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03.05.2005
"Türkei braucht eine glaubwürdige EU-Perspektive"
Claudia Roth drängt auf weitere Reformen
Moderation: Christine Heuer
Die Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Claudia Roth, hat an die
Türkei appelliert, in den Reformbemühungen nicht nachzulassen. Es
sei wichtig, dass die Dynamik nicht gebremst werde, sagte Roth. Dazu
brauche das Land aber Perspektiven. Wichtig sei deshalb, am 3. Oktober
wie geplant Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.
Christine Heuer: Elf Jahre lang hatte kein deutscher Regierungschef
die Türkei besucht. Gerhard Schröder hat das geändert. Schließlich
versteht sich der deutsche Bundeskanzler als wichtiger Mittler für
einen Beitritt des Landes zur Europäischen Union. Heute reist er
bereits zum zweiten Mal binnen 15 Monaten in die Türkei.
Am Telefon jetzt eine Koalitionspartnerin Gerhard Schröders und eine
mindestens ebenso entschlossene Befürworterin des Türkei-Beitritts,
wie es der Bundeskanzler ist: die Bundesvorsitzende der Grünen. Guten
Morgen Claudia Roth!
Claudia Roth: Schönen guten Morgen Frau Heuer!
Heuer: Ihr Koalitionskollege Gernot Erler sagt heute, er sei
ernüchtert über die mangelnde Umsetzung von Reformen in der
Türkei. Sind Sie auch ernüchtert?
Roth: Ja. Man hätte sich einiges schneller wünschen können und es
ist wichtig, dass der Kanzler ganz sicher auch jetzt in der Türkei
darauf drängen wird, dass die Reformdynamik in der Türkei nicht
gebremst wird. Damit diese Reformdynamik aber unterstützt wird,
braucht es eben nach wie vor eine glaubwürdige EU-Perspektive
und das ist das wichtige Signal, das von diesem Besuch sicher auch
ausgehen wird, dass rot-grün zu dieser EU-Perspektive steht, zu
einer glaubwürdigen Perspektive, dass aber die Voraussetzung ist,
dass in der Tat in Ankara die Reformen weiter fortgesetzt werden,
die Dynamik nicht unterbrochen wird.
Heuer: Sollte man, Frau Roth, offensiver damit drohen, dass der
Verhandlungsprozess auch scheitern kann und scheitern muss, wenn die
Türkei sich nicht mehr beeilt?
Roth: Ich weiß nicht, ob jetzt eine Drohung angebracht wäre. Was
völlig falsch ist ist das, was Herr Stoiber am Wochenende schon
wieder getan hat, dass er nämlich verkündet hat, dass die
Türkei nie Mitglied in der Europäischen Union werden wird, und
vorauseilend, sollte es in Frankreich nicht zu einer Mehrheit für
die EU-Verfassung kommen, wird in der Union gesagt, ja dafür ist die
Türkei verantwortlich zu machen beziehungsweise die Perspektive der
Türkei für die Europäische Union.
Nein, ich denke wir sollten sagen, unsere Position sollte sein, wir
halten an dem 3. Oktober als Beginn der Verhandlungen fest, die sich ja
über viele Jahre hinziehen werden, aber die Voraussetzungen müssen
erfüllt sein. Da ist eben tatsächlich einiges zu tun. Es bremst! Es
gibt wirklich ein Bremsen in der Reform des Justizwesens. Das
Strafgesetz muss umgesetzt werden. In der Pressefreiheit gibt es nach
wie vor Defizite. Die neu vorgelegten Vorschläge sind aus meiner
Sicht nicht ausreichend genug. Ankara hat seit langem zugesagt und
versprochen, die Rechte der christlichen Minderheiten, der religiösen
Minderheiten zu stärken. Und leider merkt man gerade in diesen Tagen
und Wochen, dass die Kurden-Frage doch sehr fragil ist. Also ich
glaube, eine massive Unterstützung und auch sozusagen ein Bestehen
auf der Reformdynamik, das ist das jetzt, was uns weiter bringt.
