Announcement

Collapse
No announcement yet.

Die Warnung der Engel

Collapse
X
 
  • Filter
  • Time
  • Show
Clear All
new posts

  • Die Warnung der Engel

    http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/meinun g/454425.html



    Analyse
    Die Warnung der Engel

    Elif Shafak

    Berlin und Istanbul haben viel miteinander gemein: die zerrissenen
    Seelen, die schwere Last der Geschichte, die langen Schlangen vor den
    Donerläden. In einer Hinsicht allerdings unterscheiden sie sich
    fundamental: wenn Berlin die Stadt des entschlossenen Sich-Erinnerns
    ist, dann ist Istanbul die Stadt der totalen Amnesie. In Berlin stoßt
    man uberall auf Spuren der Vergangenheit: Mit Mahnmalen und Plakaten,
    Denkmälern und Ausstellungen wird das historische Gedächtnis immer
    wieder belebt. In Istanbul käme kein Mensch auf den Gedanken, eine
    zerbombte Kirche als Mahnmal fur kunftige Generationen stehen zu
    lassen; niemand erinnert mit Gedenktafeln daran, aus welchen Häusern
    die Bewohner vor siebzig Jahren verschleppt worden sind. Als ich in
    Istanbul lebte, habe ich in der Straße der Kesselflicker gewohnt,
    einer steilen alten Gasse, die von ethnischen Minderheiten aller Art
    bewohnt wurde, später von Schwulen und Lesben. Auch hier konnte man
    gut ein Gedenkschild anbringen: "Am 6. und 7. September 1955
    versammelte sich hier eine Horde turkischer Nationalisten und
    zerstorte alle Geschäfte, die nicht von Moslems gefuhrt wurden. Die
    Ware von judischen, armenischen und griechischen Händlern wurde aus
    den Läden gerissen und die Straße hinuntergeworfen." In Berlin ist
    diese Art offentlichen Gedenkens jederzeit moglich. In Istanbul
    nicht.

    Als die biblische Stadt Sodom in der Apokalypse versank, wurde Lot
    von den Engeln gewarnt: "Rette dein Leben und sieh nicht hinter
    dich." Seine Frau hat die Warnung ignoriert, sie hat sich umgedreht
    und ist zur Salzsäule erstarrt. Wir Turken nehmen die Warnung der
    Engel ernst - viel zu ernst: Sie ist fur uns das Haupt-Lebensmotto
    geworden. Aber so lange wir der Vergangenheit nicht ins Gesicht sehen
    konnen, bleiben unsere Herzen erstarrt.

    Kurzlich wollte ich auf einer Konferenz zum Thema "Armenier im
    letzten Jahrhundert des ottomanischen Reichs" reden. Doch wurde sie
    schnell wieder abgesagt - nach einer chauvinistischen Rede des
    turkischen Justizministers, der im Parlament alle Teilnehmer vorab
    angeklagt hatte, der Nation einen Dolch in den Rucken zu stoßen. Ganz
    offensichtlich war der turkische Justizminister zu der Uberzeugung
    gelangt, dass noch gar nicht vorgetragene wissenschaftliche Thesen
    auf einer Konferenz, die noch gar nicht stattgefunden hatte, eine
    ernste Bedrohung fur das Wohl der Nation bilden konnen.

    Die Turkei befindet sich heute in einem Kulturkampf: einem Kampf
    zwischen Erinnern und Vergessen. Erst wenn die turkische
    Zivilgesellschaft beginnt, sich der eigenen Geschichte zu stellen,
    wird auch der Demokratisierungsprozess eine wahre Chance bekommen.
    Erst wenn die Turken das Leid eingestehen, dass sie den Armeniern
    zugefugt haben, werden die Politiker auch den heute lebenden
    ethnischen und religiosen Minderheiten ihre Rechte nicht mehr
    verwehren konnen. Wer ein Verbrechen vergisst, bereitet den Boden fur
    das nächste. Aus der Verdrängung der Vergangenheit erwächst keine
    gute Zukunft. Jemand wie der turkische Justizminister verbietet uns
    nicht nur das kritische Denken. Er verbietet uns auch das Recht auf
    unsere Trauer und das Recht auf Erinnerung.

    Elif Shafak (34) unterrichtet an der University of Arizona in Tucson
    Gender Studies. Zuletzt erschien ihr Roman "Die Heilige des nahenden
    Irrsinns" auf Deutsch im Eichborn-Verlag.

    Dieser Text wurde aus dem Englischen von Jens Balzer ubersetzt.

    --Boundary_(ID_IL0FLiN8f5tK6gxyTsKWfg)--
Working...
X