Announcement

Collapse
No announcement yet.

The Bundestag, Turkey, the Genocide of Armenians - and the...

Collapse
X
 
  • Filter
  • Time
  • Show
Clear All
new posts

  • The Bundestag, Turkey, the Genocide of Armenians - and the...

    Frankfurter Rundschau
    12. Juli 2005

    Avoiding the truth:
    The Bundestag, Turkey, the Genocide of Armenians - and the
    falsification of history by using wrong words

    Vermeidung der Wahrheit ;
    Der Bundestag, die Türkei, der Genozid an den Armeniern - und von der
    Verfälschung der Geschichte durch falsche Worte

    Von Wolfgang Benz

    Der Deutsche Bundestag hat am 16. Juni 2005 unter Punkt 6 der
    Tagesordnung eine Dreiviertelstunde lang über "Gedenken anlässlich
    des 90. Jahrestages des Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an
    den Armeniern am 24. April 1915" diskutiert. Deutschland müsse zur
    Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen, lautete die
    Absicht.

    Die Redner waren sachkundig, zeigten sich über die historischen
    Ereignisse gut informiert und nannten, was geschehen war, beim Namen:
    Völkermord. Die Abgeordneten waren auch sehr zufrieden mit ihrem Tun,
    spendeten sich für den Ernst und die Würde und die Einmütigkeit
    Beifall und verabschiedeten einstimmig eine Resolution, die alles
    zunichte machte.

    Um den voraussehbaren Ausbruch türkischer Paranoia zu verhindern, war
    nicht vom Genozid die Rede - das ist die geplante, organisierte und
    ideologisch begründete Vernichtung einer ethnischen oder kulturellen
    Gruppe, eines Volkes - sondern von Vertreibungen und Massakern. Nur
    einmal, in der Begründung, heißt es distanziert, zahlreiche
    unabhängige Historiker würden "die Vertreibung und Vernichtung der
    Armenier als Völkermord" bezeichnen. Die Türken, denen man eine
    Lektion in Erinnerungskultur erteilen wollte, ohne ihnen durch
    schmerzliche Wahrheit zu nahe zu treten, haben die Behutsamkeit und
    den leisen Tritt nicht gedankt. Regierungschef Erdogan äußerte sich
    beleidigend über seinen Kollegen Schröder und in Berlin rumorten
    türkische Patrioten, demonstrierten mit kräftiger Wallung nationalen
    Gefühls ihr Geschichtsverständnis.

    Zu lernen gibt es auf beiden Seiten noch vieles. Die deutschen
    Politiker könnten erkennen, dass sprachliche Kosmetik nichts hilft,
    die Türken werden irgendwann wohl einsehen, dass Wut kein Mittel
    gegen die historische Wahrheit ist. Ärgerlich und kontraproduktiv ist
    jedenfalls der beliebige Umgang mit Begriffen, die präzise definierte
    Sachverhalte beschreiben, die nicht austauschbar sind, die aber
    politischem Kalkül folgend verwendet werden. Das Massaker ist etwas
    anderes als der Pogrom, "ethnische Säuberung" ist nicht das gleiche
    wie Vertreibung. Völkermord als organisierter Vernichtungswille einer
    Intention folgend und nach einem System praktiziert ist Höhepunkt und
    nicht steigerbare Summe von Exzessen und Massakern, die Deportation
    oder Austreibung einschließen und nie auf Zufall oder plötzlichem
    Anlass beruhen. Der Genozid wird mit den Methoden des Massakers, der
    Exekution, des Todesmarsches, der Verelendung im Lager verübt, er
    lässt sich jedoch nicht verharmlosen durch die Reduktion auf eine
    seiner Methoden. Das sollten auch Politiker bedenken, wenn sie mit
    historischer Erkenntnis umgehen, sie steht nicht zur Disposition nach
    politischer Zweckmäßigkeit oder diplomatischem Kalkül.

    Die jüngere und jüngste Geschichte bietet überreichlich die Exempel
    für die Notwendigkeit sorgfältigen Umgangs mit Realität und Wahrheit.