Heuer: Sie setzen auf eine Strategie des Zuckerbrots. Frau Roth, wo
bleibt die Peitsche? Wenn wir zu einem konkreten Punkt kommen, der
Armenien-Debatte, wo bleibt zum Beispiel die Forderung von rot-grün,
dass die türkische Regierung das Massaker an den Armeniern vor 90
Jahren als Völkermord anerkennen muss?
Roth: Nein, es geht ja nicht um Zuckerbrot und Peitsche, sondern
es geht darum, dass die Türkei genauso behandelt werden soll wie
alle anderen Beitrittskandidaten. Das heißt es gibt Kriterien;
die müssen erfüllt sein als Voraussetzung für einen EU-Beitritt,
der sich erst in vielen, vielen Jahren dann konkret stellen wird. Aber
dass man nicht jetzt schon sagt, ihr habt eh keine Chance, das was die
Union macht ist völlig unverantwortlich, weil sie alle Bemühungen,
alle Kräfte, die in der Türkei massiv für die Veränderung, für
die Menschenrechte, für die Demokratie kämpfen, frustriert und
diesen Prozess sozusagen konterkariert.
Armenien ist eine wichtige Frage und ich denke es kommt darauf
an zu vermitteln, dass es im eigenen türkischen Interesse ist,
sich mit der eigenen Geschichte zu befassen, mit den Verbrechen,
die im osmanischen Reich passiert sind, mit den Verbrechen gegen
die Menschlichkeit am armenischen Volk. Ich glaube wir als Deutsche
können das sehr glaubwürdig sagen. Zum einen haben wir eine
historische Verantwortung aus dem Holocaust und wissen, wie wichtig
Gedenken ist, aber aktives Gedenken. Zum zweiten - und ich denke das
wird helfen auch in der Türkei, das Tabu der Beschäftigung mit der
Armenien-Frage zu überwinden - es gibt auch eine deutsche Beteiligung
an diesen Verbrechen. Die militärische, die politische Führung des
deutschen Reiches war 1915 informiert über das, was dort passiert,
und hat nicht interveniert. Ich glaube wenn wir das selber zum Teil
unserer Geschichte machen, wird eine Debatte in der Türkei möglich,
eröffnet werden und es ist richtig zu unterstützen, dass eine
Historikerkommission eingerichtet werden soll. Die muss aber
wirklich unabhängig sein. Da darf das Ergebnis nicht von Vornherein
feststehen.
Heuer: Frau Roth, aber es liegen 90 Jahre zwischen den Ereignissen und
der Debatte, die wir heute haben. Das ist eine lange Zeit. Frage an
Sie: waren die Verbrechen an den Armeniern ein Völkermord, nennen Sie
das so und finden Sie, die türkische Regierung muss es auch so nennen?
Roth: Ich glaube nicht, dass es viel Sinn macht, jetzt über Begriffe
zu streiten. Ich denke wenn man die Kriterien von heute anwendet,
vom Völkerrecht, dann handelt es sich um einen Völkermord. Ich
möchte jetzt aber nicht über Begriffe streiten; ich möchte mit dazu
beitragen, dass in der Türkei ein Tabu sich öffnet, weil das eine
Gesellschaft nur stärkt, wenn über die eigene Geschichte diskutiert
wird, wenn man sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt. Ich
glaube unsere Rolle muss sein, jetzt nicht mit dem erhobenen
Zeigefinger zu verlangen, dass in der Türkei ein Genozid anerkannt
wird, sondern unsere Rolle muss und kann sein, dazu beizutragen, dass
es zu einer Versöhnung zwischen Türken und Armeniern kommt und dass
die Rechte der Armenier in der Türkei gleichberechtigt gewahrt sind.
Heuer: Der Historiker Heinrich August Winkler, Frau Roth, wirft
rot-grün eine "Politik der vollendeten Tatsachen" vor, nämlich
erst wird entschieden und dann wird geredet, zum Beispiel über den
Türkei-Beitritt. Er sagt, dies passe zum Absolutismus, nicht aber
zur Demokratie, und er befürchtet, dies schaffe Europa-Skepsis bei
den Bürgern. Können Sie das in Kauf nehmen?
