Neue Zürcher Zeitung
11. August 2005
Ist Leugnung des Armeniermords rassistisch?
von Auswärtige Autoren
Ein Beitrag zur Debatte um die Türkei und den Genozid
Von Georg Kreis, Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen
Rassismus
Die Kontroverse um die Benennung der Massaker an Armeniern (1915) als
Völkermord belastet nicht zuletzt die Beziehungen der Schweiz zur
Türkei. Im folgenden Beitrag wird bezweifelt, dass die Leugnung des
Genozids im Sinn des Strafrechts rassistisch sei.
In jüngster Zeit ist die Frage erörtert worden, ob die öffentliche
Leugnung des Genozids an den Armeniern von 1915 nicht - analog zur
Leugnung des Holocaust - von Staates wegen verfolgt werden müsse,
weil der Strafrechtsartikel 261&&obis allgemein das Leugnen von
"Völkermord und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit" unter
Strafe stellt. Wie die Gerichte und zuvor die für die
Tatbestandsabklärung zuständigen Behörden mit der Frage umgehen, ist
ihre Sache. Es wäre aber sonderbar, wenn man von Gerichten heutzutage
erwarten würde, dass sie die Leugnung des Genozids an den Armeniern
grundsätzlich anders beurteilen sollten, als dies durch das
Kreisgericht Bern-Laupen am 14. September 2001 geschehen ist, weil
der Nationalrat Ende 2003 diesen Genozid im Sinne eines politischen
Wertebekenntnisses "anerkannt" und verurteilt hat. Wegen der
herrschenden Gewaltenteilung sollte die politische Interpretation der
Legislative für die Judikative nicht massgebend sein. Anderseits ist
die Einschätzung nicht ganz den Staatsanwaltschaften und Gerichten zu
überlassen. Im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen
Verständigungsprozesses kann man auch aus historischer und
gesellschaftspolitischer Sicht dazu eine Meinung haben und aus dieser
Sicht vor einer voreiligen Gleichsetzung von Genozid-Leugnungen
warnen. Denn nur Gleiches soll gleich behandelt werden.
Kein richterlicher Schutz für Geschichte
Einleuchtend bemerkt der Strafrechtler Marcel Niggli in seinem
Kommentar zu StGB 261&&obis (1996), dass das Leugnen nur strafbar
ist, wenn es sich beim geleugneten Vorkommnis tatsächlich um
Völkermord handelt. Liegt der fragliche Tatbestand weit in der
Vergangenheit zurück, könnte sich ein Richter sagen, dass er nicht
zum Historiker werden will, wie dieser nicht Richter sein soll.&&o Es
geht hier aber nicht um die Frage, ob der Genozid stattgefunden hat.
Dies dürfte erwiesen sein, auch wenn es von offizieller türkischer
Seite noch bestritten wird. Es kann in diesem Fall nicht um den
Schutz historischer Wahrheit gehen. Geschichtsverständnis bedarf
keiner richterlichen Bekräftigung. Es geht auch nicht um die Frage,
ob Genozide politisch zu verurteilen sind. Hingegen geht es darum, ob
das Leugnen und Verharmlosen eines historisch feststehenden
Völkermords, derart automatisch, "ohne Frage", unter die
Strafbestimmung zu stellen ist, wie dies Niggli, gestützt auf den
Wortlaut des Gesetzes, annimmt.
Schutz vor Diffamierung
Wichtig ist es, sich über die Funktion der Strafbestimmung klar zu
werden. Es könnte darum gehen, indirekt vor analogen Exzessen zu
schützen. Wie weit hat aber das Bestreiten eines vor 90 Jahren
erfolgten Völkermords heute begünstigende oder ermunternde Wirkung
oder strebt diese gar an? Doch ist in jedem Fall ein Nichtanerkennen
der rassistischen Essenz eines historischen Vorgangs per se ebenfalls
rassistisch? Auch wenn es sich beim Genozid an den Armeniern um ein
sehr gravierendes Vorkommnis handelt, dürfte heute dessen richtige
Beurteilung im Hinblick auf die Wiederholungsgefahr nicht derart
wichtig sein, dass man von Staates wegen die Beurteilungsfreiheit
einschränken müsste.
