Frankfurter Allgemeine Zeitung
20. Juni 2005
Massage an Kanzlers Rückgrat;
Schuldflucht: Deutsche, Türken und der Völkermord an den Armeniern
SERIE: Aufmacher Feuilleton
von Mihran Dabag
Gerade haben wir die Gedenkfeiern zum sechzigsten Jahrestag der
Befreiung symbolisch mit der Eröffnung des "Denkmals für die
ermordeten Juden Europas" in Berlin abschließen können, da stellt
unerwartet die Erinnerung an einen ganz anderen Völkermord generelle
Fragen an die Formen der Erinnerung in Deutschland: die Vernichtung
der Armenier im Osmanischen Reich in den Jahren 1915/16, die sich
2005 zum neunzigsten Mal jährt. Ein Völkermord, der eng mit der
Geschichte Europas und insbesondere Deutschlands verwoben ist. Denn
vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit bezeichnete dieser im
Schatten des Ersten Weltkriegs verübte systematische Genozid einen
Wendepunkt in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: Mit diesem
Völkermord wurde offenbar, daß die Vernichtung einer gesamten
Bevölkerungsgruppe nicht allein denkbar, sondern auch durchführbar
ist.
Ausgelöst wurde die öffentliche Diskussion im vergangenen Januar
durch die Streichung des Völkermords an den Armeniern als
Unterrichtsthema aus den Rahmenlehrplänen des Landes Brandenburg -
dies auf Intervention der diplomatischen Vertretung der Türkei in
Deutschland. Im April beschäftigte sich erstmals auch der Bundestag
mit diesem Völkermord. Dabei zeigte sich ein fraktionsübergreifendes
Einvernehmen, die Türkei, die den Tatbestand des Genozids bis heute
nachdrücklich abstreitet, dazu aufzufordern, sich diesem Thema
endlich zu stellen. Und auch der Mitverantwortung Deutschlands - als
Bündnispartner des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg bereits
früh über Ausmaß und Ziel der Deportationsmaßnahmen informiert -
wurde in der Diskussion explizit gedacht. Gleichzeitig deutete man
einen Ausweg an: Eine türkisch-armenische Historikerkommission solle
sich dieser Frage widmen. Dabei hatte doch gerade die
brandenburgische Schulbuchaffäre gezeigt, daß Deutschland eine
Verantwortung nicht dort hat, wo es darum geht, eine Aussöhnung
zwischen Türken und Armeniern einzuleiten - ungeachtet der Tatsache,
daß eine solche Aussöhnung der deutschen Befürwortung eines
EU-Beitritts der Türkei Legitimation verleiht -, sondern dort, wo es
darum geht, die eigene Duldung der Leugnung zu beenden.
Schließlich wurde ein von allen Fraktionen getragener Antrag vom
Bundestag angenommen, in dem eine Rhetorik der Verbeugung vor den
Opfern geübt wurde. Allerdings handelte es sich um eine
stillschweigende Rhetorik, da der Antrag ohne vorherige Aussprache,
in der Bedauern, Klage und die Aufforderung zur Anerkennung hätten
artikuliert werden können, beschlossen wurde. Doch löste der Beschluß
dieses von allen Fraktionen unterstützten Antrages auf türkischer
Seite Unruhe aus. Mit einem Meer türkischer Flaggen wurde gestern in
Berlin der Solidarität mit der ebenso unbeugsamen wie entschlossenen
Haltung der türkischen Politik Ausdruck verliehen. Der türkische
Ministerpräsident Erdogan warf Bundeskanzler Schröder
"Rückgratlosigkeit" und eine "falsche und häßliche Politik" vor. Er
hingegen bevorzuge eine "knochige Politik", die offen dazu steht,
eine Arbeit am eigenen Geschichtsbild als überflüssig anzusehen.
