Announcement

Collapse
No announcement yet.

Erewan und das Gespenst Darfur

Collapse
X
 
  • Filter
  • Time
  • Show
Clear All
new posts

  • Erewan und das Gespenst Darfur

    Neue Zürcher Zeitung
    28. April 2005

    Erewan und das Gespenst Darfur

    Auswärtige Autoren


    Lehren für die Gegenwart aus dem armenischen Genozid
    Von Vicken Cheterian*

    Am vergangenen Wochenende haben in Armenien Hunderttausende der
    Massaker in der Türkei von 1915 gedacht. Schon im Vorfeld waren die
    Ereignisse, deren Anerkennung als Genozid Armenien fordert, Thema
    zahlreicher Veranstaltungen. Eine Konferenz in Erewan zog die
    Parallelen zur Tragödie in Darfur.

    Die wichtigste Veranstaltung in Erewan zum Gedenken an den 90.
    Jahrestag des Genozids an den Armeniern in der ottomanischen Türkei
    war dieser Tage eine internationale Konferenz unter der
    Schirmherrschaft des Aussenministeriums. Unter dem Motto "Ultimate
    Crime, Ultimate Challenge: Human Rights and Genocide" tagten am 20.
    und 21. April einige Dutzend Wissenschafter, Künstler und Politiker
    aus verschiedenen Ländern in der armenischen Hauptstadt.

    Ankaras Haltung

    Als die Türkei am 24. April 1915 in den Ersten Weltkrieg eintrat,
    wurden in Istanbul etwa 600 armenische Intellektuelle verhaftet und
    erschossen. Dieser Tag markiert den Beginn der Massendeportationen
    und Massaker, die den Tod von bis zu anderthalb Millionen Menschen
    zur Folge hatten, und den Beginn der Entwurzelung des armenischen
    Volkes von seinem Stammland, dem Osten der heutigen Türkei. Obwohl
    die Ereignisse 90 Jahre zurückliegen, streitet die türkische
    Regierung das Verbrechen vehement ab und übt auf andere Regierungen,
    Wissenschafter und Journalisten grossen Druck aus, um sie zur
    Darstellung der offiziellen türkischen Version zu bewegen.

    Doch obwohl wichtige Staaten wie die USA, Deutschland und Israel in
    der Armenier-Frage weiterhin eine kontroverse Haltung einnehmen, hat
    eine wachsende Zahl von Staaten in den letzten Jahren den Genozid
    offiziell anerkannt, unter ihnen Frankreich und die Schweiz. Zuletzt
    erkannte das polnische Parlament am 19. April die Massaker einstimmig
    als Genozid an.

    Der armenische Präsident Kotscharjan unterstrich in seiner
    Eröffnungsrede die Politik seines Landes und erklärte, das Drängen
    auf internationale Anerkennung des armenischen Genozids sei ein
    Eckpfeiler der armenischen Aussenpolitik. Dennoch betrachte Erewan
    die Anerkennung nicht als Vorbedingung für die Normalisierung der
    Beziehungen zur Türkei. Kotscharjan betonte auch, dass sein Land
    offen sei für den Austausch mit der Türkei, während Ankara seine
    Blockade Armeniens aufrechterhält.

    Die Konferenz war geprägt durch die Vielfalt der Teilnehmer und
    Delegationen, besonders wichtig war die Teilnahme einiger türkischer
    Wissenschafter. Der Soziologe Tanner Akcam führte aus, wie die
    offizielle Position der Türkei, den Genozid abzustreiten, zu einer
    Beschränkung der Debatte auf ebendiesen Punkt führte. Er sagte aber,
    es bestehe eine kleine Chance, dass Ankara seine Politik der
    Verneinung in naher Zukunft ändere. Wissenschaftern und Aktivisten
    empfahl er, die Möglichkeiten einer Normalisierung der
    armenisch-türkischen Beziehungen zu diskutieren. Beginnend mit der
    Anerkennung des Genozids, sollten sie eine Debatte vorantreiben, die
    schliesslich zur Aufnahme normaler Beziehungen zwischen den beiden
    Völkern führen könne.

    Hrant Dink, ein Journalist aus Istanbul, der eine zweisprachige
    armenisch-türkische Zeitschrift herausgibt, bezweifelte die
    Aufrichtigkeit der türkischen Regierung, sich auf eine Debatte über
    die Frage des armenischen Genozids einzulassen. Er erklärte, warum
    die armenische Diaspora so entschlossen ist, für die weltweite
    Anerkennung des Genozids zu kämpfen: "Sie suchen die Wurzeln, die sie
    durch Genozid und Deportationen verloren haben." Trotzdem,
    unterstrich er, gebe es in der Türkei eine aufblühende Demokratie,
    die neue Formen des Pluralismus zulasse, darunter auch die
    Infragestellung der offiziellen Politik der Verneinung.

    Vergleich der beiden Genozide

    Auch die israelische Delegation, die vom ehemaligen Minister und
    Knesset-Abgeordneten Yossi Sarid und dem wichtigen Holocaust-Forscher
    Israel Charny angeführt wurde, nahm in den Diskussionen eine zentrale
    Rolle ein. Sie brachte nicht nur die vergleichende Erforschung beider
    Genozide, sondern kritisierte auch scharf die Position Israels, das
    den armenischen Genozid nicht anerkennt. So seltsam es klingen mag,
    dass diese Position vom jüdischen Staat kommt, der sich als
    Verteidiger der Erinnerung an den Holocaust sieht - Israel verfolgt
    in der armenischen Frage eine Realpolitik, um seine geostrategische
    Allianz mit der Türkei zu verteidigen.

    Das Gespenst Darfurs war an jeder Ecke der Konferenz präsent. Der
    dänische Wissenschafter Eric Markusen, der im Sudan gearbeitet hat,
    zog eine Parallele zwischen Anatolien 1915 und dem Sudan heute. In
    beiden Fällen wurde die Wüste zur eigentlichen Todeswaffe: Damals wie
    heute wurden die Dorfbewohner gezwungen, in die Wüste zu marschieren,
    um dort an Hunger und Durst zu sterben. Wie im armenischen Fall sind
    sich die Staatsmänner der Welt bewusst, dass die staatlich
    geförderten Massaker weitergehen und bereits 300"000 Zivilisten
    getötet wurden.

    Die Alliierten hatten allerdings während des Ersten Weltkriegs kaum
    Einfluss auf die Türkei, während die internationale Gemeinschaft
    heute durchaus Möglichkeiten hätte, das Morden zu stoppen. Die Frage
    bleibt: Warum tun wir nicht mehr, um den Genozid, der unter dem
    Schutz unserer Gleichgültigkeit stattfindet, zu beenden? Indem die
    Lehren des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts mit dem heutigen
    Rwanda und dem Sudan verknüpft werden, und durch die Einladung von
    Delegationen aus Israel und der Türkei, hat die armenische Regierung
    eine neue Reife und ein neues Selbstbewusstsein gezeigt.

    Dies ist das erste Mal, dass Armenier aus ihrem eigenen Trauma und
    ihrer Opferrolle herausfinden und in den Dialog mit anderen treten.
    So verwandelt sich ihre Tragödie in eine menschliche Lehre, die für
    die Gegenwart relevant ist: Wie in der Vergangenheit gibt es auch
    heute noch Staaten mit der Fähigkeit und Mentalität zu neuen
    Genoziden.

    *"Der Autor leitete mehrere Jahre lang eine Journalistenschule in
    Erewan. Er lebt heute in Genf.
Working...
X