Der Sinn des Leugnungsverbots liegt in einem klar erkennbaren Punkt:
Die Strafrechtsbestimmung will eine Variante rassistischer
Diffamierung und insbesondere eine Variante antisemitischer
Propaganda verbieten. Die Leugnung des Holocaust wurde unter Strafe
gestellt, weil dieses Leugnen antisemitisch ist und weil öffentliches
Bekunden von Antisemitismus verboten ist. Die Auschwitz-Leugner oder
Negationisten, wie man sie auch nennt, leugnen nämlich nicht nur die
historische Tatsache, das rund sechs Millionen Juden grösstenteils
systematisch umgebracht worden sind, um sie über die "Endlösung"
auszurotten. Sie werfen den Opfern und ihren Nachkommen vor, mit der
Fabrikation dieser "Legende" politischen und pekuniären Gewinn
erzielen zu wollen, dies gemäss stereotypen antisemitischen
Zuschreibungen von Macht- und Geldgier und Ausbeutung anderer. Die
Botschaft zum neuen Strafgesetzartikel (2. März 1992) hält denn auch
ausdrücklich fest, dass der Schutz des "Andenkens Verstorbener" im
Hinblick auf die "Auschwitz-Lüge" angestrebt werde, weil diese eine
eigene Form "rassistischer Propaganda" sei.
Die Raison d'être des Verbots des Auschwitz-Leugnens liegt also
weniger im Schutz des Angedenkens selbst oder gar im Schutze
historischer Wahrheit als im Schutz vor der skizzierten Diffamierung.
Nun muss man sich fragen, ob im Falle des Armenier-Genozids analoge
Verhältnisse herrschen. Unbestritten ist, dass die Leugnung des
Armenier-Genozids die armenischen Nachfahren besonders verletzt, dass
die armenische Gemeinschaft, ähnlich wie die Juden in einer grösseren
Diaspora auf der Welt zerstreut, ein kollektives Trauma in sich
trägt, dass die Anerkennung für sie ein wichtiger Teil der ihr
zustehenden Satisfaktion ist und dass, sie der Lüge zu bezichtigen,
beleidigend ist.
"Judenfreundliches Privileg"?
Zu fragen ist: Gibt es im Fall der Armenier eine historische und, wie
im Falle des Hasses auf Juden, sich als unheilvoller "Selbstläufer"
in der Geschichte reproduzierende antiarmenische, rassistische
Ideologie, die über die Leugnung des Armenier-Genozids genährt würde,
aber nicht genährt werden sollte? Nach dem Stand unserer Kenntnisse
gibt es sie nicht. Dass die Beurteilung nicht in beiden Fällen gleich
ausfällt, erklärt sich aus der Tatsache, dass die jüdische Minderheit
das unglückliche "Privileg" hat, auch in diesem Fall speziell
rassistisch diffamiert zu werden.
Es ist verständlich, dass man antirassistische Normen nicht als
Schutz einzig für Juden ernst nehmen darf. Juden sind oder wären die
Ersten, die eine derartige "Privilegierung" ablehnten. Es besteht
aber in den europäischen Gesellschaften aus Rücksicht auf die
historische Schuld die Neigung, gegenüber antijüdischer Diffamierung
besonders sensibel zu sein. Die muslimische Minderheit etwa, der
gegenüber Europa nicht in dieser Weise schuldig geworden ist, kommt
nicht in gleichem Masse in den Genuss einer solchen Sensibilität. Die
Konsequenz eines solchen Vergleichs sollte nicht darin bestehen, dass
die Mehrheitsgesellschaft ihre Sensibilität für antijüdische
Diffamierung abbaut, sondern darin, dass sie sie gegenüber
rassistischer und religiöser Diffamierung anderer Minderheiten
ausbaut. Bloss: Die Leugnung des Genozids an den Armeniern ist wohl
kein taugliches Objekt, um die Gleichbehandlung einzufordern und
durchzuexerzieren.
