Frankfurter Allgemeine Zeitung
11. Februar 2005
Schwierige Wahrheit;
Schulen und Schulbuchverlage ringen mit dem Armeniergenozid
Ist der Skandal um die Streichung des Genozids an den Armeniern aus
dem einzigen deutschen Geschichtslehrplan, in dem er jemals
aufgeführt wurde, beigelegt? Und wenn ja, wie? Eine präzise Antwort
darauf ist schwierig, ja unmöglich, weil es gleichzeitig mehrere zu
geben scheint. Gemeinsam ist ihnen nur, daß sie fast alle so klingen,
als handle es sich um Antworten auf Anfragen an den legendären Sender
Eriwan.
Haben nun türkische Diplomaten den brandenburgischen
Ministerpräsidenten bei Lammcarré in Rotweinjus dazu gebracht, den
Klammersatz zum Völkermord, den es ihrer Ansicht nach nie gab, zu
streichen? Im Prinzip nein, hatte schließlich der türkische
Botschafter der "Berliner Zeitung" gesagt. Sein Konsul sei in Potsdam
nur vorstellig geworden, um die türkische Sicht auf Vorgänge zu
erläutern, die im Westen als Genozid der Türken an den Armeniern
wahrgenommen würden. Doch werde immer verschwiegen, daß in diesen
gewaltsamen Auseinandersetzungen mehr Muslime als Armenier den Tod
fanden. Auch der Ministerpräsident sagt, nein, er habe die Streichung
nicht wegen der türkischen Diplomaten veranlaßt. Aber es bleibe bei
der Korrektur, gleichwohl gehöre das Thema in den Unterricht. Ähnlich
antwortete der Berliner Bildungssenator Böger. Die
Nachrichtenagenturen, auf kurze, klare Informationen bedacht,
meldeten daraufhin, Berlin werde den Armeniergenozid nicht in seinen
Lehrplan aufnehmen. Nein, sagt der Böger-Sprecher Frisse, so könne
man das nicht interpretieren. Lehrplanziel in Berlin seien
"Kompetenzen", einzelne Themen, die dorthin führen sollen, müsse kein
Lehrplan aufzählen.
Gute Lehrer ficht so etwas nicht an. Als ein Lehrstück eigener Art
sieht Manfred Behrens vom Ossietzky-Gymnasium in Berlin-Pankow die
verwunschenen Politiker-Statements. Gemeinsam mit Kollegen hat er an
Matthias Platzeck geschrieben und ihm empfohlen, seinen Briefwechsel
mit türkischen Diplomaten den Schulbuchverlagen zu übergeben, weil
diese Dokumente die Schwierigkeiten mit der Wahrheit besser erhellen
als mancher Kommentar in den (seltenen) Lehrmaterialien zum Thema.
Mit Schülern der Abiturstufe hat er den Genozid unter anderem auch im
Deutschunterricht behandelt, die Romane von Franz Werfel, Edgar
Hilsenrath, Armin T. Wegner und anderen ergänzt in Geschichtsstunden
und Politischer Weltkunde. Entstanden ist daraus eine kleine
Ausstellung. Behrens bestätigt wie viele seiner Kollegen, daß es im
Prinzip keiner besonderen Aufforderung bedarf, das schwierige Thema
in den Unterricht zu nehmen. Doch eine Hervorhebung im Lehrplan habe
durchaus Vorteile, denn die Schulbuchverlage könnten sich endlich
aufgefordert sehen, ihre bislang recht spärlichen Angebote zu
erweitern.
Tatsächlich muß man lange suchen, um in Geschichtsbüchern, die das
Osmanische Reich oder die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg
behandeln, mehr als eine Erwähnung der Armeniertragödie zu finden. In
Band 1 "Epochen und Strukturen" (Diesterweg Verlag) ist es ein
einziger Satz, der jedoch allen diplomatischen Tiefenprüfungen
standhalten dürfte: "Die türkische Politik erzwungener Assimilation
von oben", heißt es dort, "provozierte Widerstand von unten, zunächst
der Armenier, gesteigert zu Massakern an Armeniern 1895/96, 1909 und
im Schatten des ersten Weltkrieges 1915/16, als die Türken durch
muslimische Kurden rund eine Million Armenier ermorden ließen." Der
Schroedel Verlag behandelt das Thema als einziger in seiner
"Geschichte konkret" ausführlicher und vor allem so kontrovers, wie
die Debatte in der EU und der Türkei auch geführt wird.
