Hosfeld, steht der Paragraf 305 des
    Strafgesetzbuches, nach dem die Anerkennung des Völkermords an den
    Armeniern als staatsfeindliche Propaganda geahndet werden kann,
    inzwischen zur Diskussion. Auch fordern Wissenschaftler und
    Journalisten wie der Chefredakteur des Massenblattes Hürriyet ein
    Ende der Leugnungspolitik.

    Wie die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema in der Türkei
    aussehen wird, bleibt abzuwarten. Zumindest für die aktuelle Debatte
    in Deutschland ist Rolf Hosfelds Abhandlung ein wichtiger Beitrag.
    Denn er macht auch deutlich, dass Deutschland bei der noch
    ausstehenden Versöhnung zwischen Türken und Armeniern nicht abseits
    stehen kann. Es muss sich noch eingehender Rechenschaft über seine
    Mitverantwortung am Genozid ablegen.


    Taner Akcam: "Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse
    und die türkische Nationalbewegung". Hamburger Edition, Hamburg 2004,
    430 Seiten, 16 Euro
    Rolf Hosfeld: "Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der
    Völkermord an den Armeniern". Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005,
    351 Seiten, 19,90 Euro

    From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress
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