Die Welt, Deutschland
14 Juli 2005
"We did not commit Genocide" - An Interview with Hikmet Özdemir,
chief historian of the Turkish Government, on the Genocide of the
Armenians.
"Wir haben keinen Genozid begangen"
Ein Gespräch mit Hikmet Özdemir, dem Chefhistoriker der türkischen
Regierung, zur Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern
DIE WELT: Herr Özdemir, warum steigt die Türkei erst jetzt in die
Debatte um die armenische Tragödie ein? Schämte man sich, oder war
das Thema politisch zu riskant?
Hikmet Özdemir: Das ist eine gute Frage. Ich habe sie mir selbst oft
gestellt. Ich glaube, es hat mit all den blutigen Konflikten,
Vertreibungen und Migrationen 1911 bis 1923 zu tun. Atatürk hat
danach eine Politik der "Rehabilitation" betrieben. Schmerzhafte
Wunden nicht wieder aufzureißen, war eine Art, sich von dem Trauma zu
erholen. Aber jetzt herrschen andere Bedingungen. Die armenische
Diaspora hat die Welt von der Genozid-These überzeugt, und dieses
Vorurteil kann schwere politische Folgen für die Türkei haben. Wir
müssen daher Klarheit schaffen. Wir fordern eine offene,
internationale Diskussion dieser Frage. Wir haben unsere Archive
geöffnet. Wir fordern alle anderen Beteiligten auf, auch ihre
Dokumente auf den Tisch zu legen.
DIE WELT: Es scheint auch ein großes Vorurteil zu geben - nämlich,
daß es keinen Genozid gab.
Özdemir: Wir haben keine Vorurteile. Ministerpräsident Erdogan hat
vorgeschlagen, eine internationale Historikerkommission unter
Beteiligung der damaligen Großmächte zu schaffen. Da sollen dann alle
Seiten ihre Dokumente auf den Tisch legen, und wenn dabei
herauskommt, daß es einen Genozid gab, werden wir das akzeptieren.
DIE WELT: Warum ist eine offene Diskussion in der Türkei so schwer?
Ist der politische Druck, gewisse Positionen zu beziehen, zu stark?
Özdemir: Es gibt bei uns keinen politischen Druck in der
Armenier-Debatte.
DIE WELT: Wie bitte? Kürzlich wurde eine internationale Konferenz zu
diesem Thema in Istanbul abgeblasen, nachdem der Justizminister sich
in wüstesten Verbalattacken gegen die Organisatoren erging.
Özdemir: Die Konferenz hätte stattfinden können. Niemand hat die
Organisatoren gezwungen. Ich bedaure, daß die Tagung nicht stattfand,
aber das geschah eher aus Propagandagründen, um Stimmung gegen die
Türkei zu machen.
DIE WELT: Der Deutsche Bundestag hat die Türkei aufgefordert, sich
ihrer Vergangenheit zu stellen.
Özdemir: Deutschland hat eine große Chance verpaßt. Es wäre der
ideale Vermittler in dieser Frage. Statt dessen wurde ein einseitiges
Urteil gefällt, noch dazu, ohne uns anzuhören. Ministerpräsident
Erdogan hatte angeboten, mich nach Berlin zu entsenden, um unser
Verständnis der Ereignisse zu erläutern. Die Deutschen haben das
abgelehnt.
DIE WELT: Welche Argumente würden Sie überhaupt akzeptieren, um der
Genozid-These beizupflichten?
Özdemir: Wenn jemand ein Dokument zeigt, aus dem hervorgeht, daß die
Regierung die Vernichtung der Armenier beabsichtigte, dann akzeptiere
ich das. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die Armenier kämpften
gegen uns, und ihre Deportation wurde aus militärischen Gründen
notwendig. Dabei geht aus allen Dokumenten hervor, daß die Regierung
um den Schutz der Zivilisten bemüht war, sogar die Vertreibung vom
Winter auf den Frühling verschob, um die Menschen zu schonen. Daß so
viele starben, war Folge der Kriegswirren, der Witterung, der
primitiven Umstände.
DIE WELT: Einen schriftlichen Vernichtungsbefehl gab es auch unter
Hitler nicht. So gesehen gab es keinen Holocaust.
Özdemir: Es gab bei uns keinen Haß gegen die Armenier wie in
Deutschland gegen die Juden, und Armenierhaß war nicht Bestandteil
der Staatsideologie wie der Antisemitismus in Deutschland. Es sind
ganz andere Ausgangslagen.
