Frankfurter Rundschau
12. Juli 2005
Avoiding the truth:
The Bundestag, Turkey, the Genocide of Armenians - and the
falsification of history by using wrong words
Vermeidung der Wahrheit ;
Der Bundestag, die Türkei, der Genozid an den Armeniern - und von der
Verfälschung der Geschichte durch falsche Worte
Von Wolfgang Benz
Der Deutsche Bundestag hat am 16. Juni 2005 unter Punkt 6 der
Tagesordnung eine Dreiviertelstunde lang über "Gedenken anlässlich
des 90. Jahrestages des Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an
den Armeniern am 24. April 1915" diskutiert. Deutschland müsse zur
Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen, lautete die
Absicht.
Die Redner waren sachkundig, zeigten sich über die historischen
Ereignisse gut informiert und nannten, was geschehen war, beim Namen:
Völkermord. Die Abgeordneten waren auch sehr zufrieden mit ihrem Tun,
spendeten sich für den Ernst und die Würde und die Einmütigkeit
Beifall und verabschiedeten einstimmig eine Resolution, die alles
zunichte machte.
Um den voraussehbaren Ausbruch türkischer Paranoia zu verhindern, war
nicht vom Genozid die Rede - das ist die geplante, organisierte und
ideologisch begründete Vernichtung einer ethnischen oder kulturellen
Gruppe, eines Volkes - sondern von Vertreibungen und Massakern. Nur
einmal, in der Begründung, heißt es distanziert, zahlreiche
unabhängige Historiker würden "die Vertreibung und Vernichtung der
Armenier als Völkermord" bezeichnen. Die Türken, denen man eine
Lektion in Erinnerungskultur erteilen wollte, ohne ihnen durch
schmerzliche Wahrheit zu nahe zu treten, haben die Behutsamkeit und
den leisen Tritt nicht gedankt. Regierungschef Erdogan äußerte sich
beleidigend über seinen Kollegen Schröder und in Berlin rumorten
türkische Patrioten, demonstrierten mit kräftiger Wallung nationalen
Gefühls ihr Geschichtsverständnis.
Zu lernen gibt es auf beiden Seiten noch vieles. Die deutschen
Politiker könnten erkennen, dass sprachliche Kosmetik nichts hilft,
die Türken werden irgendwann wohl einsehen, dass Wut kein Mittel
gegen die historische Wahrheit ist. Ärgerlich und kontraproduktiv ist
jedenfalls der beliebige Umgang mit Begriffen, die präzise definierte
Sachverhalte beschreiben, die nicht austauschbar sind, die aber
politischem Kalkül folgend verwendet werden. Das Massaker ist etwas
anderes als der Pogrom, "ethnische Säuberung" ist nicht das gleiche
wie Vertreibung. Völkermord als organisierter Vernichtungswille einer
Intention folgend und nach einem System praktiziert ist Höhepunkt und
nicht steigerbare Summe von Exzessen und Massakern, die Deportation
oder Austreibung einschließen und nie auf Zufall oder plötzlichem
Anlass beruhen. Der Genozid wird mit den Methoden des Massakers, der
Exekution, des Todesmarsches, der Verelendung im Lager verübt, er
lässt sich jedoch nicht verharmlosen durch die Reduktion auf eine
seiner Methoden. Das sollten auch Politiker bedenken, wenn sie mit
historischer Erkenntnis umgehen, sie steht nicht zur Disposition nach
politischer Zweckmäßigkeit oder diplomatischem Kalkül.
Die jüngere und jüngste Geschichte bietet überreichlich die Exempel
für die Notwendigkeit sorgfältigen Umgangs mit Realität und Wahrheit.
Im Oktober 1946 ging der Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zu
Ende. Große Hoffnungen waren an dieses Tribunal geknüpft worden: Das
erste Ziel war die Bestrafung der Verantwortlichen und die Sühne für
die Anzettelung des Zweiten Weltkriegs, für den Völkermord an den
Juden Europas, für Versklavung und Vernichtung osteuropäischer
Völker, für den Genozid an Sinti und Roma, für die Annexion und
Ausbeutung von Ländern und Ressourcen im Zeichen
nationalsozialistischer Ideologie und für Delikte, deren Etikett
"ethnische Säuberung" noch nicht erfunden war, obwohl sie bereits
Tradition im 20. Jahrhundert hatten. Das Nürnberger Tribunal sollte
aber auch neues Recht setzen. Das war das zweite Ziel. Im Namen der
Gerechtigkeit und des internationalen Friedens sollte der Prozess den
Beginn einer neuen Ära des Völkerrechts markieren und zu
verwirklichen beginnen, wovon Pazifisten schon vor dem Ersten
Weltkrieg geträumt hatten: Eine Gerichtsbarkeit der gesitteten
Völkerfamilie, die abschreckend, läuternd und verhindernd wirken
müsste.
