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Das Ende des kalten Schweigens (The end of the cold silence)

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  • Das Ende des kalten Schweigens (The end of the cold silence)

    DIE ZEIT


    17/2005

    Das Ende des kalten Schweigens

    Streit um die Erinnerung in der Türkei: Nationalisten feiern den
    Sieg über die Briten bei Gallipoli und leugnen die Massaker an den
    Armeniern 1915

    Von Michael Thumann

    Gallipoli/Westtürkei

    Wo das Mittelmeer schmal wie ein Fluss wird, da öffnet sich die
    Türkei. Pinar Soysal steht auf dem Sonnendeck einer Fähre
    mitten in der Meerenge der Dardanellen. Da drüben, eine 500 Jahre
    alte Festung! 'Sie heiÃ=9Ft Kilitbahir - Schlüssel
    des Meeres`, erklärt die 25-jährige Türkin. Wer
    diese Festung in vergangenen Jahrhunderten erobern konnte, für den
    lag Istanbul nur noch einen Tagesmarsch entfernt. Heute ist alles etwas
    undramatischer. Man verlässt einfach die Fähre und setzt
    seinen Turnschuh auf den zerfurchten Boden der Halbinsel Gallipoli.

    Schön ist es hier, sonnig, saftig grün, die Obstblüte ist
    fast vorbei. 'Auf diesen Hügeln fand 1915 eine der
    furchtbarsten Materialschlachten des Ersten Weltkriegs statt`,
    erzählt Pinar. Winston Churchill, Erster Lord der britischen
    Admiralität, gedachte damals, erst die Dardanellen zu nehmen, dann
    Istanbul und so den Krieg gegen die Deutschen und ihre Verbündeten
    früh zu entscheiden. Hunderttausende Soldaten stürzten sich in
    die Schlacht, britische, französische, australische,
    neuseeländische. Das Unternehmen scheiterte nach acht Monaten
    qualvollen Stellungskriegs. Die Türken siegten, deutsche
    Generäle halfen dabei. Churchill musste seinen Hut nehmen, nicht
    mehr. Doch insgesamt hatte es eine halbe Million Soldaten das Leben oder
    die Gesundheit gekostet.

    Pinar Soysal hat 2003 sechs Monate lang in London gearbeitet. 'Ohne
    schlechte Gefühle`, lacht sie und klemmt ihre schwer zu
    bändigenden dunklen Locken mit der rosa Sonnenbrille hinter die
    Ohren. Sie ist Bauingenieurin. Im zweiten Beruf führt sie Besucher
    von Gallipoli über die Kriegsgräber. Damit verdient sie
    mittlerweile mehr als mit Bauaufträgen.

    Dieser April ist für die Türken der Monat der Erinnerung. Vor
    90 Jahren landeten die Alliierten schwerbewehrt auf Gallipoli, vor 90
    Jahren begannen jungtürkische Beamte und Militärs, Armenier zu
    Hunderttausenden auf Todesmärsche zu schicken, um sie
    schlieÃ=9Flich in der Syrischen Wüste zu massakrieren oder im
    Schwarzen Meer zu ertränken. Der Unterschied zwischen beiden
    Ereignissen? An die gefallenen Türken, Briten, Australier gemahnen
    Ehrenmäler und Friedhöfe, verstreut über Gallipoli.
    Ã=9Cber den Knochen der Armenier, da steht kein Grabstein in der
    ganzen Türkei. Manche Türken finden das empörend und
    sagen dies mittlerweile auch laut. Andere wollen sich daran gar nicht
    erinnern, sie verweigern jede Trauer, bestreiten alles.

    In den Schulbüchern der Türkei ist vom Schicksal der Armenier
    nichts zu lesen. An Gallipoli erinnern Lehrfibeln und Bildbände,
    ein brandneuer Kinofilm eines türkischen Regisseurs, Fähnchen,
    Fotos, Schlüsselanhänger. All das missbrauchen türkische
    Nationalisten als Rüstzeug. Sie wenden das Gedenken gegen die ihnen
    verhasste Regierung von Premier Tayyip ErdoË=98gan, gegen die global
    vernetzten Unternehmer und Liberalen in Istanbul. 'Verrat!`,
    schreien diese Patrioten und schimpfen auf die EU, die Amerikaner, die
    Kurden. Der Streit um die Erinnerung wird zum Kampf um die Orientierung
    der Türkei: Westwärts, ostwärts oder doch besser allein
    gegen alle?

