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Die Juden des Orients

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  • Die Juden des Orients

    (The Jews of Orient)
    (Armenians were bearers of progress)

    FAZ.net
    Frankfurter Allgemeine
    23 April 2005

    Die Juden des Orients
    Die Armenier waren Träger von Fortschritt und Bürgerlichkeit.
    Die jungtürkischen Nationalisten verfolgten und töteten sie in
    blindem HaÃ=9F


    Von Hans-Lukas Kieser



    Mitte Juli 1915. Schuschanig Dikranian, eine junge armenische
    Deportierte aus Erzurum auf Durchgangsstation in Elaziz, erhält
    Zutritt zum Garnisonskommandanten Süleyman Faik und fleht diesen um
    das Leben ihres Schwagers an. Der Offizier entgegnet, ihm liege ein
    Befehl aus Istanbul vor, der die Auslöschung allen armenischen
    Lebens verlange. Sie fragt, weshalb sie und ihre Gefährtinnen denn
    noch lebten. Da antwortet er: "Weil unsere Frauen völlig ungebildet
    sind, daher müssen wir armenische Frauen nehmen, um unser
    Familienleben zu erneuern." Frau Dikranians Mann war zuvor in der
    Kemah-Schlucht, einer der Stätten organisierten Massenmords,
    getötet worden.

    Die Auslöschung des "Armeniertums" (Ermenilik), die 1915 begann,
    stand in direktem Zusammenhang mit dem Projekt einer modernisierenden
    Türkisierung Kleinasiens. "Einheit und Fortschritt" war Name und
    Programm der jungtürkischen Partei, die seit 1913 das Osmanische
    Reich diktatorisch regierte. Deren Anhängerschaft organisierte
    später, nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, einen
    erfolgreichen Widerstandskampf und begründete den türkischen
    Nationalstaat. Kemal Atatürk und seine jungen Kader waren
    glühende Türkisten. Auf Pantürkismus und Panislamismus,
    die aus imperialen Gründen noch zum ideologischen Repertoire ihrer
    Vorgänger gehört hatten, verzichteten sie vollständig -
    und gebärdeten sich statt dessen um so nationalistischer.

    Nach der jungtürkischen Revolution hatte die Menschen des Nahen
    Ostens im Sommer 1908 für kurze Zeit religionsübergreifend die
    Vision einer multiethnischen, verfassungspatriotischen osmanischen
    Nation beflügelt. Doch spätestens seit den Balkankriegen von
    1912/13, die für die Muslime traumatisch verliefen, erhielt die
    Idee der osmanischen Einheit eine antichristliche Spitze. Die
    Jungtürken - darunter vom Heimatverlust im Balkan Betroffene wie
    Kemal Atatürk - begannen sich darauf zu konzentrieren, in Anatolien
    eine türkische Heimat zu schaffen.

    Seit dem späten 19. Jahrhundert war es nur noch der Islamismus, mit
    dem sich in Anatolien eine Mehrheit mobilisieren lieÃ=9F. Schon in den
    antiarmenischen Pogromen vom Herbst 1895 unter Sultan Abdulhamid zeigte
    dieser Islamismus seine zerstörerische Kraft. Bis 1922, also bis
    zum Ende des Kampfs um Anatolien, blieb der Islam das Banner, um das
    sich Massen scharen lieÃ=9Fen. Die Bildungselite hatte sich dagegen
    schon vor dem Ersten Weltkrieg in Clubs, die das mächtige
    Parteikomitee der Jungtürken massiv förderte, zum
    Türkentum bekehrt. Ihre Mitglieder sagten nicht mehr "Ich bin
    Muslim", sondern stolz "Ich bin Türke". In diesen Clubs, denen am
    Vorabend des Ersten Weltkriegs immerhin 3000 Akademiker angehörten,
    wurde der völkische Nationalismus eingeübt.

    Zugleich aber war man in diesen Clubs von der Idee der "sozialen
    Revolution" begeistert - womit man die Schaffung einer modernen
    Gesellschaft samt Rechtsreform und Gleichstellung der Frau meinte. Was
    Bildung und wirtschaftlichen Erfolg betraf, waren die osmanischen
    Christen das Vorbild. Gleichzeitig aber sah man in diesen
    Mitbürgern Fremde - und schon damals betrachtete man sie
    tendenziell als Ausbeuter, als "Fremdkörper", die aus der
    türkischen Nation zu entfernen seien. So agitierte etwa Mahmut
    Bozkurt, der später Justizminister der Republik wurde - und das
    schweizerische Zivilgesetz einführte, das als das modernste in
    Europa galt.

    Die Türkisten hielten die Endogamie hoch. Doch während des
    Genozids 1915/16 lieÃ=9Fen sie im Falle junger, gebildeter
    Armenierinnen tausendfach Ausnahmen zu. Der zu Anfang zitierte Offizier
    Faik wollte die Armenierinnen für das Türkentum in Dienst
    nehmen. Die meisten Frauen aber wurden einem traditionellen muslimischen
    Milieu im Innern und Osten des Landes zwangsassimiliert. Erst heute
    beginnen die Stimmen kryptoarmenischer GroÃ=9Fmütter im Zeugnis
    ihrer Enkel öffentlich hörbar zu werden: erschütternde
    Stimmen, die plötzlich weit schallen.

    Der Rassismus der türkischen Nationalisten war, wenn man so will,
    flexibler als jener der Nationalsozialisten. Wie bei Frauen machte man
    manchmal auch bei Kindern Ausnahmen (nicht jedoch bei Männern und
    älteren Knaben). Doch auch das galt nicht immer:
    Südöstlich von Elaziz zählten der amerikanische Arzt
    Atkinson und der amerikanische Konsul Davis am Ufer des
    Gölcük-Sees im Oktober 1915 10000 Leichen von armenischen
    Kindern und Frauen - letztere obszön verstümmelt und oft halb
    verbrannt; manchen hatte man, auf der Suche nach womöglich
    versteckten Goldstücken, den Bauch aufgeschlitzt. Als im
    Frühjahr 1915 etwa 2000 deportierte Dersim-Kurden aus Elaziz
    Richtung Gölcük wankten, befürchteten die beiden
    Amerikaner das Schlimmste. Doch galten in der Systematik des Regimes die
    Dersim-Aleviten als gerade noch türkisierbar. So wurden Kurden und
    andere muslimische Nichttürken damals zwar auch umgesiedelt, nicht
    aber vernichtet: Im Gegensatz zu den Christen galten sie als
    assimilierbar.

    Die Mehrheit der Gesellschaft schaute dem Mord an den Armeniern zu - und
    versuchte, davon zu profitieren. Das Ganze war ein Massenraubmord mit
    dem Ziel, den beträchtlichen armenischen Besitz zugunsten der
    türkischen Nation umzuverteilen. Ein gut Teil der geraubten
    Güter ging direkt in den Besitz lokaler Profiteure über. Es
    gab jedoch durchaus auch einige gläubige Muslime, die das, was den
    armenischen Nachbarn angetan wurde, als Verbrechen verurteilten und die
    den Opfern nach Möglichkeit zu helfen suchten - etwa der Müfti
    von Urfa, der prompt mit dem Tode bedroht wurde.

    Die weitaus meisten armenischen Frauen und Kinder kamen 1915/16 auf den
    Hungermärschen und 1916/17 in den Konzentrationslagern der
    Syrischen Wüste um. Viele verhungerten und starben an Krankheiten,
    viele wurden ermordet. Dieses Schicksal teilten die aus Westanatolien
    per Bahn deportierten Armenier, unter denen sich viele Männer
    befanden. In den Ostprovinzen - dem armenischen Hauptsiedlungsgebiet -
    wurden die Männer teils schon beim Aufbruch, teils später
    während des Vertreibungsmarsches ermordet. Das "Verschicken"
    (sevkiyat) bedeutete das Todesurteil.

    Anders als die ländlichen Kurden und die vor kurzem erst
    angesiedelten muslimischen Kaukasus- oder Balkanflüchtlinge
    verfügten die armenischen Bauern über ein hochentwickeltes
    agrarisches, handwerkliches, hygienisches und kommerzielles Können.
    Die Zerstörung dieses Bauernstands lastete in den folgenden
    Jahrzehnten als wirtschaftlicher Fluch schwer über den
    Ostprovinzen. DaÃ=9F die Armenier weiter entwickelt waren als ihr
    Umfeld, hatte regionale und globale Gründe. Länder- und
    kulturübergreifende Netzwerke machten sie in der Neuzeit zu
    Kulturvermittlern und Handelsleuten par excellence - sie waren darin
    auch den Juden und Griechen voraus. Nicht zufällig nannten manche
    Europäer sie die "Juden des Orients" - oft genug mit
    abfälligem Unterton. Während die armenische Elite in den
    Metropolen schon früh mit dem Druckwesen zu tun hatte, mit der
    Aufklärung in Berührung kam und internationale Kontakte
    pflegte, erfaÃ=9Fte die "armenische Renaissance" des 19. Jahrhunderts
    auch die Bauerndörfer in Ostanatolien. In vielen
    Provinzstädten wurden Mittelschulen oder Spitäler
    gegründet. Impulse dazu kamen aus der Gemeinschaft selbst, aber
    auch von reichen Armeniern in Georgien, aus dem russischen Armenien und
    von Missionaren, namentlich liberalen amerikanischen Protestanten. Die
    Armenier nutzten den Austausch mit dem Westen und die neuen
    Freiräume der osmanischen Reform des 19. Jahrhunderts. Anders als
    die Kurden, deren Fürstentümer damals zerstört und deren
    Privilegien im Namen der Gleichstellung zum Teil abgeschafft wurden,
    schienen sie die Gewinner osmanischer Reformpolitik zu sein - wenngleich
    sie unter allgemeinem Sozialneid und einer verbreiteten
    Rechtsunsicherheit zu leiden hatten.

    Bildung läÃ=9Ft ein BewuÃ=9Ftsein für bürgerliche
    Rechte, für Zivilgesellschaft und Menschenrechte entstehen. Die
    verfassungsrechtliche Dynamik - ausgelöst durch die Gründung
    der weitgehend von Armeniern getragenen protestantischen Gemeinschaft
    (millet) Mitte des 19. Jahrhunderts - führte zu neuen Verfassungen
    der übrigen Gemeinschaften und schlieÃ=9Flich, 1876, des Reichs.
    Hätte es ein ernsthaftes allgemein-osmanisches Projekt gegeben,
    wären die Armenier ideale Mitträger eines auf mündigen
    Bürgern aufbauenden Systems gewesen. Das Scheitern des Reformstaats
    warf sie jedoch auf die eigene Gemeinschaft zurück und führte
    - als die im Vertrag von Berlin versprochenen Reformen in den
    Ostprovinzen nicht umgesetzt wurden - im späteren 19. Jahrhundert
    zur Gründung militanter Selbstschutzorganisationen und Parteien.
    Doch nur eine einzige armenische Partei machte die Unabhängigkeit
    zu ihrem Programm.

    Der traditionelle muslimische ArmenierhaÃ=9F gründete auf der
    religiös motivierten Verachtung des gavur, des "Ungläubigen".
    Jetzt kamen Sozialneid und der neue Generalverdacht hinzu, die Armenier
    verrieten den islamischen Staat. Waren doch aus den ehemals
    Schutzbefohlenen aktive, agile und vielfältig vernetzte Akteure
    geworden. Für deren Wohlergehen intervenierte das Ausland seit 1878
    bisweilen verbal oder legte, wie 1894, konkrete Reformpläne vor.
    Vor diesem Hintergrund kam es zu den Massenmorden von 1895, denen etwa
    100000 Armenier zum Opfer fielen.

    Im Februar 1914 unterschrieb die osmanische Regierung einen
    detaillierten internationalen Reformplan für das
    kurdisch-armenische Siedlungsgebiet, der die politische Partizipation
    aller Gruppen und wirksame Kontrollen vorsah. Doch die Beteiligung am
    Weltkrieg eröffnete dem Regime wenig später die Gelegenheit,
    die Reform zu suspendieren und im Schatten des Kriegs in Kleinasien die
    Zentralisierung, die demographische Türkisierung und die
    türkisch-muslimische Nationalisierung der Wirtschaft
    voranzutreiben. Die jungtürkischen Eliten verbanden die Idee der
    zentralistischen Modernisierung mit einem sozialdarwinistischem
    Ethnonationalismus. In der Extremlage des Weltkriegs lieÃ=9F sie das
    1915 zu Genozidtätern an den Armeniern werden.

    Was Frau Dikranian betraf, weigerte sie sich, zur Erneuerung
    türkischen Familienlebens beizutragen. Sie überlebte die
    Deportation ins syrische Aleppo.

    Der Verfasser ist Privatdozent für Geschichte der Neuzeit an der
    Universität Zürich.

    Abbildung: Sarkis Khatchadourian, Die Frau aus Zanguezor, 1907, Ã-l
    auf Leinwand.

    Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24.04.2005, Nr. 16 / Seite
    15
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