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Orhan Pamuk und die politische Korrektheit

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  • Orhan Pamuk und die politische Korrektheit

    Frankfurter Allgemeine Zeitung
    27. Juni 2005

    Sohn eines Schöngeistes;
    Orhan Pamuk und die politische Korrektheit

    von Wolfgang Günter Lerch

    FRANKFURT, 26. Juni.

    "Nobelpreis (Nobel ödülü) der Deutschen" an Orhan Pamuk. Unter dieser
    wohl etwas ironisch zu interpretierenden Überschrift hat die
    Europa-Ausgabe der türkischen Zeitung "Hürriyet" dieser Tage
    berichtet, daß der international bekannte türkische Autor in diesem
    Jahr den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
    erhält. Er fügt sich damit in eine Reihe von noblen Preisträgern ein.
    Die Zeitung erwähnt, daß sich Pamuk in der Kurden- und Armenierfrage
    besonders engagiert habe. Das tut sie nicht ohne Grund, denn die
    Ansichten Pamuks zu diesen Themen sind ihr fremd.

    Tatsächlich hatte der Romancier im vergangenen Frühjahr ein
    Kesseltreiben in der Türkei gegen seine Person hervorgerufen, als er
    in einem Gespräch gesagt hatte, die Türken hätten 30 000 Kurden
    getötet und eine Million Armenier umgebracht. "Und fast niemand traut
    sich, das zu erwähnen. Also tue ich es." Mit diesen Sätzen wandte er
    sich gegen die in der Türkei übliche Apologetik, die Armeniermassaker
    würden von westlichen Historikern verzerrt dargestellt, die
    Ereignisse während des Ersten Weltkrieges bewußt zuungunsten der
    Türken entstellt und Teile der Wahrheit, etwa die von Armeniern
    geübte Gewalt und die Leiden der muslimischen Bevölkerung,
    weggelassen. Nicht nur Zeitungen beschimpften ihn, der Autor bekam
    auch Morddrohungen aus der Bevölkerung und wurde als
    "Vaterlandsverräter" dargestellt. Eine Welle des Nationalismus wurde
    in jenen Wochen beobachtet, nachdem die Türkei im vergangenen
    Dezember die Zusage erhalten hatte, die Europäische Union werde am 3.
    Oktober dieses Jahres Gespräche über einen Beitritt Ankaras als
    Vollmitglied aufnehmen. In diese Stimmung paßte keine
    "Nestbeschmutzung", weder im Lager der EU-Befürworter noch in dem der
    gestandenen Nationalisten.

    Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Schriftsteller, Jahrgang 1952
    und in Istanbul "als Sohn eines Schöngeistes", wie er sagt, und Enkel
    eines Unternehmers geboren, in die Riege jener politischen Autoren
    seines Landes aufgestiegen, zu der er eigentlich nicht gehören will.
    Pamuks sensible und komplexe Romane, von denen bisher fünf auf
    deutsch erschienen sind, handeln von den Schwierigkeiten zwischen
    westlicher und islamischer Welt sowie von den Identitätskonflikten in
    der islamisch geprägten türkischen Gesellschaft selbst, die zwischen
    Orient und Okzident, Modernismus und Nationalismus hin und her
    gerissen ist. Natürlich sind das eminent politische Themenkomplexe,
    doch lehnte Pamuk es immer ab, ein typisch politischer Autor zu sein,
    wie das seit den Tagen der Tanzimat-Reformen (1839 bis 1877) mit
    ihren bisweilen platt lehrhaften Tendenzen in der zweiten Hälfte des
    19. Jahrhunderts und auch in der Atatürk-Ära häufig der Fall war. Er
    steht auch keiner Partei nahe und trommelt für nichts und niemanden;
    auch nicht für die EU-Vollmitgliedschaft der Türkei. In dieser
    Angelegenheit hält sich der Schriftsteller eher zurück.

    Im Gefängnis - wie die meisten bekannten Autoren seines Landes im 20.
    Jahrhundert - war er noch nicht. Aber immer wieder hat sich Orhan
    Pamuk zu Fragen der Politik geäußert. So war er der erste
    Schriftsteller überhaupt, der gegen die 1989 in Iran von Ajatollah
    Chomeini erlassene Todes-Fatwa gegen den britischen Schriftsteller
    Salman Rushdie protestierte. Ebenso wandte er sich gegen die
    Verfolgung Yasar Kemals, der 1997 ebenfalls den Friedenspreis in der
    Paulskirche erhielt, durch die türkische Justiz oder des Satirikers
    Aziz Nesin, dessen zehnten Todestages gegenwärtig in der Türkei wie
    außerhalb gedacht wird. Nesin, der über hundert Romane hinterlassen
    hat, wäre zwei Jahre vor seinem Tod beinahe von einer Gruppe
    islamistischer Fanatiker, die in der ostanatolischen Stadt Sivas ein
    Hotel, in dem linke Liedermacher und Dichter tagten, in Brand
    gesteckt hatten, ermordet worden. Damals wurden 37 Menschen getötet.
    Das zeigt, wie real Gefahren in manchen Gebieten der Türkei bisweilen
    noch sein können.

    Pamuk, alles andere als ein religiöser Eiferer, setzte sich außerdem
    dafür ein, die Kopftuchfrage bei türkischen Studentinnen nicht
    dogmatisch, sondern flexibel zu lösen. Nicht nur Lehrerinnen und
    Professorinnen ist das Tragen des Kopftuches in Schule und
    Universität von Staats wegen verboten, sondern auch den Studentinnen
    auf dem Campus und natürlich bei den Prüfungen. In seinem letzten
    Roman mit dem Titel "Kar" (Schnee), der im fernen Osten Anatoliens
    spielt, gehören Selbstmorde von Kopftuchträgerinnen, die vor der Wahl
    stehen, entweder das Tuch abzulegen oder ihre Karriere zu opfern, und
    die diesen Konflikt durch Suizid "lösen", zu den Themen der Handlung.
    Pamuk plädiert bei Studentinnen im Zweifel für die persönliche
    Freiheit. Förderung der Zivilgesellschaft und der Toleranz stehen im
    Mittelpunkt seines Werks.

    "Dieser Mensch ist so unfähig, daß es nicht einmal lohnt, ihn als
    Feind zu betrachten", hatte die "Hürriyet" erbost geschrieben, als
    Pamuk seine Sätze über Armenier und Kurden gesagt hatte. In der
    Türkei mögen manche nun glauben, Pamuk erhalte den Friedenspreis
    zugesprochen, weil er zur Armenierfrage so steht wie der Deutsche
    Bundestag. Dieser hatte am 16. Juni einstimmig eine Entschließung zu
    den Armeniermassakern des Ersten Weltkrieges (einschließlich der
    deutschen Mitschuld) herausgegeben, die vom türkischen Außenminister
    Abdullah Gül umgehend als "verantwortungslos, bestürzend und
    verletzend" zurückgewiesen worden war. Doch Orhan Pamuk, der in
    vielen westlichen Ländern, Amerika eingeschlossen, viel bekannter ist
    als in Deutschland, ist nach Meinung vieler international
    renommierter Autoren längst nobelpreiswürdig.

    Orhan PAMUK

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