Die Verbrechen der Nationalsozialisten, genozidaler Staatsterror wie
der des Hitler-Regimes, sollten sich niemals und nirgendwo
wiederholen dürfen. Das war auch die Gründungsidee der Vereinten
Nationen, die als Anti-Hitler-Koalition, als Kriegsbündnis,
entstanden und als Weltorganisation im Herbst 1945 feierlich
gegründet worden war. Die Fortentwicklung des Völkerrechts durch eine
internationale Strafgerichtsbarkeit kam nach dem Nürnberger Prozess -
vordergründig wegen des Kalten Krieges - ins Stocken. Die politische
Ächtung des Genozid war aber ein programmatisches Ziel der Vereinten
Nationen. Bald nach den Nürnberger Urteilen, im Dezember 1946, fand
sich die Mehrheit der Generalversammlung der UN zu einer Resolution,
die Völkermord als Verbrechen gemäß internationalem Recht
brandmarkte.
Zwei Jahre später, am 9. Dezember 1948, wurde aus der Resolution die
rechtlich verbindliche Konvention über die Verhütung und Bestrafung
des Völkermords. Die exakte und verbindliche Definition für
Völkermord als Absicht, "eine nationale, ethnische, rassische oder
religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören" wurde
festgeschrieben.
Politische und rechtliche Konsequenzen aus den Gewaltkatastrophen der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind also gezogen worden, in die
Form internationaler Abkommen und nationaler Gesetze gekleidet und
durch zuständige Organisationen administrativ handhabbar gemacht
worden. Aber für die Lebenswelt vieler Menschen blieb das folgenlos.
In ihren Alltag, auf dem indischen Subkontinent, in Palästina, in
Kambodscha, im Kaukasus, in vielen Ländern Afrikas brachen
Katastrophen ein in den Formen des Kolonialkriegs oder des
Unabhängigkeitskampfes, mit Begleiterscheinungen wie Deportation,
Massaker, Plünderung, Verlust des sozialen Status und Folgen wie
Flucht und Vertreibung, schließlich der Verelendung, ohne dass die
Konventionen des Völkerrechts, die Resolutionen den UN, die feierlich
ratifizierten und signierten Pakte daran etwas geändert hätten.
Das zwanzigste Jahrhundert ist als das Jahrhundert der Völkermorde
historisch etikettiert. Der Herero-Aufstand in Deutsch Südwestafrika,
als Rebellion eines Kolonialvolkes von den Zeitgenossen wahrgenommen,
als Vernichtungsfeldzug von deutschen Truppen exekutiert, steht am
Anfang des Jahrhunderts.
Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich im Ersten
Weltkrieg trug, mit eineinhalb Millionen Opfern, alle Merkmale
genozidalen Staatsterrors gegen eine Minderheit: den ideologisch
begründeten Vorsatz, die systematische Durchführung, die Tarnung aus
Staatsräson und die Verleugnung aus patriotischen Motiven durch den
Nachfolgestaat der Tätergesellschaft bis zum heutigen Tag.
Der Holocaust war einzigartig wegen seiner ideologischen
Zielgerichtetheit, wegen der Verbindung aus Propaganda zur Akzeptanz
des Völkermords und gleichzeitiger Geheimhaltung der Methoden, der
Orte und des Personals seiner Durchführung; der Mord an sechs
Millionen europäischen Juden war auch in der Dimension einzigartig.
Der Holocaust wurde als Tat einer zivilisierten und hoch entwickelten
Nation zum Inbegriff des Menschheitsverbrechens. Damit ist der
Judenmord einerseits dem Vergleich entzogen, andererseits Maßstab für
genozidale Handlungen.