    Im Oktober 1946 ging der Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zu
    Ende. Große Hoffnungen waren an dieses Tribunal geknüpft worden: Das
    erste Ziel war die Bestrafung der Verantwortlichen und die Sühne für
    die Anzettelung des Zweiten Weltkriegs, für den Völkermord an den
    Juden Europas, für Versklavung und Vernichtung osteuropäischer
    Völker, für den Genozid an Sinti und Roma, für die Annexion und
    Ausbeutung von Ländern und Ressourcen im Zeichen
    nationalsozialistischer Ideologie und für Delikte, deren Etikett
    "ethnische Säuberung" noch nicht erfunden war, obwohl sie bereits
    Tradition im 20. Jahrhundert hatten. Das Nürnberger Tribunal sollte
    aber auch neues Recht setzen. Das war das zweite Ziel. Im Namen der
    Gerechtigkeit und des internationalen Friedens sollte der Prozess den
    Beginn einer neuen Ära des Völkerrechts markieren und zu
    verwirklichen beginnen, wovon Pazifisten schon vor dem Ersten
    Weltkrieg geträumt hatten: Eine Gerichtsbarkeit der gesitteten
    Völkerfamilie, die abschreckend, läuternd und verhindernd wirken
    müsste.

    Die Verbrechen der Nationalsozialisten, genozidaler Staatsterror wie
    der des Hitler-Regimes, sollten sich niemals und nirgendwo
    wiederholen dürfen. Das war auch die Gründungsidee der Vereinten
    Nationen, die als Anti-Hitler-Koalition, als Kriegsbündnis,
    entstanden und als Weltorganisation im Herbst 1945 feierlich
    gegründet worden war. Die Fortentwicklung des Völkerrechts durch eine
    internationale Strafgerichtsbarkeit kam nach dem Nürnberger Prozess -
    vordergründig wegen des Kalten Krieges - ins Stocken. Die politische
    Ächtung des Genozid war aber ein programmatisches Ziel der Vereinten
    Nationen. Bald nach den Nürnberger Urteilen, im Dezember 1946, fand
    sich die Mehrheit der Generalversammlung der UN zu einer Resolution,
    die Völkermord als Verbrechen gemäß internationalem Recht
    brandmarkte.

    Zwei Jahre später, am 9. Dezember 1948, wurde aus der Resolution die
    rechtlich verbindliche Konvention über die Verhütung und Bestrafung
    des Völkermords. Die exakte und verbindliche Definition für
    Völkermord als Absicht, "eine nationale, ethnische, rassische oder
    religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören" wurde
    festgeschrieben.

    Politische und rechtliche Konsequenzen aus den Gewaltkatastrophen der
    ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind also gezogen worden, in die
    Form internationaler Abkommen und nationaler Gesetze gekleidet und
    durch zuständige Organisationen administrativ handhabbar gemacht
    worden. Aber für die Lebenswelt vieler Menschen blieb das folgenlos.
    In ihren Alltag, auf dem indischen Subkontinent, in Palästina, in
    Kambodscha, im Kaukasus, in vielen Ländern Afrikas brachen
    Katastrophen ein in den Formen des Kolonialkriegs oder des
    Unabhängigkeitskampfes, mit Begleiterscheinungen wie Deportation,
    Massaker, Plünderung, Verlust des sozialen Status und Folgen wie
    Flucht und Vertreibung, schließlich der Verelendung, ohne dass die
    Konventionen des Völkerrechts, die Resolutionen den UN, die feierlich
    ratifizierten und signierten Pakte daran etwas geändert hätten.

    Das zwanzigste Jahrhundert ist als das Jahrhundert der Völkermorde
    historisch etikettiert. Der Herero-Aufstand in Deutsch Südwestafrika,
    als Rebellion eines Kolonialvolkes von den Zeitgenossen wahrgenommen,
    als Vernichtungsfeldzug von deutschen Truppen exekutiert, steht am
    Anfang des Jahrhunderts.

    Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich im Ersten
    Weltkrieg trug, mit eineinhalb Millionen Opfern, alle Merkmale
    genozidalen Staatsterrors gegen eine Minderheit: den ideologisch
    begründeten Vorsatz, die systematische Durchführung, die Tarnung aus
    Staatsräson und die Verleugnung aus patriotischen Motiven durch den
    Nachfolgestaat der Tätergesellschaft bis zum heutigen Tag.

    Der Holocaust war einzigartig wegen seiner ideologischen
    Zielgerichtetheit, wegen der Verbindung aus Propaganda zur Akzeptanz
    des Völkermords und gleichzeitiger Geheimhaltung der Methoden, der
    Orte und des Personals seiner Durchführung; der Mord an sechs
    Millionen europäischen Juden war auch in der Dimension einzigartig.
    Der Holocaust wurde als Tat einer zivilisierten und hoch entwickelten
    Nation zum Inbegriff des Menschheitsverbrechens. Damit ist der
    Judenmord einerseits dem Vergleich entzogen, andererseits Maßstab für
    genozidale Handlungen.