--Boundary_(ID_BSvMy3ggb42bJJNP0a/HQA)--
11. August 2005
Ist Leugnung des Armeniermords rassistisch?
von Auswärtige Autoren
Ein Beitrag zur Debatte um die Türkei und den Genozid
Von Georg Kreis, Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen
Rassismus
Die Kontroverse um die Benennung der Massaker an Armeniern (1915) als
Völkermord belastet nicht zuletzt die Beziehungen der Schweiz zur
Türkei. Im folgenden Beitrag wird bezweifelt, dass die Leugnung des
Genozids im Sinn des Strafrechts rassistisch sei.
In jüngster Zeit ist die Frage erörtert worden, ob die öffentliche
Leugnung des Genozids an den Armeniern von 1915 nicht - analog zur
Leugnung des Holocaust - von Staates wegen verfolgt werden müsse,
weil der Strafrechtsartikel 261&&obis allgemein das Leugnen von
"Völkermord und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit" unter
Strafe stellt. Wie die Gerichte und zuvor die für die
Tatbestandsabklärung zuständigen Behörden mit der Frage umgehen, ist
ihre Sache. Es wäre aber sonderbar, wenn man von Gerichten heutzutage
erwarten würde, dass sie die Leugnung des Genozids an den Armeniern
grundsätzlich anders beurteilen sollten, als dies durch das
Kreisgericht Bern-Laupen am 14. September 2001 geschehen ist, weil
der Nationalrat Ende 2003 diesen Genozid im Sinne eines politischen
Wertebekenntnisses "anerkannt" und verurteilt hat. Wegen der
herrschenden Gewaltenteilung sollte die politische Interpretation der
Legislative für die Judikative nicht massgebend sein. Anderseits ist
die Einschätzung nicht ganz den Staatsanwaltschaften und Gerichten zu
überlassen. Im Sinne eines gesamtgesellschaftlichen
Verständigungsprozesses kann man auch aus historischer und
gesellschaftspolitischer Sicht dazu eine Meinung haben und aus dieser
Sicht vor einer voreiligen Gleichsetzung von Genozid-Leugnungen
warnen. Denn nur Gleiches soll gleich behandelt werden.
Kein richterlicher Schutz für Geschichte
Einleuchtend bemerkt der Strafrechtler Marcel Niggli in seinem
Kommentar zu StGB 261&&obis (1996), dass das Leugnen nur strafbar
ist, wenn es sich beim geleugneten Vorkommnis tatsächlich um
Völkermord handelt. Liegt der fragliche Tatbestand weit in der
Vergangenheit zurück, könnte sich ein Richter sagen, dass er nicht
zum Historiker werden will, wie dieser nicht Richter sein soll.&&o Es
geht hier aber nicht um die Frage, ob der Genozid stattgefunden hat.
Dies dürfte erwiesen sein, auch wenn es von offizieller türkischer
Seite noch bestritten wird. Es kann in diesem Fall nicht um den
Schutz historischer Wahrheit gehen. Geschichtsverständnis bedarf
keiner richterlichen Bekräftigung. Es geht auch nicht um die Frage,
ob Genozide politisch zu verurteilen sind. Hingegen geht es darum, ob
das Leugnen und Verharmlosen eines historisch feststehenden
Völkermords, derart automatisch, "ohne Frage", unter die
Strafbestimmung zu stellen ist, wie dies Niggli, gestützt auf den
Wortlaut des Gesetzes, annimmt.
Schutz vor Diffamierung
Wichtig ist es, sich über die Funktion der Strafbestimmung klar zu
werden. Es könnte darum gehen, indirekt vor analogen Exzessen zu
schützen. Wie weit hat aber das Bestreiten eines vor 90 Jahren
erfolgten Völkermords heute begünstigende oder ermunternde Wirkung
oder strebt diese gar an? Doch ist in jedem Fall ein Nichtanerkennen
der rassistischen Essenz eines historischen Vorgangs per se ebenfalls
rassistisch? Auch wenn es sich beim Genozid an den Armeniern um ein
sehr gravierendes Vorkommnis handelt, dürfte heute dessen richtige
Beurteilung im Hinblick auf die Wiederholungsgefahr nicht derart
wichtig sein, dass man von Staates wegen die Beurteilungsfreiheit
einschränken müsste.