DIE WELT: Der Historiker Erich Zürcher - und viele andere - sagen, es
gab zwei Operationen. Die Vertreibung, die für sich genommen noch
nicht zum Völkermord führen mußte, und eine verdeckte Operation der
regierenden Jungtürken, die die Aufgabe hatte, die Vertreibung zum
Todesmarsch zu machen.
Özdemir: Im Rahmen einer internationalen Historikerkommission werden
alle relevanten Dokumente auf den Tisch kommen.
DIE WELT: Willy Brandts Kniefall in Warschau leitete eine Wende in
der Beziehung zwischen Polen und Deutschen ein. Ist ähnliches
zwischen der Türkei und Armenien denkbar?
Özdemir: Ich persönlich verbeuge mich vor allen armenischen Opfern.
Wir müssen aber nicht vergessen, daß allein 1915 mehr als 102 000
Türken von Armeniern getötet wurden, und insgesamt 570 000 Türken von
armenischer Hand starben. Wir brauchen Gesten der Aussöhnung auf
beiden Seiten. Aber Willy Brandts Kniefall wird bei uns in Verbindung
mit dem Holocaust gesehen, und da wir keinen Genozid begangen haben,
kann man das nicht vergleichen.
DIE WELT: 570 000 türkische Opfer? Am Ende starben nach gar mehr
Türken als Armenier?
Özdemir: Der Anteil an der Bevölkerung war bei den armenischen Opfern
größer, auch wenn in absoluten Zahlen vielleicht weniger Armenier als
Türken starben. Ich kann das noch nicht definitiv sagen, die Zahlen
werden wir im November veröffentlichen.
DIE WELT: Wie kann man zu einer Aussöhnung gelangen?
Özdemir: Atatürk hat nach dem Weltkrieg zu Briten und Australiern
gesagt: Mütter, weint nicht, eure Toten sind in unserer Brust. Sie
sind auch unsere Söhne geworden. - In diesem Sinne müssen wir
aufhören, Tote gegeneinander aufzurechnen.
Mit Hikmet Özdemir sprach Boris Kalnoky
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Hikmet Özdemir
Istanbul - Hikmet Özdemir ist ein Idealist. 1989 schrieb der
Historiker ein mutiges Buch, das ihn fast ruinierte: "Militär und
Regime". In ihm argumentierte er, das Militär habe einen "Staat im
Staate" errichtet, um die Grundlinien der türkischen Politik für
immer festzuschreiben. "Ich war danach zwei Jahre arbeitslos", sagt
der leise und bescheiden auftretende Mann.
Wie sich die Zeiten ändern. Heute ist er es, der Grundlinien der
Politik mitformuliert. Er ist als Leiter der Armenienabteilung der
Türkischen Historischen Gesellschaft der Mann, der die Welt davon
überzeugen soll, daß es keinen Genozid an den Armeniern gab. Özdemir
berät Regierung und Militär, prägt die Argumente, mit denen die
armenischen Thesen entkräftet werden sollen, und erklärt die
türkische Sicht der Dinge in TV-Auftritten und Interviews.
Ist der mutige Polit-Rebell zum Manipulator der Geschichte im Dienste
der Regierung geworden? Im Gespräch mit ihm gewinnt man den Eindruck,
daß er zutiefst an seine Thesen glaubt, aber nicht nur als
Historiker, sondern auch als Türke spricht. Das ist nicht unbedingt
kompatibel - so wenig wie auf der Gegenseite armenischer Patriotismus
historische Genauigkeit bedeutet.
Hikmet Özdemirs Rhetorik ist die eines Mannes, der eine Festung
verteidigt. Er konzentriert das Gespräch auf zu verteidigende
Stellungen ("der Vertreibungsbeschluß war kein Genozidbefehl"),
umgeht heikle Themen (Gab es eine verdeckte Operation der Jungtürken,
um die Vertreibung zum Todesmarsch zu machen?) und erhebt die
Abwesenheit schriftlicher Belege zum Beweis dafür, daß es keinen
Völkermord gab.
Die einfache Frage, ob die Genozid-Frage offen sei, will er selbst im
vierten Anlauf nicht mit Ja oder Nein beantworten. Ein Ja würde
bedeuten, daß es vielleicht einen Genozid gab, und ein Nein, daß die
Türkei zu keinem Dialog bereit ist. So sprechen Politiker, nicht
Historiker.
Ganz klar ist seine Liebe zum Vaterland und die Sorge um den Schaden,
den die Armenierdebatte dem türkischen Staat bereiten kann. Auch
Mitgefühl für die Opfer auf beiden Seiten ist unverkennbar. Özdemir
ist ein liebenswürdiger Mensch. Ob der Historiker recht hat oder die
Armenier oder beide, darüber wird man sich eines Tages einigen - wenn
die Gemüter ruhiger sind. oky
14 Juli 2005
"We did not commit Genocide" - An Interview with Hikmet Özdemir,
chief historian of the Turkish Government, on the Genocide of the
Armenians.