Bevölkerungstransfer, Deportation, Vertreibung, Gewalt gegen
Zivilpersonen sind als Herrschaftspraxis totalitärer Systeme
stigmatisiert; die in Potsdam 1945 beschlossene Aussiedlung der
Deutschen aus den wieder erstandenen Staaten Tschechoslowakei und
Polen war dagegen als friedenstiftende Maßnahme gedacht und in der
Illusion propagiert worden, sie könnte in humanen Formen durchgeführt
werden. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa war aber
auch ein Reflex auf die vorangehende deutsche Okkupation, sie sollte
als Abschluss einer Epoche der Gewalt konnotiert werden, nicht als
Missachtung der Menschenrechte einer ethnischen Gruppe. Aber es war
die falsche Methode.
Fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Menschheit
auf dem Weg zum Frieden oder doch wenigstens zu friedlichen
Konfliktlösungen nicht erkennbar vorangekommen. Im Gegenteil. Nach
Angaben des Roten Kreuzes gab es 1995 weltweit 56 Konflikte, die mit
Waffengewalt ausgetragen wurden, dabei 17 Millionen Flüchtlinge. Es
waren überwiegend nationale Krisen, deren Folgen zu 95 Prozent die
Zivilbevölkerung - etwa 43 Millionen Menschen - trafen. Was als
Bürgerkrieg oder ethnischer Konflikt, als Rebellion oder als
Unabhängigkeitskampf in einer weit entfernten Region, in Afrika
vielleicht oder irgendwo in Mittelasien, stattfand, wurde aus
doppelter Distanz, der geographischen Entfernung und des kulturellen
Unterschieds, (bei dem sich der Europäer traditionell auf der höheren
Stufe vermutet) gesehen. Das heißt, die Ereignisse werden zur
Kenntnis genommen, aber nicht mit Interesse und Empathie, sondern so,
wie man vom unvermeidlichen Unglück Fremder erfährt, das einen selbst
nicht weiter angeht. So werden die Konflikte und Gewalttaten per
definitionem aus der Welt geschafft oder wenigstens marginalisiert.
Die Größenordnung der Ereignisse, bei denen Menschen von Haus und Hof
vertrieben, gefoltert, massakriert wurden, weil ihre religiöse,
ethnische, kulturelle oder soziale Gruppenzugehörigkeit den Anlass
bot, spielte für die Wahrnehmung der Unbeteiligten und weit
Entfernten keine Rolle.
In Kambodscha kam 1975 der Anführer der Roten Khmer, Pol Pot, an die
Macht. Politisch sozialisiert im Widerstand gegen die französische
Herrschaft in Indochina als Gefolgsmann Ho Chi Mins, versucht Pol Pot
ein ländliches radikalkommunistisches System zu errichten. 1975, im
Jahre Null der neuen Ära, wird das Geld abgeschafft, werden Städte
aufgelöst, beginnt die Ausrottung von Eigentümern, Gebildeten,
Fremden. Bei Todesmärschen der Stadtbevölkerung in die ländlichen
Kollektive, in Gefängnissen, Folterzentren, durch Hunger und Seuchen,
durch Massaker und Mord gehen Menschen 1,6 bis 2,4 Millionen Menschen
zugrunde. Am Tatbestand des Genozids ist kein Zweifel möglich. Der
Verantwortliche, Pol Pot, 1979 entmachtet und bis an sein Lebensende
1998 unter Hausarrest, aber weiter unbehelligt, hat kein
Unrechtsbewusstsein. Ein Jahr vor seinem Tod, 1997, sagt er zu einem
amerikanischen Reporter, er habe nur Kambodscha gegen den Aggressor
Vietnam verteidigt, er sieht sich als Befreier des "Volkes und der
Rasse Kambodschas". Alles was er tat, tat er für sein Land, sagt er,
und der hunderttausendfache Mord existiere nur in der Propaganda der
Vietnamesen.
Der letzte große Völkermord des 20. Jahrhunderts geschah unter den
Augen der Weltöffentlichkeit, aus unmittelbarer Nähe beobachtet von
Einheiten mit blauen Helmen, die von den UN entsandt waren. Von April
bis Juli 1994 wurden in Ruanda von Mordbanden in staatlichem Auftrag
Hunderttausende vom Säugling bis zum Greis abgeschlachtet, weil sie
der Volksgruppe der Tutsi angehörten. Der Tatbestand erfüllte alle
Merkmale des Völkermords nach der Konvention von 1948, er hatte sich
durch Massaker in Burundi und in Ruanda über Jahrzehnte angekündigt.