Roth: Nein, das kann ich überhaupt nicht in Kauf nehmen. Es ist
völlig falsch. Es geht darum, sich immer wieder zu fragen was kann
Europa, was kann auch deutsche Politik dazu beitragen, dass es in der
Türkei zu einer Demokratisierungsdynamik kommt, dass in der Türkei
die Menschenrechte, die Minderheitenrechte, der Rechtsstaat geachtet
wird. Es ist in unserem privilegierten Interesse, dass die Türkei
eine demokratische, rechtstaatliche Türkei ist. Das ist in unserem
deutschen Interesse und im europäischen Interesse. Dazu trägt eine
glaubwürdige EU-Perspektive bei. Am 3. Oktober in diesem Jahr wird die
Türkei nicht Mitglied der Europäischen Union - das weiß Herr Winkler
auch ganz genau -, sondern am 3. Oktober soll ein Verhandlungsprozess
beginnen, der sich über viele Jahre hinweg zieht, genauso wie mit
anderen Kandidaten. Wir haben als Bundesrepublik Deutschland und als
Europäische Union ein Interesse aus sicherheitspolitischen Gründen,
ein Signal zu setzen in den nahen und mittleren
Osten, dass Islam und Demokratie miteinander vereinbar sind, dass
eine demokratische Türkei ein Signal ist in die ganze Welt und dass
Europa die Kraft hat, eine demokratische Türkei zu integrieren,
weil nicht die Religion das entscheidende Identitätsmerkmal ist,
sondern Glaubensfreiheit und Religionsfreiheit.
Heuer: Nun haben Sie das zweite Mal gesagt, Frau Roth, man müsse mit
der Türkei genauso umgehen wie mit anderen Beitrittskandidaten. Viele
Bürger und auch viele Politiker sehen die Türkei nicht als einen so
ganz normalen Kandidaten für einen EU-Beitritt. Ist die Demokratie
in der EU stark genug, dass sie das Undemokratische an der Türkei
schon ertragen kann?
Roth: Moment! Es geht ja nicht darum, eine undemokratische Türkei
zu ertragen, sondern es geht darum, auch mit einem Beitrittsprozess
zur Demokratisierung beizutragen.
Heuer: Aber noch ist dieser Prozess ja nicht abgeschlossen?
Roth: Natürlich ist er nicht abgeschlossen, aber dazu dient ja auch
ein Verhandlungsprozess, der sich über viele Monate hinwegziehen
wird. Sie sehen ja auch, dass wir aktuell eine Diskussion haben
und dass sich auch in Rumänien noch einiges verändern muss und
dass sich auch Rumänien anstrengen muss, weil die Kriterien sind
einzuhalten. Aber wenn ich mir anschaue, wie die Glaubwürdigkeit
der EU-Perspektive, die _99 mit rot-grün sozusagen begonnen hat,
in der Türkei gewirkt hat, dann muss man sagen die Türkei ist
nicht mehr die Türkei von vor wenigen Jahren. Die Todesstrafe ist
abgeschafft worden. Es gibt ein wirklich gutes Anti-Folter-Gesetz. Das
heißt nicht, dass es nicht immer noch vereinzelt zu Folterfällen
kommt, aber das genau muss man überwinden. Die Kurden-Frage wurde
enttabuisiert. Es gibt immer noch große Probleme, aber der EU-Prozess
trägt mit dazu bei und wir sind glaube ich besonders privilegiert,
denn in unserem Land leben Millionen Menschen, deren Wurzeln in
der Türkei
sind. Eine Türkei-Perspektive trägt auch bei uns zur Integration
bei.
Heuer: Die Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Claudia
Roth. Besten Dank für das Gespräch, Frau Roth.
Roth: Ich danke Ihnen! Auf Wiederhören!