"Wir haben keinen Genozid begangen"
Ein Gespräch mit Hikmet Özdemir, dem Chefhistoriker der türkischen
Regierung, zur Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern
DIE WELT: Herr Özdemir, warum steigt die Türkei erst jetzt in die
Debatte um die armenische Tragödie ein? Schämte man sich, oder war
das Thema politisch zu riskant?
Hikmet Özdemir: Das ist eine gute Frage. Ich habe sie mir selbst oft
gestellt. Ich glaube, es hat mit all den blutigen Konflikten,
Vertreibungen und Migrationen 1911 bis 1923 zu tun. Atatürk hat
danach eine Politik der "Rehabilitation" betrieben. Schmerzhafte
Wunden nicht wieder aufzureißen, war eine Art, sich von dem Trauma zu
erholen. Aber jetzt herrschen andere Bedingungen. Die armenische
Diaspora hat die Welt von der Genozid-These überzeugt, und dieses
Vorurteil kann schwere politische Folgen für die Türkei haben. Wir
müssen daher Klarheit schaffen. Wir fordern eine offene,
internationale Diskussion dieser Frage. Wir haben unsere Archive
geöffnet. Wir fordern alle anderen Beteiligten auf, auch ihre
Dokumente auf den Tisch zu legen.
DIE WELT: Es scheint auch ein großes Vorurteil zu geben - nämlich,
daß es keinen Genozid gab.
Özdemir: Wir haben keine Vorurteile. Ministerpräsident Erdogan hat
vorgeschlagen, eine internationale Historikerkommission unter
Beteiligung der damaligen Großmächte zu schaffen. Da sollen dann alle
Seiten ihre Dokumente auf den Tisch legen, und wenn dabei
herauskommt, daß es einen Genozid gab, werden wir das akzeptieren.
DIE WELT: Warum ist eine offene Diskussion in der Türkei so schwer?
Ist der politische Druck, gewisse Positionen zu beziehen, zu stark?
Özdemir: Es gibt bei uns keinen politischen Druck in der
Armenier-Debatte.
DIE WELT: Wie bitte? Kürzlich wurde eine internationale Konferenz zu
diesem Thema in Istanbul abgeblasen, nachdem der Justizminister sich
in wüstesten Verbalattacken gegen die Organisatoren erging.
Özdemir: Die Konferenz hätte stattfinden können. Niemand hat die
Organisatoren gezwungen. Ich bedaure, daß die Tagung nicht stattfand,
aber das geschah eher aus Propagandagründen, um Stimmung gegen die
Türkei zu machen.
DIE WELT: Der Deutsche Bundestag hat die Türkei aufgefordert, sich
ihrer Vergangenheit zu stellen.
Özdemir: Deutschland hat eine große Chance verpaßt. Es wäre der
ideale Vermittler in dieser Frage. Statt dessen wurde ein einseitiges
Urteil gefällt, noch dazu, ohne uns anzuhören. Ministerpräsident
Erdogan hatte angeboten, mich nach Berlin zu entsenden, um unser
Verständnis der Ereignisse zu erläutern. Die Deutschen haben das
abgelehnt.
DIE WELT: Welche Argumente würden Sie überhaupt akzeptieren, um der
Genozid-These beizupflichten?
Özdemir: Wenn jemand ein Dokument zeigt, aus dem hervorgeht, daß die
Regierung die Vernichtung der Armenier beabsichtigte, dann akzeptiere
ich das. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die Armenier kämpften
gegen uns, und ihre Deportation wurde aus militärischen Gründen
notwendig. Dabei geht aus allen Dokumenten hervor, daß die Regierung
um den Schutz der Zivilisten bemüht war, sogar die Vertreibung vom
Winter auf den Frühling verschob, um die Menschen zu schonen. Daß so
viele starben, war Folge der Kriegswirren, der Witterung, der
primitiven Umstände.
DIE WELT: Einen schriftlichen Vernichtungsbefehl gab es auch unter
Hitler nicht. So gesehen gab es keinen Holocaust.
Özdemir: Es gab bei uns keinen Haß gegen die Armenier wie in
Deutschland gegen die Juden, und Armenierhaß war nicht Bestandteil
der Staatsideologie wie der Antisemitismus in Deutschland. Es sind
ganz andere Ausgangslagen.
DIE WELT: Der Historiker Erich Zürcher - und viele andere - sagen, es
gab zwei Operationen. Die Vertreibung, die für sich genommen noch
nicht zum Völkermord führen mußte, und eine verdeckte Operation der
regierenden Jungtürken, die die Aufgabe hatte, die Vertreibung zum
Todesmarsch zu machen.