International bagatellisiert als "Stammesfehden" zwischen Hutu und
Tutsi oder als "Stammeskriege", Ausschreitungen, "spontaner Ausbruch
des aufgestauten ethnischen Hasses" oder als "unkontrollierter
Blutrausch" fand dreizehn Wochen lang ein Genozid statt, der "das
Ergebnis einer bewussten Entscheidung" gewesen war, "getroffen von
einer modernen Elite, die sich durch Verbreitung von Hass und Angst
den Machterhalt zu sichern suchte".
Der genozidale Schrecken der 90er Jahre, der auf dem Balkan ausbrach,
als der Staat Jugoslawien in Agonie und Auflösung fiel, hatte einen
eigenen, einen neuen Namen. Der Begriff "ethnische Säuberung" war
bald in aller Munde, wurde zuerst in den Medien, schließlich auch in
der Wissenschaft benützt, obwohl ihm die exakte Definition fehlte.
Die Selbstverständlichkeit, mit der die Vokabel in Gebrauch genommen
und damit objektiviert wurde, irritierte nur Wenige. Der
Schriftsteller György Konrád machte darauf aufmerksam und erinnerte
damit zugleich daran, wie selbstverständlich der mit dem ominösen
Begriff umschriebene Sachverhalt offenbar hingenommen wurde: "Die
euphemistische und ohne Anführungszeichen erfolgende Übernahme eines
unflätig rassistischen Wortes in den internationalen Sprachgebrauch
markiert das zweideutige Verhältnis der Zuständigen zum Thema".
Die Entstehung des infamen Begriffs "ethnische Säuberung" ist genau
zu lokalisieren und zu datieren. Im Mai 1992 wurde auf dem Balkan
propagiert und praktiziert, was seither darunter verstanden wird.
Serben, die in Bosnien Muslime vertrieben und ausrotteten,
verwendeten den Begriff auf zweierlei Weise. Aggressiv war er gegen
Muslime und Kroaten gerichtet und war Instrument hegemonialen und
expansionistischen Strebens, defensiv benutzten Serben die Vokabel,
um Aufmerksamkeit zu lenken auf das, was zehn Jahre zuvor von
Kosovo-Albanern den Serben im Kosovo zugefügt worden war. Bald sprach
man auch von "ethnischer Säuberung", bei der Kroaten die Täter,
Muslime die Opfer waren, dann waren Kroaten, schließlich Albaner im
Kosovo Objekte serbischer Aggression.
Dass die atavistische Gruppengewalt in Europa anlässlich des Zerfalls
von Jugoslawien losbrach und eskalierte, hat das Entsetzen ausgelöst,
das gegenüber früheren Exzessen in anderen Weltregionen fehlte. Dass
der Balkan Schauplatz des Mordens aus ethnischen, das heißt
religiösen, kulturellen, sozialen Motiven wurde, ließ sich nach
verbreiteter Ansicht mit den Traditionen der Nationalstaatsbildung
seit dem 19. Jahrhundert auf dem Territorium des Osmanischen Reiches,
den kriegerischen Verwicklungen des 20. Jahrhunderts und dem dort
entwickelten Modell des Bevölkerungsaustausches zwischen der Türkei
und Griechenland in den 20er Jahren bis hin zum Zypernkonflikt
interpretieren. Aber das ist als Erklärung zu kurz gegriffen. Die
"ethnische Säuberung" unterscheidet sich vom Genozid durch Intention
und Ziel. Der Völkermord zielt auf die Vernichtung einer Gruppe, die
"ethnische Säuberung" zielt auf deren Vertreibung von ihrem
Territorium und die Auslöschung ihrer kulturellen Spuren, um das
Gebiet in Besitz zu nehmen. Die Methoden sind freilich nicht ohne
weiteres zu unterscheiden, Vergewaltigung, Folter, Mord stehen am
Ende der Skala, die mit Ausgrenzung, Stigmatisierung, Beraubung und
Entrechtung beginnt.
Wolfgang Benz~ Wolfgang Benz, geboren 1941, ist Professor an der
Technischen Universität Berlin. Er leitet das Zentrums für
Antisemitismusforschung und ist Herausgeber des Jahrbuchs für
Antisemitismusforschung, Mitheraus geber der Dachauer Hefte und der
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 1992 erhielt er den
Geschwister- Scholl-Preis. Benz hat zahlreiche Werke zur deutschen
Geschichte im 20. Jahrhundert veröffentlicht.