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From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress
03.05.2005
"Türkei braucht eine glaubwürdige EU-Perspektive"
Claudia Roth drängt auf weitere Reformen
Moderation: Christine Heuer
Die Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Claudia Roth, hat an die
Türkei appelliert, in den Reformbemühungen nicht nachzulassen. Es
sei wichtig, dass die Dynamik nicht gebremst werde, sagte Roth. Dazu
brauche das Land aber Perspektiven. Wichtig sei deshalb, am 3. Oktober
wie geplant Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.
Christine Heuer: Elf Jahre lang hatte kein deutscher Regierungschef
die Türkei besucht. Gerhard Schröder hat das geändert. Schließlich
versteht sich der deutsche Bundeskanzler als wichtiger Mittler für
einen Beitritt des Landes zur Europäischen Union. Heute reist er
bereits zum zweiten Mal binnen 15 Monaten in die Türkei.
Am Telefon jetzt eine Koalitionspartnerin Gerhard Schröders und eine
mindestens ebenso entschlossene Befürworterin des Türkei-Beitritts,
wie es der Bundeskanzler ist: die Bundesvorsitzende der Grünen. Guten
Morgen Claudia Roth!
Claudia Roth: Schönen guten Morgen Frau Heuer!
Heuer: Ihr Koalitionskollege Gernot Erler sagt heute, er sei
ernüchtert über die mangelnde Umsetzung von Reformen in der
Türkei. Sind Sie auch ernüchtert?
Roth: Ja. Man hätte sich einiges schneller wünschen können und es
ist wichtig, dass der Kanzler ganz sicher auch jetzt in der Türkei
darauf drängen wird, dass die Reformdynamik in der Türkei nicht
gebremst wird. Damit diese Reformdynamik aber unterstützt wird,
braucht es eben nach wie vor eine glaubwürdige EU-Perspektive
und das ist das wichtige Signal, das von diesem Besuch sicher auch
ausgehen wird, dass rot-grün zu dieser EU-Perspektive steht, zu
einer glaubwürdigen Perspektive, dass aber die Voraussetzung ist,
dass in der Tat in Ankara die Reformen weiter fortgesetzt werden,
die Dynamik nicht unterbrochen wird.
Heuer: Sollte man, Frau Roth, offensiver damit drohen, dass der
Verhandlungsprozess auch scheitern kann und scheitern muss, wenn die
Türkei sich nicht mehr beeilt?
Roth: Ich weiß nicht, ob jetzt eine Drohung angebracht wäre. Was
völlig falsch ist ist das, was Herr Stoiber am Wochenende schon
wieder getan hat, dass er nämlich verkündet hat, dass die
Türkei nie Mitglied in der Europäischen Union werden wird, und
vorauseilend, sollte es in Frankreich nicht zu einer Mehrheit für
die EU-Verfassung kommen, wird in der Union gesagt, ja dafür ist die
Türkei verantwortlich zu machen beziehungsweise die Perspektive der
Türkei für die Europäische Union.
Nein, ich denke wir sollten sagen, unsere Position sollte sein, wir
halten an dem 3. Oktober als Beginn der Verhandlungen fest, die sich ja
über viele Jahre hinziehen werden, aber die Voraussetzungen müssen
erfüllt sein. Da ist eben tatsächlich einiges zu tun. Es bremst! Es
gibt wirklich ein Bremsen in der Reform des Justizwesens. Das
Strafgesetz muss umgesetzt werden. In der Pressefreiheit gibt es nach
wie vor Defizite. Die neu vorgelegten Vorschläge sind aus meiner
Sicht nicht ausreichend genug. Ankara hat seit langem zugesagt und
versprochen, die Rechte der christlichen Minderheiten, der religiösen
Minderheiten zu stärken. Und leider merkt man gerade in diesen Tagen
und Wochen, dass die Kurden-Frage doch sehr fragil ist. Also ich
glaube, eine massive Unterstützung und auch sozusagen ein Bestehen
auf der Reformdynamik, das ist das jetzt, was uns weiter bringt.