Weiterführendes Unterrichtsmaterial gibt es in Deutschland so gut wie
nicht, was erklärt, warum sich jetzt sehr viele Lehrer an das
Bochumer Genozidforschungsinstitut wandten, dessen Lehrbuch zu
Prozessen und Strukturen kollektiver Gewalt und Völkermord
Brandenburger Politiker in vorauseilendem Gehorsam wieder
abbestellten. Die Schulen sind also zuweilen besser als ihr Ruf und
vor allem couragierter als Politiker, wenn es darum geht, unsere
Standards historischer Aufklärung gegen ideologische Interpretationen
zu verteidigen.
Faruk Sen, Direktor des Essener Institutes für Türkeistudien, ist
trotzdem nicht wohl bei dem Gedanken, der Armeniergenozid, dessen
exemplarische Bedeutung er durchaus anerkennt, könnte im Unterricht
behandelt werden, ehe sich Armenien und die Türkei auf eine
"gemeinsame Sicht" geeinigt hätten. Er wolle dafür plädieren, das
Thema einstweilen aus dem Unterricht herauszuhalten, weil er fürchte,
Vorbehalte gegen Migranten könnten sich verstärken. Die
Ossietzky-Schule in Berlin-Kreuzberg würde ihm da nicht zustimmen.
Anders als die gleichnamige Lehranstalt in Pankow wird sie vor allem
von Migrantenkindern, darunter viele Türken, besucht. Schulleiter
Rähme weiß, daß Armenien für einige Eltern seiner Schüler ein
Reizthema ist, doch kein Lehrer mag sich vorschreiben lassen, deshalb
auf Aufklärung zu verzichten.
Die Reaktionen auf den grotesken Potsdamer Lehrplanstreit, darunter
irritierend viele wütende Attacken türkischer Akademiker, zeigen aber
auch, daß es hier um mehr geht als um eine Schulstunde. Die einen
würden es lieber als "interkulturellen Schulkonflikt" wieder unter
den Teppich kehren, doch mehren sich die Stimmen, die eine Klärung
fordern. "Über den eher beiläufigen Anlaß hinaus müssen wir eine
grundsätzliche Debatte über europäische Standards der
Erinnerungskultur anstoßen", sagt Martin Sabrow, Direktor des
Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschungen, "gerade weil der
Armeniergenozid einen umstrittenen Konflikt repräsentiert, bei dem
ein Generalkonsens nicht in Sicht ist."
--Boundary_(ID_5WRKguxpJ+j1iHuoI1yhmA)--
11. Februar 2005
Schwierige Wahrheit;
Schulen und Schulbuchverlage ringen mit dem Armeniergenozid
Ist der Skandal um die Streichung des Genozids an den Armeniern aus
dem einzigen deutschen Geschichtslehrplan, in dem er jemals
aufgeführt wurde, beigelegt? Und wenn ja, wie? Eine präzise Antwort
darauf ist schwierig, ja unmöglich, weil es gleichzeitig mehrere zu
geben scheint. Gemeinsam ist ihnen nur, daß sie fast alle so klingen,
als handle es sich um Antworten auf Anfragen an den legendären Sender
Eriwan.
Haben nun türkische Diplomaten den brandenburgischen
Ministerpräsidenten bei Lammcarré in Rotweinjus dazu gebracht, den
Klammersatz zum Völkermord, den es ihrer Ansicht nach nie gab, zu
streichen? Im Prinzip nein, hatte schließlich der türkische
Botschafter der "Berliner Zeitung" gesagt. Sein Konsul sei in Potsdam
nur vorstellig geworden, um die türkische Sicht auf Vorgänge zu
erläutern, die im Westen als Genozid der Türken an den Armeniern
wahrgenommen würden. Doch werde immer verschwiegen, daß in diesen
gewaltsamen Auseinandersetzungen mehr Muslime als Armenier den Tod
fanden. Auch der Ministerpräsident sagt, nein, er habe die Streichung
nicht wegen der türkischen Diplomaten veranlaßt. Aber es bleibe bei
der Korrektur, gleichwohl gehöre das Thema in den Unterricht. Ähnlich
antwortete der Berliner Bildungssenator Böger. Die
Nachrichtenagenturen, auf kurze, klare Informationen bedacht,
meldeten daraufhin, Berlin werde den Armeniergenozid nicht in seinen
Lehrplan aufnehmen. Nein, sagt der Böger-Sprecher Frisse, so könne
man das nicht interpretieren. Lehrplanziel in Berlin seien
"Kompetenzen", einzelne Themen, die dorthin führen sollen, müsse kein
Lehrplan aufzählen.
