Türkei: Nationalistische Kampagne des Militärs verdeckt Widerannäherung an USA
http://www.wsws.org/de/2005/mai2005/trk-m03.shtml
Von Justus Leicht
3. Mai 2005
In der Türkei hat sich in den letzten sechs Wochen eine Woge des
Chauvinismus ausgebreitet, der sich vordergründig gegen die Kurden,
in Wirklichkeit aber gegen die gemäßigt islamistische Regierung der
AKP von Premierminister Recep Tayip Erdogan und deren Orientierung
auf die EU richtet. Sie ist auch keineswegs eine spontane Reaktion
breiter Schichten der Bevölkerung, sondern ein Manöver von Teilen des
Staatsapparats, insbesondere des Militärs und der Sicherheitskräfte,
unterstützt von organisierten faschistischen Banden.
Auslöser war ein an sich völlig unbedeutender Zwischenfall
während des kurdischen Neujahrsfestes Newroz im März. In der Stadt
Mersin versuchten ein paar kurdische Halbwüchsige am Rande einer
Demonstration, eine türkische Fahne zu verbrennen. Weder hatten sie
dabei Unterstützung von anderen Demonstranten, noch hatten sie Erfolg,
bevor sie von der Polizei verhaftet wurden.
Der Vorfall blieb von der Öffentlichkeit unbemerkt, bis der
Generalstab der Armee zwei Tage später in einer scharfen Erklärung
den jugendlichen Vandalismus als "Verrat" von "sogenannten Bürgern"
brandmarkte. Die Armee sei bereit, "den letzten Tropfen Blut zu
vergießen, um das Land und seine Fahne zu schützen", hieß
es weiter. Daraufhin verurteilte auch Staatspräsident Sezer
den Vorfall. Sogar das Rektorat der Istanbuler Universität
erklärte in Zeitungsinseraten seine "Abscheu". Alle bekannten
kurdisch-nationalistischen Politiker distanzierten sich von der Aktion,
es half nichts.
Das Land wurde in ein regelrechtes Meer türkischer Fahnen getaucht,
die nun an allen Geschäften, öffentlichen Plätzen und Gebäuden
hängen mussten. Gruppen faschistischer Grauer Wölfe zogen
pöbelnd durch die Straßen, die Medien entfachten eine regelrechte
Pogromstimmung gegen die Kurden.
Etwa zur selben Zeit sah sich auch der weltbekannte türkische
Schriftsteller Orhan Pamuk einer Kampagne von Medien und Politikern
ausgesetzt, weil er in einem Interview über sein neues Buch "Schnee"
bemerkt hatte, dass "in der Türkei eine Million Armenier [Anfang
des 20. Jahrhunderts] und in den 90er Jahren 30.000 Kurden umgebracht
worden sind". Mehrere Regionalpolitiker riefen dazu auf, seine Bücher
zu verbrennen. Pamuk erhielt wegen seiner Bemerkung eine Strafanzeige,
Zeitungen beschimpften ihn als "Verräter", wegen zahlreicher
Morddrohungen traute er sich nicht mehr in die Öffentlichkeit.
Im April fanden dann in verschiedenen Städten, vor allem im
überwiegend von Alewiten bewohnten Istanbuler Stadtteil Gazi und der
nordanatolischen Stadt Trabzon, tätliche Angriffe rechtsradikaler
Gruppen auf Linke statt, wobei mindestens einer, der Alewit Esat
Atmaca, von den Ultranationalisten getötet und viele weitere verletzt
wurden. In mehreren Städten kam es zu Übergriffen von Mobs gegen
Unterstützer der TAYAD, einer Organisation von Angehörigen linker
politischer Gefangener, die meist in Isolationshaft sitzen. In allen
Fällen wurden die TAYAD-Unterstützer, die nichts anderes taten,
als legale Flugblätter zu verteilen, zusammengeschlagen und von
der Polizei nur knapp vor einem Lynchmord bewahrt. Allerdings nahm
die Polizei im Anschluss stets die Opfer der Gewalt in Gewahrsam,
weil sie "die Öffentlichkeit provoziert" hätten.
