Frankfurter Allgemeine Zeitung
22. Juli 2005
Brandenburg ist belehrbar;
Was die Handreichung über den Armenier-Genozid sagt
Am 1. August, wenn in Brandenburg das neue Schuljahr beginnt, werden
die Internetseiten für den Geschichtsunterricht überarbeitet ins Netz
gestellt. Gleichzeitig steht Geschichtslehrern zum ersten Mal
umfangreiches Unterrichtsmaterial zum schwierigen Thema "Völkermorde
und staatliche Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert" zur Verfügung
(herausgegeben vom Landesinstitut für Schule und Medien,
Ludwigsfelde-Struveshof). Dem Völkermord an den Armeniern ist ein
ausführliches Kapitel gewidmet, andere behandeln Völkermorde an den
Hereros und in Ruanda sowie sogenannte "staatliche Gewaltverbrechen"
in der Sowjetunion unter Stalin, im Kambodscha der Roten Khmer und in
Jugoslawien. All dies war auch bisher Gegenstand des
Geschichtsunterrichtes - sofern die Lehrer die Zeit dafür fanden und
Interesse am Thema. Kein Lehrplan legt minutiös fest, was wann in wie
vielen Stunden zu behandeln ist. Das wird auch in Zukunft nicht
anders sein. Und immer noch ist, nach einer kurzen Unterbrechung,
Brandenburg das einzige deutsche Bundesland, das zu den wesentlichen
Schulbeispielen staatlich organisierter Massenmorde die Vernichtung
der Armenier zählt und sie deshalb hervorhebt (der Holocaust an den
europäischen Juden und andere nationalsozialistische Verbrechen
bleiben ein besonderes, eigenes Unterrichtsthema).
Eine Meldung, die im föderalen Deutschland normalerweise nur von
lokalem Interesse wäre, hätte sich nicht an diesem Lehrplan ein
hochpolitischer Streit entzündet. Im Januar dieses Jahres hatte der
brandenburgische Ministerpräsident auf Wunsch des türkischen
Gesandten verfügt, einen Verweis auf den Völkermord an Armeniern im
Jahre 1915 zu streichen (F.A.Z. vom 25. Januar). Die Begründung für
diese Leugnung eines historischen Ereignisses grenzte ans Absurde, im
Falle der türkischen Stellungnahmen war ein nationalistischer Ton
unüberhörbar. Vor allem sah es einige Zeit so aus, als würde der
Türkei ein weiteres Mal gestattet, sich der Verantwortung für den
Ausrottungsfeldzug gegen die armenische Bevölkerung Kleinasiens, der
anderthalb Millionen Menschen zum Opfer fielen, zu entziehen.
Die kontroverse Debatte um diesen politischen Skandal hat immerhin
dazu geführt, daß sich deutsche Politiker zum ersten Mal öffentlich
mit den Ereignissen im Osmanischen Reich auseinandersetzten. Die
wütenden Auslassungen türkischer Diplomaten liefen ins Leere. Die
Schulbehörden des Landes Brandenburg aber begannen in aller Stille
und großer Eile, den fatalen Fehler zu korrigieren. Außer der
Lehrplanstreichung hatte man im Januar eine fast druckfertige
Handreichung für Geschichtslehrer beim Bochumer Institut für
Diaspora- und Genozidforschung wieder abbestellt. Auch dieser Schritt
wurde zurückgenommen. Neben Mihran Dabag (Direktor des Bochumer
Institutes) wurden weitere Autoren und Gutachter - Historiker und
Pädagogen - gewonnen. Das nun vorliegende, etwa hundert Seiten starke
Buch, dem eine CD-Rom mit Karten-, Bild- und Quellenmaterial
beigelegt ist, soll eine Lücke schließen, die, für sich genommen,
auch ein Skandal ist. Nur wenige Schulbücher haben sich bisher dieses
Themas angenommen und, wenn überhaupt, wird es - eine Ausnahme ist
hier der Schroedel Verlag - mit ein paar kurzen, lapidaren Sätzen
abgehandelt, die im Falle des Genozids an den Armeniern zum Teil
sogar mißverständlich sind. Diese fragwürdige Praxis wurde von
deutschen Schulbehörden bislang mit Rücksichtnahmen auf türkische
Schüler begründet, denen man historische Wahrheiten meinte ersparen
zu müssen - eine, bei Lichte besehen, diskriminierende Entmündigung.