Der Sinn des Leugnungsverbots liegt in einem klar erkennbaren Punkt:
Die Strafrechtsbestimmung will eine Variante rassistischer
Diffamierung und insbesondere eine Variante antisemitischer
Propaganda verbieten. Die Leugnung des Holocaust wurde unter Strafe
gestellt, weil dieses Leugnen antisemitisch ist und weil öffentliches
Bekunden von Antisemitismus verboten ist. Die Auschwitz-Leugner oder
Negationisten, wie man sie auch nennt, leugnen nämlich nicht nur die
historische Tatsache, das rund sechs Millionen Juden grösstenteils
systematisch umgebracht worden sind, um sie über die "Endlösung"
auszurotten. Sie werfen den Opfern und ihren Nachkommen vor, mit der
Fabrikation dieser "Legende" politischen und pekuniären Gewinn
erzielen zu wollen, dies gemäss stereotypen antisemitischen
Zuschreibungen von Macht- und Geldgier und Ausbeutung anderer. Die
Botschaft zum neuen Strafgesetzartikel (2. März 1992) hält denn auch
ausdrücklich fest, dass der Schutz des "Andenkens Verstorbener" im
Hinblick auf die "Auschwitz-Lüge" angestrebt werde, weil diese eine
eigene Form "rassistischer Propaganda" sei.
Die Raison d'être des Verbots des Auschwitz-Leugnens liegt also
weniger im Schutz des Angedenkens selbst oder gar im Schutze
historischer Wahrheit als im Schutz vor der skizzierten Diffamierung.
Nun muss man sich fragen, ob im Falle des Armenier-Genozids analoge
Verhältnisse herrschen. Unbestritten ist, dass die Leugnung des
Armenier-Genozids die armenischen Nachfahren besonders verletzt, dass
die armenische Gemeinschaft, ähnlich wie die Juden in einer grösseren
Diaspora auf der Welt zerstreut, ein kollektives Trauma in sich
trägt, dass die Anerkennung für sie ein wichtiger Teil der ihr
zustehenden Satisfaktion ist und dass, sie der Lüge zu bezichtigen,
beleidigend ist.
"Judenfreundliches Privileg"?
Zu fragen ist: Gibt es im Fall der Armenier eine historische und, wie
im Falle des Hasses auf Juden, sich als unheilvoller "Selbstläufer"
in der Geschichte reproduzierende antiarmenische, rassistische
Ideologie, die über die Leugnung des Armenier-Genozids genährt würde,
aber nicht genährt werden sollte? Nach dem Stand unserer Kenntnisse
gibt es sie nicht. Dass die Beurteilung nicht in beiden Fällen gleich
ausfällt, erklärt sich aus der Tatsache, dass die jüdische Minderheit
das unglückliche "Privileg" hat, auch in diesem Fall speziell
rassistisch diffamiert zu werden.
Es ist verständlich, dass man antirassistische Normen nicht als
Schutz einzig für Juden ernst nehmen darf. Juden sind oder wären die
Ersten, die eine derartige "Privilegierung" ablehnten. Es besteht
aber in den europäischen Gesellschaften aus Rücksicht auf die
historische Schuld die Neigung, gegenüber antijüdischer Diffamierung
besonders sensibel zu sein. Die muslimische Minderheit etwa, der
gegenüber Europa nicht in dieser Weise schuldig geworden ist, kommt
nicht in gleichem Masse in den Genuss einer solchen Sensibilität. Die
Konsequenz eines solchen Vergleichs sollte nicht darin bestehen, dass
die Mehrheitsgesellschaft ihre Sensibilität für antijüdische
Diffamierung abbaut, sondern darin, dass sie sie gegenüber
rassistischer und religiöser Diffamierung anderer Minderheiten
ausbaut. Bloss: Die Leugnung des Genozids an den Armeniern ist wohl
kein taugliches Objekt, um die Gleichbehandlung einzufordern und
durchzuexerzieren.
--Boundary_(ID_BSvMy3ggb42bJJNP0a/HQA)--