Heuer: Sie setzen auf eine Strategie des Zuckerbrots. Frau Roth, wo
bleibt die Peitsche? Wenn wir zu einem konkreten Punkt kommen, der
Armenien-Debatte, wo bleibt zum Beispiel die Forderung von rot-grün,
dass die türkische Regierung das Massaker an den Armeniern vor 90
Jahren als Völkermord anerkennen muss?
Roth: Nein, es geht ja nicht um Zuckerbrot und Peitsche, sondern
es geht darum, dass die Türkei genauso behandelt werden soll wie
alle anderen Beitrittskandidaten. Das heißt es gibt Kriterien;
die müssen erfüllt sein als Voraussetzung für einen EU-Beitritt,
der sich erst in vielen, vielen Jahren dann konkret stellen wird. Aber
dass man nicht jetzt schon sagt, ihr habt eh keine Chance, das was die
Union macht ist völlig unverantwortlich, weil sie alle Bemühungen,
alle Kräfte, die in der Türkei massiv für die Veränderung, für
die Menschenrechte, für die Demokratie kämpfen, frustriert und
diesen Prozess sozusagen konterkariert.
Armenien ist eine wichtige Frage und ich denke es kommt darauf
an zu vermitteln, dass es im eigenen türkischen Interesse ist,
sich mit der eigenen Geschichte zu befassen, mit den Verbrechen,
die im osmanischen Reich passiert sind, mit den Verbrechen gegen
die Menschlichkeit am armenischen Volk. Ich glaube wir als Deutsche
können das sehr glaubwürdig sagen. Zum einen haben wir eine
historische Verantwortung aus dem Holocaust und wissen, wie wichtig
Gedenken ist, aber aktives Gedenken. Zum zweiten - und ich denke das
wird helfen auch in der Türkei, das Tabu der Beschäftigung mit der
Armenien-Frage zu überwinden - es gibt auch eine deutsche Beteiligung
an diesen Verbrechen. Die militärische, die politische Führung des
deutschen Reiches war 1915 informiert über das, was dort passiert,
und hat nicht interveniert. Ich glaube wenn wir das selber zum Teil
unserer Geschichte machen, wird eine Debatte in der Türkei möglich,
eröffnet werden und es ist richtig zu unterstützen, dass eine
Historikerkommission eingerichtet werden soll. Die muss aber
wirklich unabhängig sein. Da darf das Ergebnis nicht von Vornherein
feststehen.
Heuer: Frau Roth, aber es liegen 90 Jahre zwischen den Ereignissen und
der Debatte, die wir heute haben. Das ist eine lange Zeit. Frage an
Sie: waren die Verbrechen an den Armeniern ein Völkermord, nennen Sie
das so und finden Sie, die türkische Regierung muss es auch so nennen?
Roth: Ich glaube nicht, dass es viel Sinn macht, jetzt über Begriffe
zu streiten. Ich denke wenn man die Kriterien von heute anwendet,
vom Völkerrecht, dann handelt es sich um einen Völkermord. Ich
möchte jetzt aber nicht über Begriffe streiten; ich möchte mit dazu
beitragen, dass in der Türkei ein Tabu sich öffnet, weil das eine
Gesellschaft nur stärkt, wenn über die eigene Geschichte diskutiert
wird, wenn man sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzt. Ich
glaube unsere Rolle muss sein, jetzt nicht mit dem erhobenen
Zeigefinger zu verlangen, dass in der Türkei ein Genozid anerkannt
wird, sondern unsere Rolle muss und kann sein, dazu beizutragen, dass
es zu einer Versöhnung zwischen Türken und Armeniern kommt und dass
die Rechte der Armenier in der Türkei gleichberechtigt gewahrt sind.
Heuer: Der Historiker Heinrich August Winkler, Frau Roth, wirft
rot-grün eine "Politik der vollendeten Tatsachen" vor, nämlich
erst wird entschieden und dann wird geredet, zum Beispiel über den
Türkei-Beitritt. Er sagt, dies passe zum Absolutismus, nicht aber
zur Demokratie, und er befürchtet, dies schaffe Europa-Skepsis bei
den Bürgern. Können Sie das in Kauf nehmen?