Vor zehn Tagen schließlich legten das Militär und seine Verbündeten
noch einmal nach. In einer Rede vor einer Militärakademie
beschäftigte sich Generalstabschef Hilmi Özkök kaum mit der
Situation der Armee und der Sicherheitspolitik, sondern ging der Reihe
nach alle aktuellen Themen der Innen- und Außenpolitik durch, wobei
er sich praktisch in jedem Punkt in scharfen Gegensatz zur gewählten
Regierung stellte.
Die Türkei sei weder ein gemäßigt islamischer Staat noch ein
islamisches Land, betonte er und warnte, das "türkische Volk" werde
jeden Versuch verhindern, das Land in eine derartige Richtung zu
führen. Ähnliche Töne hatte es auch 1997 beim Sturz der Regierung
Erbakan gegeben. Weiter schloss er jedes Zugeständnis an Griechenland
in der Ägäis und in der Zypern-Frage aus. Zypern sei immer noch von
hoher strategischer Bedeutung, weshalb auch türkische Truppen dort
bleiben müssten. Schließlich unterhalte deshalb auch Großbritannien
immer noch eine Militärbasis auf Zypern.
Auch gegenüber Armenien verlangte der Armeechef eine harte
Haltung. Armenien müsse sich erst einmal an internationales Recht und
die Prinzipien guter Nachbarschaft halten. Die Türkei wirft Armenien
vor, es halte Nagorny-Karabach, eine überwiegend von Armeniern
bewohnte Enklave in Aserbaidschan, sowie einen Korridor von dort nach
Armenien völkerrechtswidrig besetzt. Ankara macht die "Rückgabe"
aller ehemals aserbaidschanischen Gebiete an die Nachbarrepublik
traditionell zur Vorbedingung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen
mit Armenien. Des Weiteren solle Armenien darauf verzichten, die
Anerkennung des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich
1915 zu fordern. General Özkök leugnete in seiner Rede noch einmal
ganz ausdrücklich, dass ein Völkermord stattgefunden habe.
Erdogan, der den Völkermord selbst ebenfalls leugnet, hat dazu
vorgeschlagen, vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen eine
gemeinsame Historikerkommission einzusetzen, um die "geschichtliche
Wahrheit herauszufinden". Dieser von einigen westlichen Regierungen
als Geste der Versöhnung gefeierte Vorschlag ist in Wirklichkeit ein
Affront gegen Armenien. Die armenische Regierung hält es, wie auch
fast alle seriösen Historiker, für erwiesen, dass die Ereignisse
von 1915 einen Völkermord darstellen. Sie will zuerst die Aufnahme
diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen diskutieren. In
jüngster Zeit hat Erdogan angedeutet, politische Beziehungen
könnten möglicherweise auch unabhängig von und neben der Arbeit
einer Historikerkommission hergestellt werden, eine Haltung, die von
der von General Özkök vorgegebenen harten Linie abzuweichen scheint.
Dieser widmete sich auch ausführlich der Kurdenfrage. Die Aktivitäten
der PKK hätten in letzter Zeit drastisch zugenommen, erklärte der
Armeechef, und beklagte, die EU betätige sich als Mittler für die
PKK. Eine EU-Mitgliedschaft sei "kein Segen" und es sei "nicht das
Ende der Welt", wenn die Türkei kein EU-Mitglied werde.