Auffällig ist gerade in diesem Kontext jedoch auch das Einvernehmen
der Wissenschaftler und Intellektuellen in Deutschland, die sich -
bis auf wenige Ausnahmen - vornehm in Schweigen hüllten. Wie ist
dieses Schweigen zu erklären? Bedarf es schlicht keines
intellektuellen Diskurses, wenn "hinten, weit, in der Türkei, die
Völker aufeinanderschlagen"? Meint man also, daß die Vernichtung der
Armenier ein Ereignis in der Peripherie war, eine asiatische Tat, die
nicht zur Geschichte Deutschlands, Europas und der zivilisierten Welt
gehöre? Oder hat die Verweigerung einer Diskussion, zu der dieser
Völkermord die Erinnerungskultur in Deutschland herausfordert,
möglicherweise gerade mit den spezifischen Formen dieser Erinnerung -
und ihren Zielen - zu tun?
Erinnerung wird heute bevorzugt dort ins Spiel gebracht, wo es nicht
mehr um die Frage eines spezifischen Erbes geht, sondern um die Frage
nach dem Gemeinsamen von Geschichte, Erfahrung und Identität, und
zwar um die Gemeinsamkeit Europas und das Gemeinsame globalisierender
Gesellschaften. Als Fundament einer solchen Identität gestaltenden
Erinnerung werden die "Erfahrungen der totalitären Regime des
zwanzigsten Jahrhunderts" und der Holocaust definiert, so im Mai 2003
von Jürgen Habermas und Jacques Derrida in einem gemeinsamen Artikel
über die Zukunft Europas (F.A.Z. vom 31. Mai 2003). Der Blick richtet
sich dabei nicht länger zuvörderst auf die nationalsozialistische
Gewaltpolitik, sondern auf den Stellenwert des Holocaust als eines
gesamteuropäischen Symbols. Ziel ist die Konstitution eines
Konsensgedächtnisses, dessen Aufgabe es sein soll, zu einer
Humanisierung zu führen: In einer als universal anschlußfähigen
erinnerungspolitischen Formel Holocaust sollen alle Gewalterfahrungen
aufgehoben und zukünftige Gewalttaten verhindert werden.
Was aber bedeutet eine solche Universalisierung des Holocaust? Was
bedeutet sie für die Zukunft der Erinnerung, was für die Erinnerung
an andere Gewalterfahrungen und vor allem: Was bedingt sie für die
Erinnerung an den Holocaust selbst? Besteht nicht die Gefahr, daß im
Prozeß der Universalisierung die Erinnerung an den Holocaust aus dem
ihr eigenen unmittelbaren Kontext gelöst, von der ihr zugrunde
liegenden Erfahrung entfernt und somit letztlich entleert wird? Denn
mit der Universalisierung tritt an die Stelle der Erinnerung, die
durch einen dynamischen, gelebten Prozeß der Rekonstruktion bewahrt
wird, ein gestaltendes Gedenken.
Erinnerung ist immer eine Erzählung, die auf Erfahrungen gründet:
unmittelbarer ebenso wie übermittelter Erfahrung. Erinnerungen sind
Orientierungen, und sie haben immer mit Identifizierungen zu tun.
Erinnerung ist an Träger gebunden. Das Gedenken hingegen folgt
Setzungen von Geschichte und Identität, das Gedenken soll nicht
zuvörderst bewahren, sondern integrieren und unter gemeinsamen
universalen Werten harmonisieren. Erinnerung kann nicht universal
sein - und ein Gedächtnis kann nur dann universal sein, wenn es
erinnerungslos ist, wenn es sich ablöst von jenen Erfahrungen, die in
den Erzählungen bewahrt sind.
Ein übergeordnetes, universales Gedenken an den Holocaust, losgelöst
von den Erfahrungen der Opfer und von denen der Täter und der
nachfolgenden Generationen, müßte also frei sein von jeder Erfahrung
und Erfahrbarkeit. Als universalisierte Singularität, erstarrt zu
einem abstrakten Gedenkemblem für kollektive Gewalt, würde diese
Formel Holocaust allein noch auf einen moralischen Imperativ
verweisen. Im Fluchtpunkt dieser Gedenkformel, die sicherlich im
Berliner Mahnmal auch zementiert worden ist, stehen nicht die Opfer -
nicht einmal mehr die Täter -, sondern allein die Tat. So könnte die
Universalisierung eines opfer- und täterlosen Holocaust sich
letztlich als eine Leerformel erweisen, die jedoch gut geeignet ist
zur - intendierten? - Überwindung der Erinnerung an den Holocaust
selbst.