12. Juli 2005
Avoiding the truth:
The Bundestag, Turkey, the Genocide of Armenians - and the
falsification of history by using wrong words
Vermeidung der Wahrheit ;
Der Bundestag, die Türkei, der Genozid an den Armeniern - und von der
Verfälschung der Geschichte durch falsche Worte
Von Wolfgang Benz
Der Deutsche Bundestag hat am 16. Juni 2005 unter Punkt 6 der
Tagesordnung eine Dreiviertelstunde lang über "Gedenken anlässlich
des 90. Jahrestages des Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an
den Armeniern am 24. April 1915" diskutiert. Deutschland müsse zur
Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen, lautete die
Absicht.
Die Redner waren sachkundig, zeigten sich über die historischen
Ereignisse gut informiert und nannten, was geschehen war, beim Namen:
Völkermord. Die Abgeordneten waren auch sehr zufrieden mit ihrem Tun,
spendeten sich für den Ernst und die Würde und die Einmütigkeit
Beifall und verabschiedeten einstimmig eine Resolution, die alles
zunichte machte.
Um den voraussehbaren Ausbruch türkischer Paranoia zu verhindern, war
nicht vom Genozid die Rede - das ist die geplante, organisierte und
ideologisch begründete Vernichtung einer ethnischen oder kulturellen
Gruppe, eines Volkes - sondern von Vertreibungen und Massakern. Nur
einmal, in der Begründung, heißt es distanziert, zahlreiche
unabhängige Historiker würden "die Vertreibung und Vernichtung der
Armenier als Völkermord" bezeichnen. Die Türken, denen man eine
Lektion in Erinnerungskultur erteilen wollte, ohne ihnen durch
schmerzliche Wahrheit zu nahe zu treten, haben die Behutsamkeit und
den leisen Tritt nicht gedankt. Regierungschef Erdogan äußerte sich
beleidigend über seinen Kollegen Schröder und in Berlin rumorten
türkische Patrioten, demonstrierten mit kräftiger Wallung nationalen
Gefühls ihr Geschichtsverständnis.
Zu lernen gibt es auf beiden Seiten noch vieles. Die deutschen
Politiker könnten erkennen, dass sprachliche Kosmetik nichts hilft,
die Türken werden irgendwann wohl einsehen, dass Wut kein Mittel
gegen die historische Wahrheit ist. Ärgerlich und kontraproduktiv ist
jedenfalls der beliebige Umgang mit Begriffen, die präzise definierte
Sachverhalte beschreiben, die nicht austauschbar sind, die aber
politischem Kalkül folgend verwendet werden. Das Massaker ist etwas
anderes als der Pogrom, "ethnische Säuberung" ist nicht das gleiche
wie Vertreibung. Völkermord als organisierter Vernichtungswille einer
Intention folgend und nach einem System praktiziert ist Höhepunkt und
nicht steigerbare Summe von Exzessen und Massakern, die Deportation
oder Austreibung einschließen und nie auf Zufall oder plötzlichem
Anlass beruhen. Der Genozid wird mit den Methoden des Massakers, der
Exekution, des Todesmarsches, der Verelendung im Lager verübt, er
lässt sich jedoch nicht verharmlosen durch die Reduktion auf eine
seiner Methoden. Das sollten auch Politiker bedenken, wenn sie mit
historischer Erkenntnis umgehen, sie steht nicht zur Disposition nach
politischer Zweckmäßigkeit oder diplomatischem Kalkül.
Die jüngere und jüngste Geschichte bietet überreichlich die Exempel
für die Notwendigkeit sorgfältigen Umgangs mit Realität und Wahrheit.
Im Oktober 1946 ging der Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess zu
Ende. Große Hoffnungen waren an dieses Tribunal geknüpft worden: Das
erste Ziel war die Bestrafung der Verantwortlichen und die Sühne für
die Anzettelung des Zweiten Weltkriegs, für den Völkermord an den
Juden Europas, für Versklavung und Vernichtung osteuropäischer
Völker, für den Genozid an Sinti und Roma, für die Annexion und
Ausbeutung von Ländern und Ressourcen im Zeichen
nationalsozialistischer Ideologie und für Delikte, deren Etikett
"ethnische Säuberung" noch nicht erfunden war, obwohl sie bereits
Tradition im 20. Jahrhundert hatten. Das Nürnberger Tribunal sollte
aber auch neues Recht setzen. Das war das zweite Ziel. Im Namen der
Gerechtigkeit und des internationalen Friedens sollte der Prozess den
Beginn einer neuen Ära des Völkerrechts markieren und zu
verwirklichen beginnen, wovon Pazifisten schon vor dem Ersten
Weltkrieg geträumt hatten: Eine Gerichtsbarkeit der gesitteten
Völkerfamilie, die abschreckend, läuternd und verhindernd wirken
müsste.
