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Bagdad-Bahn

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    Türken und Armenier


    Bagdad-Bahn

    An der Peripherie erscheint, was eine Gesellschaft aus ihrer Mitte
    hervorbringt - und umgekehrt. Die Gezeiten, die diesen Austausch
    bestimmen, mögen wechselhaft sein, Hoch- und Tiefstände schwanken, die
    Bewegung zwischen Zentrum und Peripherie selbst aber scheint für
    moderne Gesellschaften konstitutiv. Denn dieser Austausch läßt nicht
    nur Ideen und Geschmacksvorstellungen zirkulieren, wie die Geschichte
    des modernen Tanzes, der Mode und der Kunst belegt. Im Bewegungsspiel
    zwischen Mitte und Rand entsteht vielmehr jener Ausblick, jene
    unbeschriebene Fläche zwischen Flut und Ebbe, auf die hinaus nicht nur
    die ästhetische, sondern auch die politische und soziale
    Gedankenfreiheit zieht. Dort malt sie ihre Projekte aus, dort auch
    trifft sich die politische Imagination, losgelöst von den herrschenden
    Konventionen und Selbstverständlichkeiten.

    Was in der Mitte einer Gesellschaft nicht einmal gesagt werden darf,
    kann an ihrem Rand sogar getan werden. Diese Freiheit durch Abstand
    ist ethisch vollkommen unbestimmt, in ihr kann alles und jedes
    geschehen, das Beste wie das Schlimmste. Reinhart Koselleck hat in
    seinem Essay zur Jahrtausendwende (F.A.Z. vom 27. November 1999)
    darauf aufmerksam gemacht, daß die symbolisch-prognostischen Daten für
    das Europa des zwanzigsten Jahrhunderts außerhalb des Kontinents zu
    suchen seien: in Afrika, Südamerika und Asien. Aus gutem Grund also
    widmet die Genozid-Forschung ihre Aufmerksamkeit der Gewalt in den
    Kolonien, die von Impulsen angefacht und geleitet worden schien, die
    später auf Europa selbst in Verfolgungs- und Vernichtungspolitik
    zurückschlagen sollten.

    Aber was heißt hier zurückschlagen? Die koloniale Gewalt ist
    tatsächlich eine Gewalt, deren Anwendung in keiner Weise auf bestimmte
    ferne Territorien oder Gruppen zu beschränken war. Auch ist sie nicht
    hinreichend mit bestimmten Konfliktkonstellationen zu
    erklären. Extreme Vorstellungen von Gewalt und Vernichtung entstanden
    vielmehr, so Mihran Dabag, gerade durch den engen Bezug auf die eigene
    Nation, ob in Deutschland, Frankreich, Italien oder
    Großbritannien. Gewaltpolitik in der Moderne sei nicht einfach "als
    Eskalation von Konflikten, auch nicht als Übersteigerung von
    Nationalismen oder Ideologemen" zu interpretieren.

    Die Gewalt, die man anderen angedeihen ließ, sollte Bestandteil des
    eigenen nationalen Erziehungsprogramms sein, das
    geschichtsphilosophisch und machtpolitisch gedeckt wurde
    ("National-koloniale Konstruktionen", in: "Kolonialismus. Genozid und
    Gedächtnis", hrsg. von Mihran Dabag, Horst Gründer und
    Uwe-K. Ketelsen, Wilhelm Fink Verlag 2004). Dabag zeigt, wie die
    Kolonialpolitik als "Experiment der nationalen Selbstvergewisserung"
    angelegt war, das die Zeitgenossen als Prüfstein der eigenen
    weltpolitischen Tauglichkeit verstanden. Genauer noch: Bei diesem
    Experiment ging es um die Möglichkeit des Neuen. Es ging um
    Überwindung, um die Unvermittelbarkeit von altem und neuem
    Nationskonzept, die in der Beschwörung der neuen Aufgaben selbst
    hergestellt wird. Dabag legt dar, wie die Kolonialpolitik die Nation
    umdefinierte, indem sie das Nationale vom eigenen Territorium entband
    und ihr die Aufgabe stellte, sich ihren Raum zu suchen. Diese
    ungeheuere Dynamisierung des nationalen Selbstbegriffs - die zweite
    Universalisierung nach der Französischen Revolution - entwickelte im
    Verbund mit Rassekonzepten eine Sprengkraft, deren Gewalt nach außen
    wie nach innen die Fundamente der früheren nationalpolitischen
    Zielsetzung zerstörte - und deren Moral.

    Die deutsche Kolonialpolitik Ende des neunzehnten Jahrhunderts, so
    Dabag, sei nicht zu trennen von den "Erwägungen um die Gestaltung
    einer modernen deutschen Nation und den Forderungen nach ihrer
    handlungsfähigen Verwirklichung". Es entstand eine neue Hierarchie an
    Werten und politischen Prioritäten, deren imperialistischer Anspruch
    sich nicht nur gegen die bescheidenere frühere Nationalkonzeption
    richtete, sondern auch Vorrang vor religiösen Selbstbindungen
    beanspruchte, wie sie das Christentum bereithielt. Erst diese
    Revolution oder Extension der nationalen Selbstvorstellung, die seit
    dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts ihre eigene Tradition in
    Biographien und Mentalitäten hervorbrachte, läßt verständlich werden,
    warum die europäischen Nationen im zwanzigsten Jahrhundert in Formen
    extremer Gewalt nicht ihren eigenen Verfall, sondern ihre Zukunft
    sehen wollten.

    Aus dem neuen Horizont erwuchs auch eine neue Bedenkenlosigkeit und
    Brutalität. Wer Berlin und Bagdad zu zwei Polen einer imperialen
    Einheit erheben wollte, sollte in der Tat das Schicksal der Armenier
    im Osmanischen Reich nicht mehr als Schicksal christlicher Brüder
    betrachten dürfen. Das armenische Schicksal war vielmehr das eigene
    Drohbild. Es war das Schicksal eines "herabgesunkenen Volkes", das im
    "großen Weltenringen" niedergedrückt wurde und bald verschwinden
    würde. Das jungtürkische Regime durfte also während des Ersten
    Weltkriegs nicht allein auf machtpolitische Rücksicht des Deutschen
    Reiches rechnen, sondern auch auf weltanschauliches Verständnis,
    versuchte es doch gerade selbst jenen Sprung in die neue nationale
    Selbstbehauptung. Diese sah im Armenier die Verkörperung des neuen
    Feindes in alter Erscheinung, dessen Vernichtung Teil des
    Erziehungsprogramms des eigenen Volkes sein sollte. So ist es denn
    auch nicht in erster Linie die Religion, sondern der unverminderte
    türkische Nationalismus mit seinen gewaltsamen Ermächtigungen, der das
    größte Hindernis für die Aufnahme der Europäischen Nation
    darstellt. Diese nämlich ist im Kern nichts anderes als eine
    Selbst-Schutzgemeinschaft vor dem Nationalen.

    MICHAEL JEISMANN
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