    Pinar spricht am Mobiltelefon und füllt ihren Kalender mit Terminen
    auf. Von nächster Woche an werden sie kommen: Briten, Australier,
    Neuseeländer mit ihren Fahnen, Orden und Gebetsbüchern, aber
    eben auch viele Türken. 'Für uns ist Gallipoli eine Sache
    der persönlichen Trauer und vor allem des nationalen Stolzes`,
    sagt sie. Auf diesem Schlachtfeld ist ein Mann berühmt geworden,
    dessen Bild im Büro und im Wohnzimmer der jungen Türkin
    hängt. 'Mustafa Kemal hat hier die türkische Nation
    geformt - er wurde zum Wunder von Gallipoli`, sagt sie.
    Fast wäre er als Unbekannter auf dem Schlachtfeld gestorben. Seine
    Taschenuhr fing die Kugel auf.

    Nevzat YalçintasË=9B besaÃ=9F ein Haus unweit der Strände,
    an denen die britischen Truppen landeten. Seine Familie stammt von dort.
    Im vorigen Jahr lieÃ=9F der Staat das Haus abreiÃ=9Fen, weil die
    Gegend zum Nationalpark erklärt wurde. Das ist bemerkenswert, denn
    YalçintasË=9B ist Abgeordneter der Regierungspartei AKP. Er
    sichert in der bunten Volkspartei den rechten Rand ab und zeigt, dass
    islamischer Glauben und nationales Denken durchaus unter eine
    Schädeldecke passen. Libertärer Eigennutz ist nichts für
    ihn. YalçintasË=9B war für den Nationalpark, auch wenn er
    dafür sein Haus opfern musste. Gallipoli ist für ihn ein
    Symbol des 'unbeugsamen türkischen
    Ã=9Cberlebenswillens`. 'Auch wenn das 90 Jahre her
    ist`, warnt er mit rauer Stimme, 'der Wille ist nicht
    erlahmt.` Das will er notiert haben, jetzt, da die kurdische
    Terrororganisation PKK wieder türkische Soldaten
    überfällt, da die Kurden im Irak mit Hilfe der USA ihren Staat
    bauen und da im Osten der Türkei sinistre Kräfte kurdische
    Kinder anstiften, die türkische Flagge zu schänden. 'Wir
    ehren unsere Flagge`, sagt YalçintasË=9B, 'ihre rote
    Farbe ist den gefallenen Soldaten gewidmet, dem Blut der
    Märtyrer.`

    Gallipoli ist eine Ansammlung von durchlöcherten Hügeln
    - mit unterirdischen Nachschubgängen, Provianthöhlen,
    Schützengräben. Shrapnel Valley heiÃ=9Ft ein Tal, in dem die
    Briten besonders ungastlich empfangen wurden. In einem Museum zeigt
    Pinar Soysal, was die Schatzsuche dort hervorgebracht hat: vermooste
    Granaten, Magazine, verrostete Tobakdosen und Gürtelschnallen,
    britische Prothesen, osmanische Ohrringe, ein Schädel mit einer
    Patrone in der Stirn, ein halb verbrannter Koran. Wo Restaurants an der
    türkischen Westküste gewöhnlich mit pseudoantiken Vasen
    dekoriert sind, füllen auf Gallipoli eingefettete
    Geschosshülsen die ästhetische Lücke.

    Hier lagen sich Türken und Briten im heiÃ=9Fen Sommer 1915
    gegenüber, bisweilen nur Meter voneinander entfernt, während
    im Innern des Osmanischen Reiches die Armenier den Marsch in den Tod
    antreten mussten. Alle ihre Spuren sind getilgt. Insgesamt kamen 1,5
    Millionen um, sagen die Armenier. Gemach, halten Türken dagegen,
    das sei maÃ=9Flos übertrieben. 400.000, 500.000, eine Million,
    jeder Türke, den man fragt, hat eine eigene Zahl zu bieten. Nur von
    Völkermord will niemand sprechen.