Die Verbrechen der Nationalsozialisten, genozidaler Staatsterror wie
der des Hitler-Regimes, sollten sich niemals und nirgendwo
wiederholen dürfen. Das war auch die Gründungsidee der Vereinten
Nationen, die als Anti-Hitler-Koalition, als Kriegsbündnis,
entstanden und als Weltorganisation im Herbst 1945 feierlich
gegründet worden war. Die Fortentwicklung des Völkerrechts durch eine
internationale Strafgerichtsbarkeit kam nach dem Nürnberger Prozess -
vordergründig wegen des Kalten Krieges - ins Stocken. Die politische
Ächtung des Genozid war aber ein programmatisches Ziel der Vereinten
Nationen. Bald nach den Nürnberger Urteilen, im Dezember 1946, fand
sich die Mehrheit der Generalversammlung der UN zu einer Resolution,
die Völkermord als Verbrechen gemäß internationalem Recht
brandmarkte.
Zwei Jahre später, am 9. Dezember 1948, wurde aus der Resolution die
rechtlich verbindliche Konvention über die Verhütung und Bestrafung
des Völkermords. Die exakte und verbindliche Definition für
Völkermord als Absicht, "eine nationale, ethnische, rassische oder
religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören" wurde
festgeschrieben.
Politische und rechtliche Konsequenzen aus den Gewaltkatastrophen der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind also gezogen worden, in die
Form internationaler Abkommen und nationaler Gesetze gekleidet und
durch zuständige Organisationen administrativ handhabbar gemacht
worden. Aber für die Lebenswelt vieler Menschen blieb das folgenlos.
In ihren Alltag, auf dem indischen Subkontinent, in Palästina, in
Kambodscha, im Kaukasus, in vielen Ländern Afrikas brachen
Katastrophen ein in den Formen des Kolonialkriegs oder des
Unabhängigkeitskampfes, mit Begleiterscheinungen wie Deportation,
Massaker, Plünderung, Verlust des sozialen Status und Folgen wie
Flucht und Vertreibung, schließlich der Verelendung, ohne dass die
Konventionen des Völkerrechts, die Resolutionen den UN, die feierlich
ratifizierten und signierten Pakte daran etwas geändert hätten.
Das zwanzigste Jahrhundert ist als das Jahrhundert der Völkermorde
historisch etikettiert. Der Herero-Aufstand in Deutsch Südwestafrika,
als Rebellion eines Kolonialvolkes von den Zeitgenossen wahrgenommen,
als Vernichtungsfeldzug von deutschen Truppen exekutiert, steht am
Anfang des Jahrhunderts.
Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich im Ersten
Weltkrieg trug, mit eineinhalb Millionen Opfern, alle Merkmale
genozidalen Staatsterrors gegen eine Minderheit: den ideologisch
begründeten Vorsatz, die systematische Durchführung, die Tarnung aus
Staatsräson und die Verleugnung aus patriotischen Motiven durch den
Nachfolgestaat der Tätergesellschaft bis zum heutigen Tag.
Der Holocaust war einzigartig wegen seiner ideologischen
Zielgerichtetheit, wegen der Verbindung aus Propaganda zur Akzeptanz
des Völkermords und gleichzeitiger Geheimhaltung der Methoden, der
Orte und des Personals seiner Durchführung; der Mord an sechs
Millionen europäischen Juden war auch in der Dimension einzigartig.
Der Holocaust wurde als Tat einer zivilisierten und hoch entwickelten
Nation zum Inbegriff des Menschheitsverbrechens. Damit ist der
Judenmord einerseits dem Vergleich entzogen, andererseits Maßstab für
genozidale Handlungen.