Es ist diese zur Homogenität der Gedenkinhalte drängende
Erinnerungspolitik, die heute gestört wird durch andere Erfahrungen
von Verfolgungen, kollektiver Gewalt und Vernichtung. Und diese
Erfahrungen scheinen um so störender, je enger sie mit den Inhalten
des offiziellen deutschen Gedenkens selbst verbunden sind. Die
intensive Beschäftigung mit dem Holocaust und die vorbildhafte
Aufarbeitung der eigenen Geschichte haben den Blick auf Deutschland
nachhaltig verändert. Dies gilt sicherlich für das deutsche
Selbstbild wie auch für die Wahrnehmung Deutschlands aus der
Außenperspektive. Daß die Bundesrepublik sich so explizit in die
historische Verantwortung stellte, hat zur Entstehung eines anderen
Deutschland beigetragen und jüngst auch eine neue Rolle und eine neue
Stärke Deutschlands in der internationalen Politik legitimiert. Mit
der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern drängt nun ein Thema
in die Diskussion, das einerseits eine neuerliche Beschäftigung mit
dieser - endlich vergangenen - eigenen Geschichte verlangt und zum
anderen aber auch eine Herausforderung an die aktuelle Politik
bedeutet.
Vielleicht ist die Enthaltsamkeit der deutschen Intellektuellen
bezüglich der Diskussionen über den Ort des Genozids an den Armeniern
in der europäischen beziehungsweise globalen Erinnerungskultur ja
auch damit zu erklären, daß man befürchtet, daß jene so mühsam
erarbeiteten Sätze des Aufarbeitungsbeweises nicht hinreichend sein
könnten - und daß man schon wieder vor der Aufgabe steht, sich mit
deutscher Schuld konfrontiert sehen zu müssen.
Bisher war es möglich, "schuldig" zu sagen, ohne es zu meinen, weil
die Politik ein Schuldbekenntnis, das als Legitimationsbasis eines
Nachkriegsdeutschland fungierte, ritualisiert und institutionalisiert
hatte. Nach dem Bau des Denkmals in Berlin konnte man hoffen,
"schuldig" sagen zu können in der Beruhigung, daß man endlich nicht
mehr in den Geschichts- und Generationenzyklus der Verantwortung für
jene Geschichte gehört; daß es nun um eine vergehende, abgeschlossene
Geschichte geht, in deren Gedenken man endlich auch selbst (als
Opfer) eingeschlossen ist.
Nun muß man sich jedoch damit konfrontieren lassen, daß schon wieder
ein Recht auf Erinnerung eingefordert wird. Und diese neue
Aufforderung zeigt, daß man Erinnerung nicht mehr länger als
subjektives, interessengeleitetes Ansinnen abschieben kann, sondern
daß die Frage nach dem Ort der Erinnerung zu einer legitimen Frage an
die gegenwärtigen Gesellschaftskonstruktionen wird.
Fortsetzung auf Seite 37.
Denn mit der Frage nach der Erinnerung sind Wissensinhalte unserer
heutigen, globalen Gesellschaft verknüpft, Fragen nach
Gemeinschafts-, Minderheiten- und Toleranzkonzeptionen. So verbindet
sich mit der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern auch eine
Herausforderung an die aktuelle Politik. Der Blick richtet sich hier
natürlich nicht zuletzt auf die Haltung, mit der wir uns in
Deutschland der Integration der Türkei in die Europäische Union
stellen.
Kann die Bundesrepublik wirklich die Aufnahme einer Türkei
befürworten, die hinsichtlich ihrer Geschichte eine Haltung einnimmt,
die einer Aufarbeitung von Gewalt und Verbrechen, wie sie in
Deutschland und nun auch Europa im Gedenken an den Holocaust
verbindlich geworden ist, diametral entgegensteht? Eine Politik unter
dem Postulat, die eigenen Interessen mit einem Handeln für eine
"Zukunft der Türkei" zu verbinden, wie sie das Wilhelminische
Deutschland seit den 1890er Jahren verfolgt hat - und dabei die
anderen Bevölkerungsgruppen in der Türkei, damals Armenier und
Aramäer, heute die Kurden, zu vernachlässigen oder ausschließlich als
Störgrößen wahrzunehmen -, scheint sich gegenwärtig fortzusetzen.
Auch heute wird wieder ausschließlich für eine Zukunft gehandelt,
wenn die Forderungen der Armenier nach einer Anerkennung ihrer
Geschichte den Interessen und der Zukunft der europäisierten
Nationalstaaten geopfert wird. Eine intellektuelle Diskussion um die
Erinnerung an den Genozid an den Armeniern würde zu einer
Neubewertung der Politik gegenüber der Türkei herausfordern, einer
Politik, die der vor dem Hintergrund der Erfahrung des Holocaust und
der Verpflichtung zur Erinnerung erarbeiteten Perspektive Europas
endlich Rechnung trägt. So zeigt der Appell, diese Erinnerung
zuzulassen, daß Erinnern nicht dazu auffordert, sich mit den Opfern
gleichzusetzen, sondern das Opfer als Opfer zu akzeptieren: als Zeuge
der Verfolgung ebenso wie als Stimme eines Rechts auf eine eigene,
akzeptierte Stellung, einen akzeptierten politischen Ort in der Welt.
Bedeutung und Tragfähigkeit einer europäischen und dann globalen
Erinnerungskultur werden daran zu messen sein, ob eine Pluralität der
Erinnerungen zugelassen wird, ja ob man bereit ist, dieses Gedächtnis
auf der Pluralität der Erinnerungen zu gründen. So ist der Umgang mit
der armenischen Erfahrung auch ein Prüfstein dafür, ob die
Diskussionen über Erinnerung, Gedächtnis und Gedenken mehr gewesen
sind als eine akademische Übung, mehr als eine virtuose
erinnerungspolitische Rhetorik.
Der Autor ist Direktor des Instituts für Diaspora- und
Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum.
Wer das Gedenken wie im Fall des Holocaust globalisiert und
internationalisiert, der weicht vor dem Erinnern an das Konkrete von
Schrecken, Terror und Völkermord in Rituale und Mahnmale aus. Der
türkische Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 sollte die
Europäer dazu bringen, sich nicht mit allen Opfern gleichzusetzen,
sondern bestimmte Opfer als Opfer erstmal wahrzunehmen.
From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress
20. Juni 2005
Massage an Kanzlers Rückgrat;
Schuldflucht: Deutsche, Türken und der Völkermord an den Armeniern
SERIE: Aufmacher Feuilleton
von Mihran Dabag
Gerade haben wir die Gedenkfeiern zum sechzigsten Jahrestag der
Befreiung symbolisch mit der Eröffnung des "Denkmals für die
ermordeten Juden Europas" in Berlin abschließen können, da stellt
unerwartet die Erinnerung an einen ganz anderen Völkermord generelle
Fragen an die Formen der Erinnerung in Deutschland: die Vernichtung
der Armenier im Osmanischen Reich in den Jahren 1915/16, die sich
2005 zum neunzigsten Mal jährt. Ein Völkermord, der eng mit der
Geschichte Europas und insbesondere Deutschlands verwoben ist. Denn
vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit bezeichnete dieser im
Schatten des Ersten Weltkriegs verübte systematische Genozid einen
Wendepunkt in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: Mit diesem
Völkermord wurde offenbar, daß die Vernichtung einer gesamten
Bevölkerungsgruppe nicht allein denkbar, sondern auch durchführbar
ist.
Ausgelöst wurde die öffentliche Diskussion im vergangenen Januar
durch die Streichung des Völkermords an den Armeniern als
Unterrichtsthema aus den Rahmenlehrplänen des Landes Brandenburg -
dies auf Intervention der diplomatischen Vertretung der Türkei in
Deutschland. Im April beschäftigte sich erstmals auch der Bundestag
mit diesem Völkermord. Dabei zeigte sich ein fraktionsübergreifendes
Einvernehmen, die Türkei, die den Tatbestand des Genozids bis heute
nachdrücklich abstreitet, dazu aufzufordern, sich diesem Thema
endlich zu stellen. Und auch der Mitverantwortung Deutschlands - als
Bündnispartner des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg bereits
früh über Ausmaß und Ziel der Deportationsmaßnahmen informiert -
wurde in der Diskussion explizit gedacht. Gleichzeitig deutete man
einen Ausweg an: Eine türkisch-armenische Historikerkommission solle
sich dieser Frage widmen. Dabei hatte doch gerade die
brandenburgische Schulbuchaffäre gezeigt, daß Deutschland eine
Verantwortung nicht dort hat, wo es darum geht, eine Aussöhnung
zwischen Türken und Armeniern einzuleiten - ungeachtet der Tatsache,
daß eine solche Aussöhnung der deutschen Befürwortung eines
EU-Beitritts der Türkei Legitimation verleiht -, sondern dort, wo es
darum geht, die eigene Duldung der Leugnung zu beenden.