Gute Lehrer ficht so etwas nicht an. Als ein Lehrstück eigener Art
sieht Manfred Behrens vom Ossietzky-Gymnasium in Berlin-Pankow die
verwunschenen Politiker-Statements. Gemeinsam mit Kollegen hat er an
Matthias Platzeck geschrieben und ihm empfohlen, seinen Briefwechsel
mit türkischen Diplomaten den Schulbuchverlagen zu übergeben, weil
diese Dokumente die Schwierigkeiten mit der Wahrheit besser erhellen
als mancher Kommentar in den (seltenen) Lehrmaterialien zum Thema.
Mit Schülern der Abiturstufe hat er den Genozid unter anderem auch im
Deutschunterricht behandelt, die Romane von Franz Werfel, Edgar
Hilsenrath, Armin T. Wegner und anderen ergänzt in Geschichtsstunden
und Politischer Weltkunde. Entstanden ist daraus eine kleine
Ausstellung. Behrens bestätigt wie viele seiner Kollegen, daß es im
Prinzip keiner besonderen Aufforderung bedarf, das schwierige Thema
in den Unterricht zu nehmen. Doch eine Hervorhebung im Lehrplan habe
durchaus Vorteile, denn die Schulbuchverlage könnten sich endlich
aufgefordert sehen, ihre bislang recht spärlichen Angebote zu
erweitern.
Tatsächlich muß man lange suchen, um in Geschichtsbüchern, die das
Osmanische Reich oder die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg
behandeln, mehr als eine Erwähnung der Armeniertragödie zu finden. In
Band 1 "Epochen und Strukturen" (Diesterweg Verlag) ist es ein
einziger Satz, der jedoch allen diplomatischen Tiefenprüfungen
standhalten dürfte: "Die türkische Politik erzwungener Assimilation
von oben", heißt es dort, "provozierte Widerstand von unten, zunächst
der Armenier, gesteigert zu Massakern an Armeniern 1895/96, 1909 und
im Schatten des ersten Weltkrieges 1915/16, als die Türken durch
muslimische Kurden rund eine Million Armenier ermorden ließen." Der
Schroedel Verlag behandelt das Thema als einziger in seiner
"Geschichte konkret" ausführlicher und vor allem so kontrovers, wie
die Debatte in der EU und der Türkei auch geführt wird.
Weiterführendes Unterrichtsmaterial gibt es in Deutschland so gut wie
nicht, was erklärt, warum sich jetzt sehr viele Lehrer an das
Bochumer Genozidforschungsinstitut wandten, dessen Lehrbuch zu
Prozessen und Strukturen kollektiver Gewalt und Völkermord
Brandenburger Politiker in vorauseilendem Gehorsam wieder
abbestellten. Die Schulen sind also zuweilen besser als ihr Ruf und
vor allem couragierter als Politiker, wenn es darum geht, unsere
Standards historischer Aufklärung gegen ideologische Interpretationen
zu verteidigen.
Faruk Sen, Direktor des Essener Institutes für Türkeistudien, ist
trotzdem nicht wohl bei dem Gedanken, der Armeniergenozid, dessen
exemplarische Bedeutung er durchaus anerkennt, könnte im Unterricht
behandelt werden, ehe sich Armenien und die Türkei auf eine
"gemeinsame Sicht" geeinigt hätten. Er wolle dafür plädieren, das
Thema einstweilen aus dem Unterricht herauszuhalten, weil er fürchte,
Vorbehalte gegen Migranten könnten sich verstärken. Die
Ossietzky-Schule in Berlin-Kreuzberg würde ihm da nicht zustimmen.
Anders als die gleichnamige Lehranstalt in Pankow wird sie vor allem
von Migrantenkindern, darunter viele Türken, besucht. Schulleiter
Rähme weiß, daß Armenien für einige Eltern seiner Schüler ein
Reizthema ist, doch kein Lehrer mag sich vorschreiben lassen, deshalb
auf Aufklärung zu verzichten.
Die Reaktionen auf den grotesken Potsdamer Lehrplanstreit, darunter
irritierend viele wütende Attacken türkischer Akademiker, zeigen aber
auch, daß es hier um mehr geht als um eine Schulstunde. Die einen
würden es lieber als "interkulturellen Schulkonflikt" wieder unter
den Teppich kehren, doch mehren sich die Stimmen, die eine Klärung
fordern. "Über den eher beiläufigen Anlaß hinaus müssen wir eine
grundsätzliche Debatte über europäische Standards der
Erinnerungskultur anstoßen", sagt Martin Sabrow, Direktor des
Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschungen, "gerade weil der
Armeniergenozid einen umstrittenen Konflikt repräsentiert, bei dem
ein Generalkonsens nicht in Sicht ist."
--Boundary_(ID_5WRKguxpJ+j1iHuoI1yhmA)--