Bevölkerungstransfer, Deportation, Vertreibung, Gewalt gegen
Zivilpersonen sind als Herrschaftspraxis totalitärer Systeme
stigmatisiert; die in Potsdam 1945 beschlossene Aussiedlung der
Deutschen aus den wieder erstandenen Staaten Tschechoslowakei und
Polen war dagegen als friedenstiftende Maßnahme gedacht und in der
Illusion propagiert worden, sie könnte in humanen Formen durchgeführt
werden. Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa war aber
auch ein Reflex auf die vorangehende deutsche Okkupation, sie sollte
als Abschluss einer Epoche der Gewalt konnotiert werden, nicht als
Missachtung der Menschenrechte einer ethnischen Gruppe. Aber es war
die falsche Methode.
Fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Menschheit
auf dem Weg zum Frieden oder doch wenigstens zu friedlichen
Konfliktlösungen nicht erkennbar vorangekommen. Im Gegenteil. Nach
Angaben des Roten Kreuzes gab es 1995 weltweit 56 Konflikte, die mit
Waffengewalt ausgetragen wurden, dabei 17 Millionen Flüchtlinge. Es
waren überwiegend nationale Krisen, deren Folgen zu 95 Prozent die
Zivilbevölkerung - etwa 43 Millionen Menschen - trafen. Was als
Bürgerkrieg oder ethnischer Konflikt, als Rebellion oder als
Unabhängigkeitskampf in einer weit entfernten Region, in Afrika
vielleicht oder irgendwo in Mittelasien, stattfand, wurde aus
doppelter Distanz, der geographischen Entfernung und des kulturellen
Unterschieds, (bei dem sich der Europäer traditionell auf der höheren
Stufe vermutet) gesehen. Das heißt, die Ereignisse werden zur
Kenntnis genommen, aber nicht mit Interesse und Empathie, sondern so,
wie man vom unvermeidlichen Unglück Fremder erfährt, das einen selbst
nicht weiter angeht. So werden die Konflikte und Gewalttaten per
definitionem aus der Welt geschafft oder wenigstens marginalisiert.
Die Größenordnung der Ereignisse, bei denen Menschen von Haus und Hof
vertrieben, gefoltert, massakriert wurden, weil ihre religiöse,
ethnische, kulturelle oder soziale Gruppenzugehörigkeit den Anlass
bot, spielte für die Wahrnehmung der Unbeteiligten und weit
Entfernten keine Rolle.
In Kambodscha kam 1975 der Anführer der Roten Khmer, Pol Pot, an die
Macht. Politisch sozialisiert im Widerstand gegen die französische
Herrschaft in Indochina als Gefolgsmann Ho Chi Mins, versucht Pol Pot
ein ländliches radikalkommunistisches System zu errichten. 1975, im
Jahre Null der neuen Ära, wird das Geld abgeschafft, werden Städte
aufgelöst, beginnt die Ausrottung von Eigentümern, Gebildeten,
Fremden. Bei Todesmärschen der Stadtbevölkerung in die ländlichen
Kollektive, in Gefängnissen, Folterzentren, durch Hunger und Seuchen,
durch Massaker und Mord gehen Menschen 1,6 bis 2,4 Millionen Menschen
zugrunde. Am Tatbestand des Genozids ist kein Zweifel möglich. Der
Verantwortliche, Pol Pot, 1979 entmachtet und bis an sein Lebensende
1998 unter Hausarrest, aber weiter unbehelligt, hat kein
Unrechtsbewusstsein. Ein Jahr vor seinem Tod, 1997, sagt er zu einem
amerikanischen Reporter, er habe nur Kambodscha gegen den Aggressor
Vietnam verteidigt, er sieht sich als Befreier des "Volkes und der
Rasse Kambodschas". Alles was er tat, tat er für sein Land, sagt er,
und der hunderttausendfache Mord existiere nur in der Propaganda der
Vietnamesen.
Der letzte große Völkermord des 20. Jahrhunderts geschah unter den
Augen der Weltöffentlichkeit, aus unmittelbarer Nähe beobachtet von
Einheiten mit blauen Helmen, die von den UN entsandt waren. Von April
bis Juli 1994 wurden in Ruanda von Mordbanden in staatlichem Auftrag
Hunderttausende vom Säugling bis zum Greis abgeschlachtet, weil sie
der Volksgruppe der Tutsi angehörten. Der Tatbestand erfüllte alle
Merkmale des Völkermords nach der Konvention von 1948, er hatte sich
durch Massaker in Burundi und in Ruanda über Jahrzehnte angekündigt.