Von den USA verlangte Özkök ein schärferes Vorgehen gegen die PKK,
die sich größtenteils im Nordirak aufhält. Außerdem warnte der
General, dass die nordirakische Stadt Kirkuk "kurz vor der Explosion"
stünde. Kirkuk, wo bis zu 25 Prozent des irakischen Öls liegen,
wird von den kurdischen Nationalisten als Hauptstadt einer autonomen
Kurdenregion oder eines künftigen kurdischen Staates beansprucht. Sie
haben unter den Augen der amerikanischen Besatzer systematisch Kurden
aus dem übrigen Irak in Kirkuk angesiedelt, wo auch viele Turkmenen
und Araber leben. Angeblich handelt es sich bei den Neuankömmlingen
ausschließlich um Kurden, die unter dem Baath-Regime aus der Stadt
vertrieben wurden. Inwieweit das tatsächlich der Fall ist, lässt
sich schwer nachprüfen.
Hintergrund ist, dass sowohl die Entwicklung im Nahen und Mittleren
Osten als auch in Europa die Politik der türkischen Regierung in
eine Krise geworfen hat.
Seit das türkische Parlament der US-Armee am 1. März 2003 die Nutzung
türkischer Basen für den Aufmarsch gegen den Irak verweigerte, hat
sich Erdogan nach Kräften bemüht, das Verhältnis zu den USA wieder
zu verbessern. Das aggressive Vorgehen der Regierung Bush und auch der
Regierung Scharon haben allerdings gerade in seiner eigenen Partei-
und Wählerbasis viel Unmut ausgelöst, der durch die Drohungen der
USA gegenüber Iran und Syrien noch verstärkt worden ist.
Und während Erdogan seine politische Zukunft mit der EU-Mitgliedschaft
verbunden hat, ist die EU-Begeisterung deutlich abgeflaut,
seit der EU-Gipfel vom 17. Dezember der Türkei den Beginn von
Beitrittsverhandlungen am Ende dieses Jahres in Aussicht gestellt
hat. Insbesondere die französische Entscheidung, über einen
türkischen Beitritt per Referendum zu entscheiden, hat in der Türkei
den Eindruck erweckt, die EU fordere zwar viel, meine es aber am
Schluss doch nicht ernst mit einer Mitgliedschaft. Die französische
Nationalversammlung hatte Ende Februar eine als "Türken-Artikel"
bekannte gewordene Verfassungsänderung verabschiedet, gemäß
der in Zukunft jede neue Erweiterung der Europäischen Union den
französischen Wahlberechtigten in einem Referendum zur Zustimmung
unterbreitet werden muss.
In Deutschland haben sich CDU und CSU, die möglicherweise schon
ein einem Jahr die Regierung übernehmen, vehement gegen eine
EU-Mitgliedschaft der Türkei ausgesprochen. Auch die Verschiebung
des Beitritts von Kroatien und die Diskussion über die Ukraine,
deren Beitrittswunsch gegenwärtig zurückgewiesen wird, ist
in der Türkei aufmerksam registriert worden. Die Enttäuschung
darüber, die mit der Unzufriedenheit über die Folgen des liberalen
Wirtschaftsprogramms der AKP-Regierung einhergeht, versuchen nun extrem
rechte Kräfte zu nutzen, um die Regierung zu destabilisieren. Mehr
als ein Dutzend Abgeordnete haben innerhalb der letzten drei Monate
die Parlamentsfraktion der Regierung verlassen. Meist sind sie zu
anderen rechten Parteien gewechselt.
Ein Alarmsignal für die Militärs sind die Entwicklungen im
Irak. Die Türkei gehört zu den Ländern, die das Ergebnis der
irakischen Wahlen vom 30. Januar kritisiert haben. Diese haben zu
einer deutlichen Stärkung der kurdischen Nationalisten und der
schiitischen religiösen Parteien geführt. Beides liegt nicht in
Ankaras Interesse. Wenn Kirkuk tatsächlich unter kurdische Kontrolle
geriete, könnte dies zur Basis für einen kurdischen Staat werden,
der womöglich auch separatistischen Tendenzen in den Nachbarstaaten
Auftrieb verleihen würde.
Für Aufregung haben in Ankara auch zwei Artikel amerikanischer Autoren
im Frühjahr gesorgt. Der eine von Robert Pollock wurde im Februar
im Wall Street Journal unter dem Titel "The sick man of Europe -
again" ("Erneut der kranke Mann Europas") veröffentlicht. Er griff
die Türkei in sehr scharfer Form wegen eines dort herrschenden
"Anti-Amerikanismus" an. Den anderen hat Michael Rubin, ehemaligem
Berater der Bush-Regierung, für verschiedene rechte Think tanks
geschrieben. Er warnt, wenn die Türkei sich nicht kooperativer
zeige, würden die USA möglicherweise in irakisch Kurdistan eine
Militärbasis errichten.
Die PKK, die in den letzten fünf Jahren alles getan hat, um sich
von ihrer militanten Vergangenheit abzugrenzen und sich gegenüber
der Türkei als staatstragende Kraft darzustellen, hat Anzeichen
einer neuen Radikalisierung erkennen lassen. So hat sie erst vor
wenigen Wochen wieder ihren alten Namen angenommen. Ihr Führer, der
inhaftierte Abdullah Öcalan, hat ein Konzept des "Demokratischen
Konföderalismus" entwickelt, das die Kurden der ganzen Region
einschließen soll - in der Türkei, Irak, Iran und Syrien. Die PKK
behauptet, die türkische Armee habe in den letzten Wochen groß
angelegte Operationen gegen ihre Guerillakämpfer durchgeführt.
Die Generäle fürchten offenbar, die Diskussion über den Völkermord
an den Armeniern, das Pochen der EU auf mehr Rechte für die Kurden und
die Lage im Irak würden dazu führen, dass die ungelöste Frage der
unterdrückten Nationalitäten wieder aufbricht, die nationalistische
Staatsideologie des Kemalismus in Frage gestellt und der türkische
Staat destabilisiert wird.
Dem soll durch eine Stärkung des Nationalismus im Innern und eine
engere Anbindung an die USA und Israel begegnet werden. Während
eines Besuchs von Erdogan in Israel am vergangenen Wochenende
haben Ankara und Tel Aviv eine engere Zusammenarbeit und den
Austausch von Geheimdienst-Informationen vereinbart. Zu diesem
Zweck werde eine direkte Telefonverbindung zwischen den Büros
der beiden Regierungschefs eingerichtet, erklärten der israelische
Ministerpräsident und sein türkischer Amtskollege nach einem Treffen
in Jerusalem.
Außerdem sollen die beiden Länder anlässlich des Besuchs
Rüstungsverträge im Umfang von 400 bis 500 Millionen Dollar
geschlossen haben. Damit sollen türkische Kampfflugzeuge modernisiert
werden. Im April war bereits ein Vertrag über die Lieferung von
Spionagedrohnen und anderer Aufklärungstechnologie abgeschlossen
worden.
Mit den USA schloss die Türkei vor einer Woche einen Vertrag
im Volumen von 1,1 Mrd. Dollar über die Modernisierung von 117
Kampfflugzeugen vom Typ F-16. Außerdem verlängerte die türkische
Regierung das Abkommen über die Nutzung des Luftwaffenstützpunkts
Incirlik durch die USA. Beides hatte sie absichtlich auf einen Termin
gelegt, der wenige Tage nach dem 24. April liegt. Sie wollte nämlich
abwarten, ob Bush am 90. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern
in seiner Gedenkrede das Wort "Völkermord" aussprechen würde. Er
tat es nicht.
Auch sonst gibt es Anzeichen, dass die USA der Türkei nun
ebenfalls entgegenkommen. Die englischsprachige türkische Zeitung
The New Anatolian berichtete in ihrer Ausgabe von Montag unter
Berufung auf "hochrangige kurdische Quellen in der Regierung
in Bagdad", die USA, insbesondere das Pentagon, übten Druck
auf die neue irakische Regierung aus, gegen die PKK im Nordirak
vorzugehen. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld habe dies bei
seinem letzten Besuch im Irak verlangt.
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http://www.wsws.org/de/2005/mai2005/trk-m03.shtml
Von Justus Leicht
3. Mai 2005
In der Türkei hat sich in den letzten sechs Wochen eine Woge des
Chauvinismus ausgebreitet, der sich vordergründig gegen die Kurden,
in Wirklichkeit aber gegen die gemäßigt islamistische Regierung der
AKP von Premierminister Recep Tayip Erdogan und deren Orientierung
auf die EU richtet. Sie ist auch keineswegs eine spontane Reaktion
breiter Schichten der Bevölkerung, sondern ein Manöver von Teilen des
Staatsapparats, insbesondere des Militärs und der Sicherheitskräfte,
unterstützt von organisierten faschistischen Banden.
Auslöser war ein an sich völlig unbedeutender Zwischenfall
während des kurdischen Neujahrsfestes Newroz im März. In der Stadt
Mersin versuchten ein paar kurdische Halbwüchsige am Rande einer
Demonstration, eine türkische Fahne zu verbrennen. Weder hatten sie
dabei Unterstützung von anderen Demonstranten, noch hatten sie Erfolg,
bevor sie von der Polizei verhaftet wurden.
Der Vorfall blieb von der Öffentlichkeit unbemerkt, bis der
Generalstab der Armee zwei Tage später in einer scharfen Erklärung
den jugendlichen Vandalismus als "Verrat" von "sogenannten Bürgern"
brandmarkte. Die Armee sei bereit, "den letzten Tropfen Blut zu
vergießen, um das Land und seine Fahne zu schützen", hieß
es weiter. Daraufhin verurteilte auch Staatspräsident Sezer
den Vorfall. Sogar das Rektorat der Istanbuler Universität
erklärte in Zeitungsinseraten seine "Abscheu". Alle bekannten
kurdisch-nationalistischen Politiker distanzierten sich von der Aktion,
es half nichts.
Das Land wurde in ein regelrechtes Meer türkischer Fahnen getaucht,
die nun an allen Geschäften, öffentlichen Plätzen und Gebäuden
hängen mussten. Gruppen faschistischer Grauer Wölfe zogen
pöbelnd durch die Straßen, die Medien entfachten eine regelrechte
Pogromstimmung gegen die Kurden.
Etwa zur selben Zeit sah sich auch der weltbekannte türkische
Schriftsteller Orhan Pamuk einer Kampagne von Medien und Politikern
ausgesetzt, weil er in einem Interview über sein neues Buch "Schnee"
bemerkt hatte, dass "in der Türkei eine Million Armenier [Anfang
des 20. Jahrhunderts] und in den 90er Jahren 30.000 Kurden umgebracht
worden sind". Mehrere Regionalpolitiker riefen dazu auf, seine Bücher
zu verbrennen. Pamuk erhielt wegen seiner Bemerkung eine Strafanzeige,
Zeitungen beschimpften ihn als "Verräter", wegen zahlreicher
Morddrohungen traute er sich nicht mehr in die Öffentlichkeit.
Im April fanden dann in verschiedenen Städten, vor allem im
überwiegend von Alewiten bewohnten Istanbuler Stadtteil Gazi und der
nordanatolischen Stadt Trabzon, tätliche Angriffe rechtsradikaler
Gruppen auf Linke statt, wobei mindestens einer, der Alewit Esat
Atmaca, von den Ultranationalisten getötet und viele weitere verletzt
wurden. In mehreren Städten kam es zu Übergriffen von Mobs gegen
Unterstützer der TAYAD, einer Organisation von Angehörigen linker
politischer Gefangener, die meist in Isolationshaft sitzen. In allen
Fällen wurden die TAYAD-Unterstützer, die nichts anderes taten,
als legale Flugblätter zu verteilen, zusammengeschlagen und von
der Polizei nur knapp vor einem Lynchmord bewahrt. Allerdings nahm
die Polizei im Anschluss stets die Opfer der Gewalt in Gewahrsam,
weil sie "die Öffentlichkeit provoziert" hätten.
Vor zehn Tagen schließlich legten das Militär und seine Verbündeten
noch einmal nach. In einer Rede vor einer Militärakademie
beschäftigte sich Generalstabschef Hilmi Özkök kaum mit der
Situation der Armee und der Sicherheitspolitik, sondern ging der Reihe
nach alle aktuellen Themen der Innen- und Außenpolitik durch, wobei
er sich praktisch in jedem Punkt in scharfen Gegensatz zur gewählten
Regierung stellte.
Die Türkei sei weder ein gemäßigt islamischer Staat noch ein
islamisches Land, betonte er und warnte, das "türkische Volk" werde
jeden Versuch verhindern, das Land in eine derartige Richtung zu
führen. Ähnliche Töne hatte es auch 1997 beim Sturz der Regierung
Erbakan gegeben. Weiter schloss er jedes Zugeständnis an Griechenland
in der Ägäis und in der Zypern-Frage aus. Zypern sei immer noch von
hoher strategischer Bedeutung, weshalb auch türkische Truppen dort
bleiben müssten. Schließlich unterhalte deshalb auch Großbritannien
immer noch eine Militärbasis auf Zypern.
Auch gegenüber Armenien verlangte der Armeechef eine harte
Haltung. Armenien müsse sich erst einmal an internationales Recht und
die Prinzipien guter Nachbarschaft halten. Die Türkei wirft Armenien
vor, es halte Nagorny-Karabach, eine überwiegend von Armeniern
bewohnte Enklave in Aserbaidschan, sowie einen Korridor von dort nach
Armenien völkerrechtswidrig besetzt. Ankara macht die "Rückgabe"
aller ehemals aserbaidschanischen Gebiete an die Nachbarrepublik
traditionell zur Vorbedingung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen
mit Armenien. Des Weiteren solle Armenien darauf verzichten, die
Anerkennung des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich
1915 zu fordern. General Özkök leugnete in seiner Rede noch einmal
ganz ausdrücklich, dass ein Völkermord stattgefunden habe.
Erdogan, der den Völkermord selbst ebenfalls leugnet, hat dazu
vorgeschlagen, vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen eine
gemeinsame Historikerkommission einzusetzen, um die "geschichtliche
Wahrheit herauszufinden". Dieser von einigen westlichen Regierungen
als Geste der Versöhnung gefeierte Vorschlag ist in Wirklichkeit ein
Affront gegen Armenien. Die armenische Regierung hält es, wie auch
fast alle seriösen Historiker, für erwiesen, dass die Ereignisse
von 1915 einen Völkermord darstellen. Sie will zuerst die Aufnahme
diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen diskutieren. In
jüngster Zeit hat Erdogan angedeutet, politische Beziehungen
könnten möglicherweise auch unabhängig von und neben der Arbeit
einer Historikerkommission hergestellt werden, eine Haltung, die von
der von General Özkök vorgegebenen harten Linie abzuweichen scheint.
Dieser widmete sich auch ausführlich der Kurdenfrage. Die Aktivitäten
der PKK hätten in letzter Zeit drastisch zugenommen, erklärte der
Armeechef, und beklagte, die EU betätige sich als Mittler für die
PKK. Eine EU-Mitgliedschaft sei "kein Segen" und es sei "nicht das
Ende der Welt", wenn die Türkei kein EU-Mitglied werde.
Von den USA verlangte Özkök ein schärferes Vorgehen gegen die PKK,
die sich größtenteils im Nordirak aufhält. Außerdem warnte der
General, dass die nordirakische Stadt Kirkuk "kurz vor der Explosion"
stünde. Kirkuk, wo bis zu 25 Prozent des irakischen Öls liegen,
wird von den kurdischen Nationalisten als Hauptstadt einer autonomen
Kurdenregion oder eines künftigen kurdischen Staates beansprucht. Sie
haben unter den Augen der amerikanischen Besatzer systematisch Kurden
aus dem übrigen Irak in Kirkuk angesiedelt, wo auch viele Turkmenen
und Araber leben. Angeblich handelt es sich bei den Neuankömmlingen
ausschließlich um Kurden, die unter dem Baath-Regime aus der Stadt
vertrieben wurden. Inwieweit das tatsächlich der Fall ist, lässt
sich schwer nachprüfen.
Hintergrund ist, dass sowohl die Entwicklung im Nahen und Mittleren
Osten als auch in Europa die Politik der türkischen Regierung in
eine Krise geworfen hat.
Seit das türkische Parlament der US-Armee am 1. März 2003 die Nutzung
türkischer Basen für den Aufmarsch gegen den Irak verweigerte, hat
sich Erdogan nach Kräften bemüht, das Verhältnis zu den USA wieder
zu verbessern. Das aggressive Vorgehen der Regierung Bush und auch der
Regierung Scharon haben allerdings gerade in seiner eigenen Partei-
und Wählerbasis viel Unmut ausgelöst, der durch die Drohungen der
USA gegenüber Iran und Syrien noch verstärkt worden ist.
Und während Erdogan seine politische Zukunft mit der EU-Mitgliedschaft
verbunden hat, ist die EU-Begeisterung deutlich abgeflaut,
seit der EU-Gipfel vom 17. Dezember der Türkei den Beginn von
Beitrittsverhandlungen am Ende dieses Jahres in Aussicht gestellt
hat. Insbesondere die französische Entscheidung, über einen
türkischen Beitritt per Referendum zu entscheiden, hat in der Türkei
den Eindruck erweckt, die EU fordere zwar viel, meine es aber am
Schluss doch nicht ernst mit einer Mitgliedschaft. Die französische
Nationalversammlung hatte Ende Februar eine als "Türken-Artikel"
bekannte gewordene Verfassungsänderung verabschiedet, gemäß
der in Zukunft jede neue Erweiterung der Europäischen Union den
französischen Wahlberechtigten in einem Referendum zur Zustimmung
unterbreitet werden muss.
In Deutschland haben sich CDU und CSU, die möglicherweise schon
ein einem Jahr die Regierung übernehmen, vehement gegen eine
EU-Mitgliedschaft der Türkei ausgesprochen. Auch die Verschiebung
des Beitritts von Kroatien und die Diskussion über die Ukraine,
deren Beitrittswunsch gegenwärtig zurückgewiesen wird, ist
in der Türkei aufmerksam registriert worden. Die Enttäuschung
darüber, die mit der Unzufriedenheit über die Folgen des liberalen
Wirtschaftsprogramms der AKP-Regierung einhergeht, versuchen nun extrem
rechte Kräfte zu nutzen, um die Regierung zu destabilisieren. Mehr
als ein Dutzend Abgeordnete haben innerhalb der letzten drei Monate
die Parlamentsfraktion der Regierung verlassen. Meist sind sie zu
anderen rechten Parteien gewechselt.
Ein Alarmsignal für die Militärs sind die Entwicklungen im
Irak. Die Türkei gehört zu den Ländern, die das Ergebnis der
irakischen Wahlen vom 30. Januar kritisiert haben. Diese haben zu
einer deutlichen Stärkung der kurdischen Nationalisten und der
schiitischen religiösen Parteien geführt. Beides liegt nicht in
Ankaras Interesse. Wenn Kirkuk tatsächlich unter kurdische Kontrolle
geriete, könnte dies zur Basis für einen kurdischen Staat werden,
der womöglich auch separatistischen Tendenzen in den Nachbarstaaten
Auftrieb verleihen würde.
Für Aufregung haben in Ankara auch zwei Artikel amerikanischer Autoren
im Frühjahr gesorgt. Der eine von Robert Pollock wurde im Februar
im Wall Street Journal unter dem Titel "The sick man of Europe -
again" ("Erneut der kranke Mann Europas") veröffentlicht. Er griff
die Türkei in sehr scharfer Form wegen eines dort herrschenden
"Anti-Amerikanismus" an. Den anderen hat Michael Rubin, ehemaligem
Berater der Bush-Regierung, für verschiedene rechte Think tanks
geschrieben. Er warnt, wenn die Türkei sich nicht kooperativer
zeige, würden die USA möglicherweise in irakisch Kurdistan eine
Militärbasis errichten.
Die PKK, die in den letzten fünf Jahren alles getan hat, um sich
von ihrer militanten Vergangenheit abzugrenzen und sich gegenüber
der Türkei als staatstragende Kraft darzustellen, hat Anzeichen
einer neuen Radikalisierung erkennen lassen. So hat sie erst vor
wenigen Wochen wieder ihren alten Namen angenommen. Ihr Führer, der
inhaftierte Abdullah Öcalan, hat ein Konzept des "Demokratischen
Konföderalismus" entwickelt, das die Kurden der ganzen Region
einschließen soll - in der Türkei, Irak, Iran und Syrien. Die PKK
behauptet, die türkische Armee habe in den letzten Wochen groß
angelegte Operationen gegen ihre Guerillakämpfer durchgeführt.
Die Generäle fürchten offenbar, die Diskussion über den Völkermord
an den Armeniern, das Pochen der EU auf mehr Rechte für die Kurden und
die Lage im Irak würden dazu führen, dass die ungelöste Frage der
unterdrückten Nationalitäten wieder aufbricht, die nationalistische
Staatsideologie des Kemalismus in Frage gestellt und der türkische
Staat destabilisiert wird.
Dem soll durch eine Stärkung des Nationalismus im Innern und eine
engere Anbindung an die USA und Israel begegnet werden. Während
eines Besuchs von Erdogan in Israel am vergangenen Wochenende
haben Ankara und Tel Aviv eine engere Zusammenarbeit und den
Austausch von Geheimdienst-Informationen vereinbart. Zu diesem
Zweck werde eine direkte Telefonverbindung zwischen den Büros
der beiden Regierungschefs eingerichtet, erklärten der israelische
Ministerpräsident und sein türkischer Amtskollege nach einem Treffen
in Jerusalem.
Außerdem sollen die beiden Länder anlässlich des Besuchs
Rüstungsverträge im Umfang von 400 bis 500 Millionen Dollar
geschlossen haben. Damit sollen türkische Kampfflugzeuge modernisiert
werden. Im April war bereits ein Vertrag über die Lieferung von
Spionagedrohnen und anderer Aufklärungstechnologie abgeschlossen
worden.
Mit den USA schloss die Türkei vor einer Woche einen Vertrag
im Volumen von 1,1 Mrd. Dollar über die Modernisierung von 117
Kampfflugzeugen vom Typ F-16. Außerdem verlängerte die türkische
Regierung das Abkommen über die Nutzung des Luftwaffenstützpunkts
Incirlik durch die USA. Beides hatte sie absichtlich auf einen Termin
gelegt, der wenige Tage nach dem 24. April liegt. Sie wollte nämlich
abwarten, ob Bush am 90. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern
in seiner Gedenkrede das Wort "Völkermord" aussprechen würde. Er
tat es nicht.
Auch sonst gibt es Anzeichen, dass die USA der Türkei nun
ebenfalls entgegenkommen. Die englischsprachige türkische Zeitung
The New Anatolian berichtete in ihrer Ausgabe von Montag unter
Berufung auf "hochrangige kurdische Quellen in der Regierung
in Bagdad", die USA, insbesondere das Pentagon, übten Druck
auf die neue irakische Regierung aus, gegen die PKK im Nordirak
vorzugehen. US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld habe dies bei
seinem letzten Besuch im Irak verlangt.
--Boundary_(ID_xSf2/8BrAS5pFZEWOuwzmg)--