Roth: Nein, das kann ich überhaupt nicht in Kauf nehmen. Es ist
völlig falsch. Es geht darum, sich immer wieder zu fragen was kann
Europa, was kann auch deutsche Politik dazu beitragen, dass es in der
Türkei zu einer Demokratisierungsdynamik kommt, dass in der Türkei
die Menschenrechte, die Minderheitenrechte, der Rechtsstaat geachtet
wird. Es ist in unserem privilegierten Interesse, dass die Türkei
eine demokratische, rechtstaatliche Türkei ist. Das ist in unserem
deutschen Interesse und im europäischen Interesse. Dazu trägt eine
glaubwürdige EU-Perspektive bei. Am 3. Oktober in diesem Jahr wird die
Türkei nicht Mitglied der Europäischen Union - das weiß Herr Winkler
auch ganz genau -, sondern am 3. Oktober soll ein Verhandlungsprozess
beginnen, der sich über viele Jahre hinweg zieht, genauso wie mit
anderen Kandidaten. Wir haben als Bundesrepublik Deutschland und als
Europäische Union ein Interesse aus sicherheitspolitischen Gründen,
ein Signal zu setzen in den nahen und mittleren
Osten, dass Islam und Demokratie miteinander vereinbar sind, dass
eine demokratische Türkei ein Signal ist in die ganze Welt und dass
Europa die Kraft hat, eine demokratische Türkei zu integrieren,
weil nicht die Religion das entscheidende Identitätsmerkmal ist,
sondern Glaubensfreiheit und Religionsfreiheit.
Heuer: Nun haben Sie das zweite Mal gesagt, Frau Roth, man müsse mit
der Türkei genauso umgehen wie mit anderen Beitrittskandidaten. Viele
Bürger und auch viele Politiker sehen die Türkei nicht als einen so
ganz normalen Kandidaten für einen EU-Beitritt. Ist die Demokratie
in der EU stark genug, dass sie das Undemokratische an der Türkei
schon ertragen kann?
Roth: Moment! Es geht ja nicht darum, eine undemokratische Türkei
zu ertragen, sondern es geht darum, auch mit einem Beitrittsprozess
zur Demokratisierung beizutragen.
Heuer: Aber noch ist dieser Prozess ja nicht abgeschlossen?
Roth: Natürlich ist er nicht abgeschlossen, aber dazu dient ja auch
ein Verhandlungsprozess, der sich über viele Monate hinwegziehen
wird. Sie sehen ja auch, dass wir aktuell eine Diskussion haben
und dass sich auch in Rumänien noch einiges verändern muss und
dass sich auch Rumänien anstrengen muss, weil die Kriterien sind
einzuhalten. Aber wenn ich mir anschaue, wie die Glaubwürdigkeit
der EU-Perspektive, die _99 mit rot-grün sozusagen begonnen hat,
in der Türkei gewirkt hat, dann muss man sagen die Türkei ist
nicht mehr die Türkei von vor wenigen Jahren. Die Todesstrafe ist
abgeschafft worden. Es gibt ein wirklich gutes Anti-Folter-Gesetz. Das
heißt nicht, dass es nicht immer noch vereinzelt zu Folterfällen
kommt, aber das genau muss man überwinden. Die Kurden-Frage wurde
enttabuisiert. Es gibt immer noch große Probleme, aber der EU-Prozess
trägt mit dazu bei und wir sind glaube ich besonders privilegiert,
denn in unserem Land leben Millionen Menschen, deren Wurzeln in
der Türkei
sind. Eine Türkei-Perspektive trägt auch bei uns zur Integration
bei.
Heuer: Die Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen Claudia
Roth. Besten Dank für das Gespräch, Frau Roth.
Roth: Ich danke Ihnen! Auf Wiederhören!
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From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress