Financial Times Deutschland
17. Juni 2005
Bundestag provoziert Krise mit Türkei;
Abgeordnete fordern Aufarbeitung des Völkermords an Armeniern
Türken in Deutschland planen Proteste
Von Marina Zapf, Berlin
Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei stehen vor einer
Zerreißprobe. Alle Fraktionen des Bundestags forderten die Türkei
gestern auf, sich einer ehrlichen geschichtlichen Aufarbeitung der
Massaker an fast einer Million Armeniern vor 90 Jahren zu stellen.
Die türkische Regierung wies die Resolution zurück: "Wir nehmen den
Antrag mit Bedauern zur Kenntnis und verurteilen ihn aufs Schärfste",
teilte das Außenministerium in Ankara mit. Außenminister Abdullah Gül
nannte die Kritik "verantwortungslos, bestürzend und verletzend".
Der unwirsche Ton der Regierung lässt darauf schließen, dass sich das
Klima zwischen Ankara und Berlin drastisch verschlechtern wird. Das
könnte nicht nur die Bereitschaft von Türken in Deutschland zur
Integration negativ beeinflussen. Auch im Bundestagswahlkampf wäre
das Wasser auf die Mühlen der Opposition, die bereits angekündigt
hat, Stimmung gegen den türkischen EU-Beitritt zu machen.
Ein ähnlicher Beschluss der französischen Nationalversammlung in den
90er Jahren hatte zu jahrelangen Spannungen mit der Türkei geführt.
"Die Stufen der Eskalation sind ungeahnt. Offen ist, wie weit sie
ausgeschöpft werden", sagte ein Diplomat in Ankara.
Zurückhaltender als das französische oder schweizerische Parlament
beschuldigt der Bundestag die Türkei zwar nicht direkt des
Völkermords. Dennoch reagierte Ankara schon während der Beratungen im
Bundestag äußerst gereizt und warnte vor einer "Vergiftung" der
Beziehungen.
In der Türkei hat mittlerweile eine Debatte über den Tod von rund
einer Million Armenier zwischen 1915 und 1917 begonnen. Offiziell
wird das Ausmaß und die Planmäßigkeit der Massaker aber bestritten,
weil damit das Bild der türkischen Nation beschmutzt würde. Die
meisten Türken haben die offizielle Version von den tragischen Folgen
einer Zwangsumsiedlung, die wegen des Ersten Weltkriegs erforderlich
gewesen sei, nie angezweifelt.
"Zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale
Organisationen bezeichnen die Vertreibung und Vernichtung der
Armenier als Völkermord", heißt es nun in dem Bundestagsbeschluss.
Allein dieser Hinweis wird drei Monate vor dem geplanten Beginn von
EU-Beitrittsverhandlungen in Ankara als Affront empfunden.
Der Bundestag stellte nicht die Eignung der Türkei für die EU in
Frage. Aber formuliert wurde die Überzeugung, "dass eine ehrliche
Aufarbeitung der Geschichte notwendig" und Grundlage für Versöhnung
sei. Zu einer Kultur der Erinnerung gehöre "die offene
Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der nationalen Geschichte."
Mit Unverständnis reagierte die türkische Seite darauf, dass SPD und
Grüne in die von der CDU/CSU initiierte Schelte einstimmten. Die
Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder hat stets eine
türkeifreundliche Politik betrieben. Doch die reflexartige Leugnung
eines Genozids durch Ankara und Drohungen des türkischen Botschafters
in Berlin lösten auch in den Regierungsparteien Unmut aus.
"Es ist wichtig zu verstehen, dass wir uns einig sind, dass diese
Auseinandersetzung mit der Geschichte ein Teil des Weges nach Europa
ist", sagte der Sozialdemokrat Markus Meckel, der dabei auch auf die
Absage einer Historikerkonferenz zur Armenierfrage Ende Mai in
Istanbul verwies. Das Treffen international angesehener türkischer
Wissenschaftler wurde durch den türkischen Justizminister kurzfristig
unterbunden. Von der Regierungsmeinung abweichende Positionen wurden
als "Dolchstoß in den Rücken der türkischen Nation" diffamiert.
Meckel sagte, es gehe nicht darum, die Türken an den Pranger zu
stellen. Es gebe auch positive Anzeichen. In Berlin hat sich für
Sonntag allerdings schon eine Protestkundgebung "gegen
Geschichtsverfälschung und einseitige Meinungsmache" angesagt. Die
Türkische Gemeinde zu Berlin (TGB) erwartet Tausende Mitstreiter aus
90 Vereinen. "Es gibt bundesweit Unruhe", sagte ihr Vorsitzender
Taciddin Yatkin der FTD.
Zitat:
"Wir nehmen den Antrag mit Bedauern zur Kenntnis und verurteilen ihn
aufs Schärfste" - Türkisches Außenministerium
Bild(er):
Wütende Proteste: Armenier verbrannten am Mittwoch in Beirut zum
Staatsbesuch von Premier Recep Tayyip Erdogan eine türkische Flagge -
AP/Hussein Malla
GRAFIK: Wütende Proteste: Armenier verbrannten am Mittwoch in Beirut
zum Staatsbesuch von Premier Recep Tayyip Erdogan eine türkische
Flagge
--Boundary_(ID_n9tfEiY8dWESQHXQYJoDAg)--
17. Juni 2005
Bundestag provoziert Krise mit Türkei;
Abgeordnete fordern Aufarbeitung des Völkermords an Armeniern
Türken in Deutschland planen Proteste
Von Marina Zapf, Berlin
Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei stehen vor einer
Zerreißprobe. Alle Fraktionen des Bundestags forderten die Türkei
gestern auf, sich einer ehrlichen geschichtlichen Aufarbeitung der
Massaker an fast einer Million Armeniern vor 90 Jahren zu stellen.