    Bevölkerungstransfer, Deportation, Vertreibung, Gewalt gegen
    Zivilpersonen sind als Herrschaftspraxis totalitärer Systeme
    stigmatisiert; die in Potsdam 1945 beschlossene Aussiedlung der
    Deutschen aus den wieder erstandenen Staaten Tschechoslowakei und
    Polen war dagegen als friedenstiftende Maßnahme gedacht und in der
    Illusion propagiert worden, sie könnte in humanen Formen durchgeführt
    werden. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa war aber
    auch ein Reflex auf die vorangehende deutsche Okkupation, sie sollte
    als Abschluss einer Epoche der Gewalt konnotiert werden, nicht als
    Missachtung der Menschenrechte einer ethnischen Gruppe. Aber es war
    die falsche Methode.

    Fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Menschheit
    auf dem Weg zum Frieden oder doch wenigstens zu friedlichen
    Konfliktlösungen nicht erkennbar vorangekommen. Im Gegenteil. Nach
    Angaben des Roten Kreuzes gab es 1995 weltweit 56 Konflikte, die mit
    Waffengewalt ausgetragen wurden, dabei 17 Millionen Flüchtlinge. Es
    waren überwiegend nationale Krisen, deren Folgen zu 95 Prozent die
    Zivilbevölkerung - etwa 43 Millionen Menschen - trafen. Was als
    Bürgerkrieg oder ethnischer Konflikt, als Rebellion oder als
    Unabhängigkeitskampf in einer weit entfernten Region, in Afrika
    vielleicht oder irgendwo in Mittelasien, stattfand, wurde aus
    doppelter Distanz, der geographischen Entfernung und des kulturellen
    Unterschieds, (bei dem sich der Europäer traditionell auf der höheren
    Stufe vermutet) gesehen. Das heißt, die Ereignisse werden zur
    Kenntnis genommen, aber nicht mit Interesse und Empathie, sondern so,
    wie man vom unvermeidlichen Unglück Fremder erfährt, das einen selbst
    nicht weiter angeht. So werden die Konflikte und Gewalttaten per
    definitionem aus der Welt geschafft oder wenigstens marginalisiert.

    Die Größenordnung der Ereignisse, bei denen Menschen von Haus und Hof
    vertrieben, gefoltert, massakriert wurden, weil ihre religiöse,
    ethnische, kulturelle oder soziale Gruppenzugehörigkeit den Anlass
    bot, spielte für die Wahrnehmung der Unbeteiligten und weit
    Entfernten keine Rolle.

    In Kambodscha kam 1975 der Anführer der Roten Khmer, Pol Pot, an die
    Macht. Politisch sozialisiert im Widerstand gegen die französische
    Herrschaft in Indochina als Gefolgsmann Ho Chi Mins, versucht Pol Pot
    ein ländliches radikalkommunistisches System zu errichten. 1975, im
    Jahre Null der neuen Ära, wird das Geld abgeschafft, werden Städte
    aufgelöst, beginnt die Ausrottung von Eigentümern, Gebildeten,
    Fremden. Bei Todesmärschen der Stadtbevölkerung in die ländlichen
    Kollektive, in Gefängnissen, Folterzentren, durch Hunger und Seuchen,
    durch Massaker und Mord gehen Menschen 1,6 bis 2,4 Millionen Menschen
    zugrunde. Am Tatbestand des Genozids ist kein Zweifel möglich. Der
    Verantwortliche, Pol Pot, 1979 entmachtet und bis an sein Lebensende
    1998 unter Hausarrest, aber weiter unbehelligt, hat kein
    Unrechtsbewusstsein. Ein Jahr vor seinem Tod, 1997, sagt er zu einem
    amerikanischen Reporter, er habe nur Kambodscha gegen den Aggressor
    Vietnam verteidigt, er sieht sich als Befreier des "Volkes und der
    Rasse Kambodschas". Alles was er tat, tat er für sein Land, sagt er,
    und der hunderttausendfache Mord existiere nur in der Propaganda der
    Vietnamesen.

    Der letzte große Völkermord des 20. Jahrhunderts geschah unter den
    Augen der Weltöffentlichkeit, aus unmittelbarer Nähe beobachtet von
    Einheiten mit blauen Helmen, die von den UN entsandt waren. Von April
    bis Juli 1994 wurden in Ruanda von Mordbanden in staatlichem Auftrag
    Hunderttausende vom Säugling bis zum Greis abgeschlachtet, weil sie
    der Volksgruppe der Tutsi angehörten. Der Tatbestand erfüllte alle
    Merkmale des Völkermords nach der Konvention von 1948, er hatte sich
    durch Massaker in Burundi und in Ruanda über Jahrzehnte angekündigt.
    International bagatellisiert als "Stammesfehden" zwischen Hutu und
    Tutsi oder als "Stammeskriege", Ausschreitungen, "spontaner Ausbruch
    des aufgestauten ethnischen Hasses" oder als "unkontrollierter
    Blutrausch" fand dreizehn Wochen lang ein Genozid statt, der "das
    Ergebnis einer bewussten Entscheidung" gewesen war, "getroffen von
    einer modernen Elite, die sich durch Verbreitung von Hass und Angst
    den Machterhalt zu sichern suchte".