    Dennoch ist vieles anders als in den bisherigen 89 Jahren kalten
    Schweigens. Ziemlich erhitzt reden die Türken über kaum etwas
    anderes als über Gallipoli - und über die Massaker an
    den Armeniern. Das Parlament in Ankara lud türkische Armenier zu
    einer Anhörung ein. Ein türkischer Historiker klagt im
    Massenblatt Milliyet die 'ethnische Säuberung` von einer
    Million Armeniern an. Eine Ausstellung in Istanbul erinnert an die
    armenischen Siedlungen. Bücher beschreiben, was in der Türkei
    bisher als nicht druckbar galt. Premier ErdoË=98gan hat die armenische
    Regierung eingeladen, eine gemeinsame Historiker-Kommission zu
    gründen. Armenische Türken unterstützen die Idee, der
    Staat Armenien lehnt ihn als 'Manöver` ab, türkische
    Nationalisten wittern ein Zugeständnis.

    Gegen alle Annäherungsversuche ficht Gündüz Aktan. Seine
    Familie kommt aus dem europäischen Teil der Türkei, noch
    westlich von Gallipoli. Sein GroÃ=9Fvater wurde aus dem heutigen
    Griechenland vertrieben. Ã=9Cber Smyrna, das heutige Izmir, musste
    dieser ins syrische Aleppo fliehen. Ein groÃ=9Fer Teil der Familie kam
    um. 'Die Armenier denken, ihr Schmerz sei einzigartig`, sagt
    er bitter. 'Einzigartig egoistisch sind sie.` Aktan war einst
    Botschafter, heute leitet er eine Denkfabrik in Ankara, schreibt
    Kolumnen, streitet im Fernsehen und ist so etwas wie der GroÃ=9Fwesir
    der nationalen Intelligenz.

    Weil die Armenier auf dem Wort 'Genozid` beharrten und weil
    die Welt sich mit ihnen verbünde, erinnerten sich die Türken
    nun ihres eigenen Schmerzes, sagt Gündüz Aktan. Und rechnet
    auf: 'Zwischen dem griechischen Aufstand 1821 und der Gründung
    der Türkischen Republik 1923 wurden fünf Millionen Türken
    vertrieben, fünf Millionen kamen um.` Gallipoli war der
    gröÃ=9Fte Aderlass an einem Ort. 'Nur wenn du den eigenen
    Schmerz empfindest, kannst du den der anderen nachfühlen und wirst
    normal`, sagt er. 'Normale Türken` gedächten
    heute ihrer verlorenen Heimat auf dem Balkan. 'Die haben wir an den
    Westen verloren. Nun erheben sich die Irredentisten in unserem Land, und
    der Westen unterstützt sie.`

    Aggressives Selbstmitleid kommt derzeit gut an in der aufgewühlten
    Türkei. In der Provinz gehen Nationalisten auf die StraÃ=9Fe,
    gegen Wackelpatrioten und gegen Kurden, die mehr Rechte verlangen und
    sie von der Regierung bekommen. Die Armee erinnert in einer
    Erklärung daran, dass den ruhmreichsten Tagen in der Geschichte der
    Türkei stets der Verrat von 'so genannten Bürgern`
    vorausgegangen sei. Sie zielt damit gegen Kurden und gegen die
    konservativ-muslimische Reformregierung. Tayyip ErdoË=98gan weicht vor
    seinen Rivalen zurück. 'In der Geschichte gibt es nichts,
    für das wir uns schämen müssten`, sagte er in der
    Armenierdebatte. Das sind mutlose apologetische Töne für einen
    Premier, dessen Partei zwei Drittel des Parlaments beherrscht.
    DrauÃ=9Fen gehen Nationalisten und Kemalisten in die Offensive.