Schließlich wurde ein von allen Fraktionen getragener Antrag vom
Bundestag angenommen, in dem eine Rhetorik der Verbeugung vor den
Opfern geübt wurde. Allerdings handelte es sich um eine
stillschweigende Rhetorik, da der Antrag ohne vorherige Aussprache,
in der Bedauern, Klage und die Aufforderung zur Anerkennung hätten
artikuliert werden können, beschlossen wurde. Doch löste der Beschluß
dieses von allen Fraktionen unterstützten Antrages auf türkischer
Seite Unruhe aus. Mit einem Meer türkischer Flaggen wurde gestern in
Berlin der Solidarität mit der ebenso unbeugsamen wie entschlossenen
Haltung der türkischen Politik Ausdruck verliehen. Der türkische
Ministerpräsident Erdogan warf Bundeskanzler Schröder
"Rückgratlosigkeit" und eine "falsche und häßliche Politik" vor. Er
hingegen bevorzuge eine "knochige Politik", die offen dazu steht,
eine Arbeit am eigenen Geschichtsbild als überflüssig anzusehen.
Auffällig ist gerade in diesem Kontext jedoch auch das Einvernehmen
der Wissenschaftler und Intellektuellen in Deutschland, die sich -
bis auf wenige Ausnahmen - vornehm in Schweigen hüllten. Wie ist
dieses Schweigen zu erklären? Bedarf es schlicht keines
intellektuellen Diskurses, wenn "hinten, weit, in der Türkei, die
Völker aufeinanderschlagen"? Meint man also, daß die Vernichtung der
Armenier ein Ereignis in der Peripherie war, eine asiatische Tat, die
nicht zur Geschichte Deutschlands, Europas und der zivilisierten Welt
gehöre? Oder hat die Verweigerung einer Diskussion, zu der dieser
Völkermord die Erinnerungskultur in Deutschland herausfordert,
möglicherweise gerade mit den spezifischen Formen dieser Erinnerung -
und ihren Zielen - zu tun?
Erinnerung wird heute bevorzugt dort ins Spiel gebracht, wo es nicht
mehr um die Frage eines spezifischen Erbes geht, sondern um die Frage
nach dem Gemeinsamen von Geschichte, Erfahrung und Identität, und
zwar um die Gemeinsamkeit Europas und das Gemeinsame globalisierender
Gesellschaften. Als Fundament einer solchen Identität gestaltenden
Erinnerung werden die "Erfahrungen der totalitären Regime des
zwanzigsten Jahrhunderts" und der Holocaust definiert, so im Mai 2003
von Jürgen Habermas und Jacques Derrida in einem gemeinsamen Artikel
über die Zukunft Europas (F.A.Z. vom 31. Mai 2003). Der Blick richtet
sich dabei nicht länger zuvörderst auf die nationalsozialistische
Gewaltpolitik, sondern auf den Stellenwert des Holocaust als eines
gesamteuropäischen Symbols. Ziel ist die Konstitution eines
Konsensgedächtnisses, dessen Aufgabe es sein soll, zu einer
Humanisierung zu führen: In einer als universal anschlußfähigen
erinnerungspolitischen Formel Holocaust sollen alle Gewalterfahrungen
aufgehoben und zukünftige Gewalttaten verhindert werden.
Was aber bedeutet eine solche Universalisierung des Holocaust? Was
bedeutet sie für die Zukunft der Erinnerung, was für die Erinnerung
an andere Gewalterfahrungen und vor allem: Was bedingt sie für die
Erinnerung an den Holocaust selbst? Besteht nicht die Gefahr, daß im
Prozeß der Universalisierung die Erinnerung an den Holocaust aus dem
ihr eigenen unmittelbaren Kontext gelöst, von der ihr zugrunde
liegenden Erfahrung entfernt und somit letztlich entleert wird? Denn
mit der Universalisierung tritt an die Stelle der Erinnerung, die
durch einen dynamischen, gelebten Prozeß der Rekonstruktion bewahrt
wird, ein gestaltendes Gedenken.