    Der genozidale Schrecken der 90er Jahre, der auf dem Balkan ausbrach,
    als der Staat Jugoslawien in Agonie und Auflösung fiel, hatte einen
    eigenen, einen neuen Namen. Der Begriff "ethnische Säuberung" war
    bald in aller Munde, wurde zuerst in den Medien, schließlich auch in
    der Wissenschaft benützt, obwohl ihm die exakte Definition fehlte.
    Die Selbstverständlichkeit, mit der die Vokabel in Gebrauch genommen
    und damit objektiviert wurde, irritierte nur Wenige. Der
    Schriftsteller György Konrád machte darauf aufmerksam und erinnerte
    damit zugleich daran, wie selbstverständlich der mit dem ominösen
    Begriff umschriebene Sachverhalt offenbar hingenommen wurde: "Die
    euphemistische und ohne Anführungszeichen erfolgende Übernahme eines
    unflätig rassistischen Wortes in den internationalen Sprachgebrauch
    markiert das zweideutige Verhältnis der Zuständigen zum Thema".

    Die Entstehung des infamen Begriffs "ethnische Säuberung" ist genau
    zu lokalisieren und zu datieren. Im Mai 1992 wurde auf dem Balkan
    propagiert und praktiziert, was seither darunter verstanden wird.
    Serben, die in Bosnien Muslime vertrieben und ausrotteten,
    verwendeten den Begriff auf zweierlei Weise. Aggressiv war er gegen
    Muslime und Kroaten gerichtet und war Instrument hegemonialen und
    expansionistischen Strebens, defensiv benutzten Serben die Vokabel,
    um Aufmerksamkeit zu lenken auf das, was zehn Jahre zuvor von
    Kosovo-Albanern den Serben im Kosovo zugefügt worden war. Bald sprach
    man auch von "ethnischer Säuberung", bei der Kroaten die Täter,
    Muslime die Opfer waren, dann waren Kroaten, schließlich Albaner im
    Kosovo Objekte serbischer Aggression.

    Dass die atavistische Gruppengewalt in Europa anlässlich des Zerfalls
    von Jugoslawien losbrach und eskalierte, hat das Entsetzen ausgelöst,
    das gegenüber früheren Exzessen in anderen Weltregionen fehlte. Dass
    der Balkan Schauplatz des Mordens aus ethnischen, das heißt
    religiösen, kulturellen, sozialen Motiven wurde, ließ sich nach
    verbreiteter Ansicht mit den Traditionen der Nationalstaatsbildung
    seit dem 19. Jahrhundert auf dem Territorium des Osmanischen Reiches,
    den kriegerischen Verwicklungen des 20. Jahrhunderts und dem dort
    entwickelten Modell des Bevölkerungsaustausches zwischen der Türkei
    und Griechenland in den 20er Jahren bis hin zum Zypernkonflikt
    interpretieren. Aber das ist als Erklärung zu kurz gegriffen. Die
    "ethnische Säuberung" unterscheidet sich vom Genozid durch Intention
    und Ziel. Der Völkermord zielt auf die Vernichtung einer Gruppe, die
    "ethnische Säuberung" zielt auf deren Vertreibung von ihrem
    Territorium und die Auslöschung ihrer kulturellen Spuren, um das
    Gebiet in Besitz zu nehmen. Die Methoden sind freilich nicht ohne
    weiteres zu unterscheiden, Vergewaltigung, Folter, Mord stehen am
    Ende der Skala, die mit Ausgrenzung, Stigmatisierung, Beraubung und
    Entrechtung beginnt.

    Wolfgang Benz~ Wolfgang Benz, geboren 1941, ist Professor an der
    Technischen Universität Berlin. Er leitet das Zentrums für
    Antisemitismusforschung und ist Herausgeber des Jahrbuchs für
    Antisemitismusforschung, Mitheraus geber der Dachauer Hefte und der
    Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 1992 erhielt er den
    Geschwister- Scholl-Preis. Benz hat zahlreiche Werke zur deutschen
    Geschichte im 20. Jahrhundert veröffentlicht.
Working...
X