Die türkische Regierung wies die Resolution zurück: "Wir nehmen den
Antrag mit Bedauern zur Kenntnis und verurteilen ihn aufs Schärfste",
teilte das Außenministerium in Ankara mit. Außenminister Abdullah Gül
nannte die Kritik "verantwortungslos, bestürzend und verletzend".
Der unwirsche Ton der Regierung lässt darauf schließen, dass sich das
Klima zwischen Ankara und Berlin drastisch verschlechtern wird. Das
könnte nicht nur die Bereitschaft von Türken in Deutschland zur
Integration negativ beeinflussen. Auch im Bundestagswahlkampf wäre
das Wasser auf die Mühlen der Opposition, die bereits angekündigt
hat, Stimmung gegen den türkischen EU-Beitritt zu machen.
Ein ähnlicher Beschluss der französischen Nationalversammlung in den
90er Jahren hatte zu jahrelangen Spannungen mit der Türkei geführt.
"Die Stufen der Eskalation sind ungeahnt. Offen ist, wie weit sie
ausgeschöpft werden", sagte ein Diplomat in Ankara.
Zurückhaltender als das französische oder schweizerische Parlament
beschuldigt der Bundestag die Türkei zwar nicht direkt des
Völkermords. Dennoch reagierte Ankara schon während der Beratungen im
Bundestag äußerst gereizt und warnte vor einer "Vergiftung" der
Beziehungen.
In der Türkei hat mittlerweile eine Debatte über den Tod von rund
einer Million Armenier zwischen 1915 und 1917 begonnen. Offiziell
wird das Ausmaß und die Planmäßigkeit der Massaker aber bestritten,
weil damit das Bild der türkischen Nation beschmutzt würde. Die
meisten Türken haben die offizielle Version von den tragischen Folgen
einer Zwangsumsiedlung, die wegen des Ersten Weltkriegs erforderlich
gewesen sei, nie angezweifelt.
"Zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale
Organisationen bezeichnen die Vertreibung und Vernichtung der
Armenier als Völkermord", heißt es nun in dem Bundestagsbeschluss.
Allein dieser Hinweis wird drei Monate vor dem geplanten Beginn von
EU-Beitrittsverhandlungen in Ankara als Affront empfunden.
Der Bundestag stellte nicht die Eignung der Türkei für die EU in
Frage. Aber formuliert wurde die Überzeugung, "dass eine ehrliche
Aufarbeitung der Geschichte notwendig" und Grundlage für Versöhnung
sei. Zu einer Kultur der Erinnerung gehöre "die offene
Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der nationalen Geschichte."
Mit Unverständnis reagierte die türkische Seite darauf, dass SPD und
Grüne in die von der CDU/CSU initiierte Schelte einstimmten. Die
Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder hat stets eine
türkeifreundliche Politik betrieben. Doch die reflexartige Leugnung
eines Genozids durch Ankara und Drohungen des türkischen Botschafters
in Berlin lösten auch in den Regierungsparteien Unmut aus.
"Es ist wichtig zu verstehen, dass wir uns einig sind, dass diese
Auseinandersetzung mit der Geschichte ein Teil des Weges nach Europa
ist", sagte der Sozialdemokrat Markus Meckel, der dabei auch auf die
Absage einer Historikerkonferenz zur Armenierfrage Ende Mai in
Istanbul verwies. Das Treffen international angesehener türkischer
Wissenschaftler wurde durch den türkischen Justizminister kurzfristig
unterbunden. Von der Regierungsmeinung abweichende Positionen wurden
als "Dolchstoß in den Rücken der türkischen Nation" diffamiert.
Meckel sagte, es gehe nicht darum, die Türken an den Pranger zu
stellen. Es gebe auch positive Anzeichen. In Berlin hat sich für
Sonntag allerdings schon eine Protestkundgebung "gegen
Geschichtsverfälschung und einseitige Meinungsmache" angesagt. Die
Türkische Gemeinde zu Berlin (TGB) erwartet Tausende Mitstreiter aus
90 Vereinen. "Es gibt bundesweit Unruhe", sagte ihr Vorsitzender
Taciddin Yatkin der FTD.
Zitat:
"Wir nehmen den Antrag mit Bedauern zur Kenntnis und verurteilen ihn
aufs Schärfste" - Türkisches Außenministerium
Bild(er):
Wütende Proteste: Armenier verbrannten am Mittwoch in Beirut zum
Staatsbesuch von Premier Recep Tayyip Erdogan eine türkische Flagge -
AP/Hussein Malla
GRAFIK: Wütende Proteste: Armenier verbrannten am Mittwoch in Beirut
zum Staatsbesuch von Premier Recep Tayyip Erdogan eine türkische
Flagge
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