Eine andere, nicht minder fadenscheinige Begründung lautete, ein
solches Unterrichtsthema könnte Vorbehalte gegen Migranten
verstärken, worauf es jedoch keinerlei Hinweise gab.
Auf achtzehn Seiten behandelt die neue Handreichung jetzt die
Vorgeschichte, das Ereignis und die politischen Hintergründe, die im
Osmanischen Reich vor neunzig Jahren zur Auslöschung der Armenier und
ihrer Kultur führten. Sie läßt Spekulationen keinen Raum, auch wenn
das türkische Generalkonsulat in Berlin das Gegenteil und nach wie
vor behauptet, es habe sich 1915/16 um eine Art fremdbestimmter
"tragischer Vorfälle" gehandelt, auch seien Armenier wie Türken
gleichermaßen Täter und Opfer gewesen "in den Fängen der Kräfte, die
das Osmanische Reich zu zerstören versuchten". Dabags kluger Essay zu
dieser komplizierten Zeit endet mit einer Zusammenfassung aktueller
Kontroversen, vor allem in der Türkei. Die Stellungnahme des
Konsulats ist mit abgedruckt, ein interessantes Lehrbeispiel für
europäische Standards der Gedenk- und Erinnerungspolitik, denen sich
der Beitrittskandidat Türkei offensichtlich hartnäckig verweigert.
Das erste Kapitel der Handreichung versucht völkerrechtliche
Definitionen, die Rolle der Ideologie und die Problematik staatlicher
Gewalt zusammenzufassen - durchaus informativ, aber teilweise
unverständlich, was vielleicht der großen Eile zuzuschreiben ist, mit
der dieses Projekt zu einem guten Ende gebracht werden sollte. Alles
in allem bleibt festzustellen, daß der Beschluß Brandenburgs, auch
den Völkermord an den Armeniern im Unterricht zu behandeln, der
Nachahmung harrt. Diese Chance ließen alle Bundesländer bisher aus,
obwohl sie seit drei Jahren Gelegenheit dazu gehabt hätten. 2002
hatte man sich in Potsdam zum ersten Mal entschlossen, diesen blinden
Fleck unserer historischen Wahrnehmung aufzuhellen. Wie kühn dieser
Schritt damals war, hat uns der Skandal um die nun zurückgenommene
Streichung vor Augen geführt.
REGINA MÖNCH
22. Juli 2005
Brandenburg ist belehrbar;
Was die Handreichung über den Armenier-Genozid sagt
Am 1. August, wenn in Brandenburg das neue Schuljahr beginnt, werden
die Internetseiten für den Geschichtsunterricht überarbeitet ins Netz
gestellt. Gleichzeitig steht Geschichtslehrern zum ersten Mal
umfangreiches Unterrichtsmaterial zum schwierigen Thema "Völkermorde
und staatliche Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert" zur Verfügung
(herausgegeben vom Landesinstitut für Schule und Medien,
Ludwigsfelde-Struveshof). Dem Völkermord an den Armeniern ist ein
ausführliches Kapitel gewidmet, andere behandeln Völkermorde an den
Hereros und in Ruanda sowie sogenannte "staatliche Gewaltverbrechen"
in der Sowjetunion unter Stalin, im Kambodscha der Roten Khmer und in
Jugoslawien. All dies war auch bisher Gegenstand des
Geschichtsunterrichtes - sofern die Lehrer die Zeit dafür fanden und
Interesse am Thema. Kein Lehrplan legt minutiös fest, was wann in wie
vielen Stunden zu behandeln ist. Das wird auch in Zukunft nicht
anders sein. Und immer noch ist, nach einer kurzen Unterbrechung,
Brandenburg das einzige deutsche Bundesland, das zu den wesentlichen
Schulbeispielen staatlich organisierter Massenmorde die Vernichtung
der Armenier zählt und sie deshalb hervorhebt (der Holocaust an den
europäischen Juden und andere nationalsozialistische Verbrechen
bleiben ein besonderes, eigenes Unterrichtsthema).
Eine Meldung, die im föderalen Deutschland normalerweise nur von
lokalem Interesse wäre, hätte sich nicht an diesem Lehrplan ein
hochpolitischer Streit entzündet. Im Januar dieses Jahres hatte der
brandenburgische Ministerpräsident auf Wunsch des türkischen
Gesandten verfügt, einen Verweis auf den Völkermord an Armeniern im
Jahre 1915 zu streichen (F.A.Z. vom 25. Januar). Die Begründung für
diese Leugnung eines historischen Ereignisses grenzte ans Absurde, im
Falle der türkischen Stellungnahmen war ein nationalistischer Ton
unüberhörbar. Vor allem sah es einige Zeit so aus, als würde der
Türkei ein weiteres Mal gestattet, sich der Verantwortung für den
Ausrottungsfeldzug gegen die armenische Bevölkerung Kleinasiens, der
anderthalb Millionen Menschen zum Opfer fielen, zu entziehen.