Özdemir: Im Rahmen einer internationalen Historikerkommission werden
alle relevanten Dokumente auf den Tisch kommen.
DIE WELT: Willy Brandts Kniefall in Warschau leitete eine Wende in
der Beziehung zwischen Polen und Deutschen ein. Ist ähnliches
zwischen der Türkei und Armenien denkbar?
Özdemir: Ich persönlich verbeuge mich vor allen armenischen Opfern.
Wir müssen aber nicht vergessen, daß allein 1915 mehr als 102 000
Türken von Armeniern getötet wurden, und insgesamt 570 000 Türken von
armenischer Hand starben. Wir brauchen Gesten der Aussöhnung auf
beiden Seiten. Aber Willy Brandts Kniefall wird bei uns in Verbindung
mit dem Holocaust gesehen, und da wir keinen Genozid begangen haben,
kann man das nicht vergleichen.
DIE WELT: 570 000 türkische Opfer? Am Ende starben nach gar mehr
Türken als Armenier?
Özdemir: Der Anteil an der Bevölkerung war bei den armenischen Opfern
größer, auch wenn in absoluten Zahlen vielleicht weniger Armenier als
Türken starben. Ich kann das noch nicht definitiv sagen, die Zahlen
werden wir im November veröffentlichen.
DIE WELT: Wie kann man zu einer Aussöhnung gelangen?
Özdemir: Atatürk hat nach dem Weltkrieg zu Briten und Australiern
gesagt: Mütter, weint nicht, eure Toten sind in unserer Brust. Sie
sind auch unsere Söhne geworden. - In diesem Sinne müssen wir
aufhören, Tote gegeneinander aufzurechnen.
Mit Hikmet Özdemir sprach Boris Kalnoky
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Hikmet Özdemir
Istanbul - Hikmet Özdemir ist ein Idealist. 1989 schrieb der
Historiker ein mutiges Buch, das ihn fast ruinierte: "Militär und
Regime". In ihm argumentierte er, das Militär habe einen "Staat im
Staate" errichtet, um die Grundlinien der türkischen Politik für
immer festzuschreiben. "Ich war danach zwei Jahre arbeitslos", sagt
der leise und bescheiden auftretende Mann.
Wie sich die Zeiten ändern. Heute ist er es, der Grundlinien der
Politik mitformuliert. Er ist als Leiter der Armenienabteilung der
Türkischen Historischen Gesellschaft der Mann, der die Welt davon
überzeugen soll, daß es keinen Genozid an den Armeniern gab. Özdemir
berät Regierung und Militär, prägt die Argumente, mit denen die
armenischen Thesen entkräftet werden sollen, und erklärt die
türkische Sicht der Dinge in TV-Auftritten und Interviews.
Ist der mutige Polit-Rebell zum Manipulator der Geschichte im Dienste
der Regierung geworden? Im Gespräch mit ihm gewinnt man den Eindruck,
daß er zutiefst an seine Thesen glaubt, aber nicht nur als
Historiker, sondern auch als Türke spricht. Das ist nicht unbedingt
kompatibel - so wenig wie auf der Gegenseite armenischer Patriotismus
historische Genauigkeit bedeutet.
Hikmet Özdemirs Rhetorik ist die eines Mannes, der eine Festung
verteidigt. Er konzentriert das Gespräch auf zu verteidigende
Stellungen ("der Vertreibungsbeschluß war kein Genozidbefehl"),
umgeht heikle Themen (Gab es eine verdeckte Operation der Jungtürken,
um die Vertreibung zum Todesmarsch zu machen?) und erhebt die
Abwesenheit schriftlicher Belege zum Beweis dafür, daß es keinen
Völkermord gab.
Die einfache Frage, ob die Genozid-Frage offen sei, will er selbst im
vierten Anlauf nicht mit Ja oder Nein beantworten. Ein Ja würde
bedeuten, daß es vielleicht einen Genozid gab, und ein Nein, daß die
Türkei zu keinem Dialog bereit ist. So sprechen Politiker, nicht
Historiker.
Ganz klar ist seine Liebe zum Vaterland und die Sorge um den Schaden,
den die Armenierdebatte dem türkischen Staat bereiten kann. Auch
Mitgefühl für die Opfer auf beiden Seiten ist unverkennbar. Özdemir
ist ein liebenswürdiger Mensch. Ob der Historiker recht hat oder die
Armenier oder beide, darüber wird man sich eines Tages einigen - wenn
die Gemüter ruhiger sind. oky