Erinnerung ist immer eine Erzählung, die auf Erfahrungen gründet:
unmittelbarer ebenso wie übermittelter Erfahrung. Erinnerungen sind
Orientierungen, und sie haben immer mit Identifizierungen zu tun.
Erinnerung ist an Träger gebunden. Das Gedenken hingegen folgt
Setzungen von Geschichte und Identität, das Gedenken soll nicht
zuvörderst bewahren, sondern integrieren und unter gemeinsamen
universalen Werten harmonisieren. Erinnerung kann nicht universal
sein - und ein Gedächtnis kann nur dann universal sein, wenn es
erinnerungslos ist, wenn es sich ablöst von jenen Erfahrungen, die in
den Erzählungen bewahrt sind.
Ein übergeordnetes, universales Gedenken an den Holocaust, losgelöst
von den Erfahrungen der Opfer und von denen der Täter und der
nachfolgenden Generationen, müßte also frei sein von jeder Erfahrung
und Erfahrbarkeit. Als universalisierte Singularität, erstarrt zu
einem abstrakten Gedenkemblem für kollektive Gewalt, würde diese
Formel Holocaust allein noch auf einen moralischen Imperativ
verweisen. Im Fluchtpunkt dieser Gedenkformel, die sicherlich im
Berliner Mahnmal auch zementiert worden ist, stehen nicht die Opfer -
nicht einmal mehr die Täter -, sondern allein die Tat. So könnte die
Universalisierung eines opfer- und täterlosen Holocaust sich
letztlich als eine Leerformel erweisen, die jedoch gut geeignet ist
zur - intendierten? - Überwindung der Erinnerung an den Holocaust
selbst.
Es ist diese zur Homogenität der Gedenkinhalte drängende
Erinnerungspolitik, die heute gestört wird durch andere Erfahrungen
von Verfolgungen, kollektiver Gewalt und Vernichtung. Und diese
Erfahrungen scheinen um so störender, je enger sie mit den Inhalten
des offiziellen deutschen Gedenkens selbst verbunden sind. Die
intensive Beschäftigung mit dem Holocaust und die vorbildhafte
Aufarbeitung der eigenen Geschichte haben den Blick auf Deutschland
nachhaltig verändert. Dies gilt sicherlich für das deutsche
Selbstbild wie auch für die Wahrnehmung Deutschlands aus der
Außenperspektive. Daß die Bundesrepublik sich so explizit in die
historische Verantwortung stellte, hat zur Entstehung eines anderen
Deutschland beigetragen und jüngst auch eine neue Rolle und eine neue
Stärke Deutschlands in der internationalen Politik legitimiert. Mit
der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern drängt nun ein Thema
in die Diskussion, das einerseits eine neuerliche Beschäftigung mit
dieser - endlich vergangenen - eigenen Geschichte verlangt und zum
anderen aber auch eine Herausforderung an die aktuelle Politik
bedeutet.
Vielleicht ist die Enthaltsamkeit der deutschen Intellektuellen
bezüglich der Diskussionen über den Ort des Genozids an den Armeniern
in der europäischen beziehungsweise globalen Erinnerungskultur ja
auch damit zu erklären, daß man befürchtet, daß jene so mühsam
erarbeiteten Sätze des Aufarbeitungsbeweises nicht hinreichend sein
könnten - und daß man schon wieder vor der Aufgabe steht, sich mit
deutscher Schuld konfrontiert sehen zu müssen.
Bisher war es möglich, "schuldig" zu sagen, ohne es zu meinen, weil
die Politik ein Schuldbekenntnis, das als Legitimationsbasis eines
Nachkriegsdeutschland fungierte, ritualisiert und institutionalisiert
hatte. Nach dem Bau des Denkmals in Berlin konnte man hoffen,
"schuldig" sagen zu können in der Beruhigung, daß man endlich nicht
mehr in den Geschichts- und Generationenzyklus der Verantwortung für
jene Geschichte gehört; daß es nun um eine vergehende, abgeschlossene
Geschichte geht, in deren Gedenken man endlich auch selbst (als
Opfer) eingeschlossen ist.