    Pinar Soysal fährt auf den Conk Bayırı, einen Hügel
    vor dem Landestrand der Australier und Neuseeländer auf Gallipoli.
    Ein groÃ=9Fer Bronze-Atatürk schaut von hier aus aufs Meer. Die
    türkischen Truppen unter der Führung von Kemal Atatürk
    waren hier am 25. April 1915 in der Minderzahl. Sie mussten die
    Angreifer aufhalten. Pinar kennt Atatürks berühmtesten Befehl
    auswendig: 'Ich befehle euch, nicht anzugreifen, ich befehle euch,
    zu sterben. Wenn wir tot sind, werden andere Einheiten und Kommandeure
    gekommen sein, uns zu ersetzen.` Atatürk hielt den Hügel.

    Er schlug die Angreifer aus dem Westen zurück, so, wie er
    später eine erneute Invasionsarmee aus dem Westen besiegte. Nach
    den Kriegen revolutionierte er sein Land, um es westlichen
    MaÃ=9Fstäben anzupassen. Diejenigen aber, die sich heute auf ihn
    berufen, preisen die militärische Abwehrleistung, um sich jeder
    weiteren Annäherung und Angleichung der Türkei an den Westen
    zu verweigern.

    Für Ã=9Cmit Ã-zdag ist der Sieg von Gallipoli der nationale
    'Gründungsakt` der modernen Türkei. Er versteht sich
    auf solche Begriffe, er hat in München Politik und Volkswirtschaft
    studiert. Im kommenden Jahr will er die Führung der MHP
    übernehmen, der Nationalistischen Aktions-Partei, deren Wurzeln zu
    den rechtsextremistischen Grauen Wölfe zurückreichen. Bei der
    nächsten Wahl wird ihnen der Wiedereinzug ins Parlament
    vorhergesagt. Ã-zdag macht 90 Jahre nach Gallipoli einen erneuten
    Landungsversuch des Westens in der Türkei aus. 'Die
    Europäische Union verlangt von uns nur Zugeständnisse
    - Zypern und die Ã=84gäis sollen wir den Griechen
    überlassen, den Kurden immer mehr Rechte geben, das Militär
    entmachten`, sagt Ã-zdag. 'Und am Ende werden uns die
    Franzosen per Referendum den Beitritt verweigern - ein
    schlechtes Geschäft!`

    Ã-zdag schimpft über die Regierung, die er für weich und
    nachgiebig hält - gegenüber der EU, den USA, den
    Kurden. 'Wir sollten den Weg nach Europa gar nicht erst
    gehen`, meint er. Sein Argument ähnelt dem einiger deutscher
    Professoren: 'Zwischen Europa und uns ist ein kultureller Graben,
    wir haben nicht teil am christlichen Erbe, der Antike, der
    Aufklärung. Ihr wart stets unsere Feinde.` Und mal ganz
    ehrlich: In München fühlte er sich immer wie ein Fremder, in
    Damaskus wie zu Hause. Doch hat er in Deutschland eine
    Lieblingspolitikerin. Längst ist sie zur Ikone der antiwestlichen
    türkischen Rechten geworden ist: Angela Merkel, die der Türkei
    den Weg nach Europa mit allen Mitteln verbauen will.

    Von Gallipoli nimmt Pinar Soysal die Fähre zurück aufs
    asiatische Festland. Das Radio meldet, dass zu den Gedenkfeiern auch
    Prinz Charles kommt. Warum - bei allem vergossenen Blut
    - kann Gallipoli nicht auch zum Symbol der Versöhnung
    werden, warum nicht zur Schlagbrücke nach Europa? Pinar
    schüttelt den Kopf. Versöhnung ja, aber nicht Verschmelzung.
    'Wir sind nicht bereit für die EU`, sagt die junge
    Türkin. Plötzlich würden alle nach ihren Rechten
    schreien: Kurden, Christen, Islamisten. 'Wir können nicht mit
    der Freiheit umgehen, die ihr von uns verlangt.`

    Die Fähre legt in Anatolien an. Beim Blick zurück ist die
    Festung 'Schlüssel des Meeres` kaum noch zu erkennen, die
    Dardanellen verschluckt jetzt die Dämmerung. Von hier aus, zu
    dieser Zeit betrachtet, wirkt die Türkei ziemlich verschlossen.
Working...
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