International bagatellisiert als "Stammesfehden" zwischen Hutu und
Tutsi oder als "Stammeskriege", Ausschreitungen, "spontaner Ausbruch
des aufgestauten ethnischen Hasses" oder als "unkontrollierter
Blutrausch" fand dreizehn Wochen lang ein Genozid statt, der "das
Ergebnis einer bewussten Entscheidung" gewesen war, "getroffen von
einer modernen Elite, die sich durch Verbreitung von Hass und Angst
den Machterhalt zu sichern suchte".
Der genozidale Schrecken der 90er Jahre, der auf dem Balkan ausbrach,
als der Staat Jugoslawien in Agonie und Auflösung fiel, hatte einen
eigenen, einen neuen Namen. Der Begriff "ethnische Säuberung" war
bald in aller Munde, wurde zuerst in den Medien, schließlich auch in
der Wissenschaft benützt, obwohl ihm die exakte Definition fehlte.
Die Selbstverständlichkeit, mit der die Vokabel in Gebrauch genommen
und damit objektiviert wurde, irritierte nur Wenige. Der
Schriftsteller György Konrád machte darauf aufmerksam und erinnerte
damit zugleich daran, wie selbstverständlich der mit dem ominösen
Begriff umschriebene Sachverhalt offenbar hingenommen wurde: "Die
euphemistische und ohne Anführungszeichen erfolgende Übernahme eines
unflätig rassistischen Wortes in den internationalen Sprachgebrauch
markiert das zweideutige Verhältnis der Zuständigen zum Thema".
Die Entstehung des infamen Begriffs "ethnische Säuberung" ist genau
zu lokalisieren und zu datieren. Im Mai 1992 wurde auf dem Balkan
propagiert und praktiziert, was seither darunter verstanden wird.
Serben, die in Bosnien Muslime vertrieben und ausrotteten,
verwendeten den Begriff auf zweierlei Weise. Aggressiv war er gegen
Muslime und Kroaten gerichtet und war Instrument hegemonialen und
expansionistischen Strebens, defensiv benutzten Serben die Vokabel,
um Aufmerksamkeit zu lenken auf das, was zehn Jahre zuvor von
Kosovo-Albanern den Serben im Kosovo zugefügt worden war. Bald sprach
man auch von "ethnischer Säuberung", bei der Kroaten die Täter,
Muslime die Opfer waren, dann waren Kroaten, schließlich Albaner im
Kosovo Objekte serbischer Aggression.
Dass die atavistische Gruppengewalt in Europa anlässlich des Zerfalls
von Jugoslawien losbrach und eskalierte, hat das Entsetzen ausgelöst,
das gegenüber früheren Exzessen in anderen Weltregionen fehlte. Dass
der Balkan Schauplatz des Mordens aus ethnischen, das heißt
religiösen, kulturellen, sozialen Motiven wurde, ließ sich nach
verbreiteter Ansicht mit den Traditionen der Nationalstaatsbildung
seit dem 19. Jahrhundert auf dem Territorium des Osmanischen Reiches,
den kriegerischen Verwicklungen des 20. Jahrhunderts und dem dort
entwickelten Modell des Bevölkerungsaustausches zwischen der Türkei
und Griechenland in den 20er Jahren bis hin zum Zypernkonflikt
interpretieren. Aber das ist als Erklärung zu kurz gegriffen. Die
"ethnische Säuberung" unterscheidet sich vom Genozid durch Intention
und Ziel. Der Völkermord zielt auf die Vernichtung einer Gruppe, die
"ethnische Säuberung" zielt auf deren Vertreibung von ihrem
Territorium und die Auslöschung ihrer kulturellen Spuren, um das
Gebiet in Besitz zu nehmen. Die Methoden sind freilich nicht ohne
weiteres zu unterscheiden, Vergewaltigung, Folter, Mord stehen am
Ende der Skala, die mit Ausgrenzung, Stigmatisierung, Beraubung und
Entrechtung beginnt.
Wolfgang Benz~ Wolfgang Benz, geboren 1941, ist Professor an der
Technischen Universität Berlin. Er leitet das Zentrums für
Antisemitismusforschung und ist Herausgeber des Jahrbuchs für
Antisemitismusforschung, Mitheraus geber der Dachauer Hefte und der
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 1992 erhielt er den
Geschwister- Scholl-Preis. Benz hat zahlreiche Werke zur deutschen
Geschichte im 20. Jahrhundert veröffentlicht.