Die kontroverse Debatte um diesen politischen Skandal hat immerhin
dazu geführt, daß sich deutsche Politiker zum ersten Mal öffentlich
mit den Ereignissen im Osmanischen Reich auseinandersetzten. Die
wütenden Auslassungen türkischer Diplomaten liefen ins Leere. Die
Schulbehörden des Landes Brandenburg aber begannen in aller Stille
und großer Eile, den fatalen Fehler zu korrigieren. Außer der
Lehrplanstreichung hatte man im Januar eine fast druckfertige
Handreichung für Geschichtslehrer beim Bochumer Institut für
Diaspora- und Genozidforschung wieder abbestellt. Auch dieser Schritt
wurde zurückgenommen. Neben Mihran Dabag (Direktor des Bochumer
Institutes) wurden weitere Autoren und Gutachter - Historiker und
Pädagogen - gewonnen. Das nun vorliegende, etwa hundert Seiten starke
Buch, dem eine CD-Rom mit Karten-, Bild- und Quellenmaterial
beigelegt ist, soll eine Lücke schließen, die, für sich genommen,
auch ein Skandal ist. Nur wenige Schulbücher haben sich bisher dieses
Themas angenommen und, wenn überhaupt, wird es - eine Ausnahme ist
hier der Schroedel Verlag - mit ein paar kurzen, lapidaren Sätzen
abgehandelt, die im Falle des Genozids an den Armeniern zum Teil
sogar mißverständlich sind. Diese fragwürdige Praxis wurde von
deutschen Schulbehörden bislang mit Rücksichtnahmen auf türkische
Schüler begründet, denen man historische Wahrheiten meinte ersparen
zu müssen - eine, bei Lichte besehen, diskriminierende Entmündigung.
Eine andere, nicht minder fadenscheinige Begründung lautete, ein
solches Unterrichtsthema könnte Vorbehalte gegen Migranten
verstärken, worauf es jedoch keinerlei Hinweise gab.
Auf achtzehn Seiten behandelt die neue Handreichung jetzt die
Vorgeschichte, das Ereignis und die politischen Hintergründe, die im
Osmanischen Reich vor neunzig Jahren zur Auslöschung der Armenier und
ihrer Kultur führten. Sie läßt Spekulationen keinen Raum, auch wenn
das türkische Generalkonsulat in Berlin das Gegenteil und nach wie
vor behauptet, es habe sich 1915/16 um eine Art fremdbestimmter
"tragischer Vorfälle" gehandelt, auch seien Armenier wie Türken
gleichermaßen Täter und Opfer gewesen "in den Fängen der Kräfte, die
das Osmanische Reich zu zerstören versuchten". Dabags kluger Essay zu
dieser komplizierten Zeit endet mit einer Zusammenfassung aktueller
Kontroversen, vor allem in der Türkei. Die Stellungnahme des
Konsulats ist mit abgedruckt, ein interessantes Lehrbeispiel für
europäische Standards der Gedenk- und Erinnerungspolitik, denen sich
der Beitrittskandidat Türkei offensichtlich hartnäckig verweigert.
Das erste Kapitel der Handreichung versucht völkerrechtliche
Definitionen, die Rolle der Ideologie und die Problematik staatlicher
Gewalt zusammenzufassen - durchaus informativ, aber teilweise
unverständlich, was vielleicht der großen Eile zuzuschreiben ist, mit
der dieses Projekt zu einem guten Ende gebracht werden sollte. Alles
in allem bleibt festzustellen, daß der Beschluß Brandenburgs, auch
den Völkermord an den Armeniern im Unterricht zu behandeln, der
Nachahmung harrt. Diese Chance ließen alle Bundesländer bisher aus,
obwohl sie seit drei Jahren Gelegenheit dazu gehabt hätten. 2002
hatte man sich in Potsdam zum ersten Mal entschlossen, diesen blinden
Fleck unserer historischen Wahrnehmung aufzuhellen. Wie kühn dieser
Schritt damals war, hat uns der Skandal um die nun zurückgenommene
Streichung vor Augen geführt.
REGINA MÖNCH