Nun muß man sich jedoch damit konfrontieren lassen, daß schon wieder
ein Recht auf Erinnerung eingefordert wird. Und diese neue
Aufforderung zeigt, daß man Erinnerung nicht mehr länger als
subjektives, interessengeleitetes Ansinnen abschieben kann, sondern
daß die Frage nach dem Ort der Erinnerung zu einer legitimen Frage an
die gegenwärtigen Gesellschaftskonstruktionen wird.
Fortsetzung auf Seite 37.
Denn mit der Frage nach der Erinnerung sind Wissensinhalte unserer
heutigen, globalen Gesellschaft verknüpft, Fragen nach
Gemeinschafts-, Minderheiten- und Toleranzkonzeptionen. So verbindet
sich mit der Erinnerung an den Genozid an den Armeniern auch eine
Herausforderung an die aktuelle Politik. Der Blick richtet sich hier
natürlich nicht zuletzt auf die Haltung, mit der wir uns in
Deutschland der Integration der Türkei in die Europäische Union
stellen.
Kann die Bundesrepublik wirklich die Aufnahme einer Türkei
befürworten, die hinsichtlich ihrer Geschichte eine Haltung einnimmt,
die einer Aufarbeitung von Gewalt und Verbrechen, wie sie in
Deutschland und nun auch Europa im Gedenken an den Holocaust
verbindlich geworden ist, diametral entgegensteht? Eine Politik unter
dem Postulat, die eigenen Interessen mit einem Handeln für eine
"Zukunft der Türkei" zu verbinden, wie sie das Wilhelminische
Deutschland seit den 1890er Jahren verfolgt hat - und dabei die
anderen Bevölkerungsgruppen in der Türkei, damals Armenier und
Aramäer, heute die Kurden, zu vernachlässigen oder ausschließlich als
Störgrößen wahrzunehmen -, scheint sich gegenwärtig fortzusetzen.
Auch heute wird wieder ausschließlich für eine Zukunft gehandelt,
wenn die Forderungen der Armenier nach einer Anerkennung ihrer
Geschichte den Interessen und der Zukunft der europäisierten
Nationalstaaten geopfert wird. Eine intellektuelle Diskussion um die
Erinnerung an den Genozid an den Armeniern würde zu einer
Neubewertung der Politik gegenüber der Türkei herausfordern, einer
Politik, die der vor dem Hintergrund der Erfahrung des Holocaust und
der Verpflichtung zur Erinnerung erarbeiteten Perspektive Europas
endlich Rechnung trägt. So zeigt der Appell, diese Erinnerung
zuzulassen, daß Erinnern nicht dazu auffordert, sich mit den Opfern
gleichzusetzen, sondern das Opfer als Opfer zu akzeptieren: als Zeuge
der Verfolgung ebenso wie als Stimme eines Rechts auf eine eigene,
akzeptierte Stellung, einen akzeptierten politischen Ort in der Welt.
Bedeutung und Tragfähigkeit einer europäischen und dann globalen
Erinnerungskultur werden daran zu messen sein, ob eine Pluralität der
Erinnerungen zugelassen wird, ja ob man bereit ist, dieses Gedächtnis
auf der Pluralität der Erinnerungen zu gründen. So ist der Umgang mit
der armenischen Erfahrung auch ein Prüfstein dafür, ob die
Diskussionen über Erinnerung, Gedächtnis und Gedenken mehr gewesen
sind als eine akademische Übung, mehr als eine virtuose
erinnerungspolitische Rhetorik.
Der Autor ist Direktor des Instituts für Diaspora- und
Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum.
Wer das Gedenken wie im Fall des Holocaust globalisiert und
internationalisiert, der weicht vor dem Erinnern an das Konkrete von
Schrecken, Terror und Völkermord in Rituale und Mahnmale aus. Der
türkische Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 sollte die
Europäer dazu bringen, sich nicht mit allen Opfern gleichzusetzen,
sondern bestimmte Opfer als Opfer erstmal wahrzunehmen.
From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress