Hamburger Abendblatt
3. Mai 2005
Schröders heikle Türkei-Reise;
EU-BEITRITT Skepsis unter den Türken wächst. Den Kanzler erwarten
heute in Ankara schwierige Gespräche.
Berlin
dpa/fis
Die anfängliche Euphorie hat sich gelegt. Wenn Gerhard Schröderheute
nach einem Abstecher in Bosnien seine Türkei-Visite beginnt,
isterheblicher Gesprächsbedarf angesagt. Als der Kanzler im Februar
2004am Bosporus weilte, war die Stimmung auf beiden Seiten ganz
anders. Fürseine klaren Worte, daß die Türkei in die Europäische
Union (EU)gehöre, bekam er damals überall begeisterte Zustimmung.
RegierungschefRecep Tayyip Erdogan, zu dem Schröder nach anfänglicher
Distanz auchein enges persönliches Verhältnis entwickelt hat, lobte
ihn als bestenFreund seines Landes in Europa.
Innenpolitisch nützt Schröder diese Türkei-Treue kaum. Lautjüngsten
Umfragen sind inzwischen drei Viertel der Bundesbürger gegeneine
volle EU-Mitgliedschaft. Aber auch in der Türkei selbst geht
dieZustimmung zurück. Befürchtungen, zu viele Zugeständnisse in
sensiblenPunkten machen zu müssen, schlagen dabei ebenso zu Buche wie
das Gefühlin der Bevölkerung, vom Tempo der anstehenden Veränderungen
überfordertzu werden.
Verstärkt flammen momentan in der Türkei nationalistische Gefühleauf.
So wurde der berühmte Autor Orhan Pamuk (52) massiv bedroht, weiler
zu sagen wagte, daß in der Türkei 30 000 Kurden und bis zu 1,5Million
Armenier ermordet wurden - eine Wahrheit, die in der Türkeinicht wahr
sein darf. Die Zeitung "Hürriyet" nannte den Schriftstellereine
"miserable Kreatur". Pamuk hat mittlerweile die Türkei RichtungUSA
verlassen.
Generalstabschef Hilmi Özkök sagte, eine EU-Mitgliedschaft derTürkei
sei "kein Segen", und warnte vor Zugeständnissen in derZypern-Frage.
Sonst könnte das Militär seine Unterstützung für denEU-Beitritt
überdenken.
Berlin sieht diese Entwicklung mit Besorgnis. Schröder will derTürkei
unmißverständlich zu verstehen geben, daß noch viel Arbeit vorihr
liegt, um die Eintrittskarte nach Europa zu bekommen. Dazu gehörtaus
deutscher Sicht der umfassende Schutz der Menschen-
undMinderheitenrechte. Dafür sei in der Türkei ein
"Mentalitätswandel"notwendig, forderte Schröder. Am Fahrplan für die
Aufnahme deroffiziellen Beitrittsverhandlungen mit der EU am 3.
Oktober soll sichaber nichts ändern. Experten gehen davon aus, daß es
noch mindestenszehn bis 15 Jahre dauert, bis die Türkei EU-Mitglied
werden kann.
Bewußt hat Schröder sich beim Patriarchen von Konstantinopel
inIstanbul angesagt. Bartholomäus I. ist das "Ehrenoberhaupt"
dergesamten orthodoxen Christenheit, was von der offiziellen
türkischenPolitik aber ignoriert wird. Der türkische Generalstab hat
gerade eineStatus-Aufwertung für den Kirchenführer, die
Wiedereröffnung einer seitüber 30 Jahren geschlossenen
Priesterakademie sowie mehr Rechte für dienoch etwa 150 000 im Lande
lebenden Christen noch einmal ausdrücklichabgelehnt.
Mit Erstaunen wurde in Berlin auch zur Kenntnis genommen, daß
vontürkischer Seite ganz kurzfristig die Unterzeichnung eines
Abkommensüber eine gemeinsame Rechtspartnerschaft abgesagt wurde.
TürkischeJuristen sollen mit deutscher Hilfe moderne rechtsstaatliche
Methodenkennenlernen.
Eine Rolle wird bei Schröders Gesprächen auch der Umgang Ankarasmit
der Tötung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern unter
osmanischerHerrschaft spielen. Der Bundestag hatte anläßlich des 90.
Jahrestagsdes Beginns der Massaker am 24. April 1915
fraktionsübergreifend dieTürkei aufgefordert, sich zu der
historischen Verantwortung dafür zubekennen. In der Entschließung
wurde auf den Begriff des Völkermordsverzichtet, um Schröders Besuch
nicht zu belasten. Falls sich anAnkaras Verhalten nichts ändert, soll
der Text aber entsprechendverschärft zur Abstimmung gestellt werden.
Aus Sicht der "Hardliner" inAnkara ist die Armenien-Frage nur ein
Argument, um einen EU-Beitritt zutorpedieren.
Verstärkt flammen in der Türkei nationalistische Gefühle auf.
--Boundary_(ID_B2Cd2w3K5Ce78IimJUxwlA)--
3. Mai 2005
Schröders heikle Türkei-Reise;
EU-BEITRITT Skepsis unter den Türken wächst. Den Kanzler erwarten
heute in Ankara schwierige Gespräche.
Berlin
dpa/fis
Die anfängliche Euphorie hat sich gelegt. Wenn Gerhard Schröderheute
nach einem Abstecher in Bosnien seine Türkei-Visite beginnt,
isterheblicher Gesprächsbedarf angesagt. Als der Kanzler im Februar
2004am Bosporus weilte, war die Stimmung auf beiden Seiten ganz
anders. Fürseine klaren Worte, daß die Türkei in die Europäische
Union (EU)gehöre, bekam er damals überall begeisterte Zustimmung.
RegierungschefRecep Tayyip Erdogan, zu dem Schröder nach anfänglicher
Distanz auchein enges persönliches Verhältnis entwickelt hat, lobte
ihn als bestenFreund seines Landes in Europa.
Innenpolitisch nützt Schröder diese Türkei-Treue kaum. Lautjüngsten
Umfragen sind inzwischen drei Viertel der Bundesbürger gegeneine
volle EU-Mitgliedschaft. Aber auch in der Türkei selbst geht
dieZustimmung zurück. Befürchtungen, zu viele Zugeständnisse in
sensiblenPunkten machen zu müssen, schlagen dabei ebenso zu Buche wie
das Gefühlin der Bevölkerung, vom Tempo der anstehenden Veränderungen
überfordertzu werden.
Verstärkt flammen momentan in der Türkei nationalistische Gefühleauf.
So wurde der berühmte Autor Orhan Pamuk (52) massiv bedroht, weiler
zu sagen wagte, daß in der Türkei 30 000 Kurden und bis zu 1,5Million
Armenier ermordet wurden - eine Wahrheit, die in der Türkeinicht wahr
sein darf. Die Zeitung "Hürriyet" nannte den Schriftstellereine
"miserable Kreatur". Pamuk hat mittlerweile die Türkei RichtungUSA
verlassen.
Generalstabschef Hilmi Özkök sagte, eine EU-Mitgliedschaft derTürkei
sei "kein Segen", und warnte vor Zugeständnissen in derZypern-Frage.
Sonst könnte das Militär seine Unterstützung für denEU-Beitritt
überdenken.
Berlin sieht diese Entwicklung mit Besorgnis. Schröder will derTürkei
unmißverständlich zu verstehen geben, daß noch viel Arbeit vorihr
liegt, um die Eintrittskarte nach Europa zu bekommen. Dazu gehörtaus
deutscher Sicht der umfassende Schutz der Menschen-
undMinderheitenrechte. Dafür sei in der Türkei ein
"Mentalitätswandel"notwendig, forderte Schröder. Am Fahrplan für die
Aufnahme deroffiziellen Beitrittsverhandlungen mit der EU am 3.
Oktober soll sichaber nichts ändern. Experten gehen davon aus, daß es
noch mindestenszehn bis 15 Jahre dauert, bis die Türkei EU-Mitglied
werden kann.
Bewußt hat Schröder sich beim Patriarchen von Konstantinopel
inIstanbul angesagt. Bartholomäus I. ist das "Ehrenoberhaupt"
dergesamten orthodoxen Christenheit, was von der offiziellen
türkischenPolitik aber ignoriert wird. Der türkische Generalstab hat
gerade eineStatus-Aufwertung für den Kirchenführer, die
Wiedereröffnung einer seitüber 30 Jahren geschlossenen
Priesterakademie sowie mehr Rechte für dienoch etwa 150 000 im Lande
lebenden Christen noch einmal ausdrücklichabgelehnt.
Mit Erstaunen wurde in Berlin auch zur Kenntnis genommen, daß
vontürkischer Seite ganz kurzfristig die Unterzeichnung eines
Abkommensüber eine gemeinsame Rechtspartnerschaft abgesagt wurde.
TürkischeJuristen sollen mit deutscher Hilfe moderne rechtsstaatliche
Methodenkennenlernen.
Eine Rolle wird bei Schröders Gesprächen auch der Umgang Ankarasmit
der Tötung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern unter
osmanischerHerrschaft spielen. Der Bundestag hatte anläßlich des 90.
Jahrestagsdes Beginns der Massaker am 24. April 1915
fraktionsübergreifend dieTürkei aufgefordert, sich zu der
historischen Verantwortung dafür zubekennen. In der Entschließung
wurde auf den Begriff des Völkermordsverzichtet, um Schröders Besuch
nicht zu belasten. Falls sich anAnkaras Verhalten nichts ändert, soll
der Text aber entsprechendverschärft zur Abstimmung gestellt werden.
Aus Sicht der "Hardliner" inAnkara ist die Armenien-Frage nur ein
Argument, um einen EU-Beitritt zutorpedieren.
Verstärkt flammen in der Türkei nationalistische Gefühle auf.
--Boundary_(ID_B2Cd2w3K5Ce78IimJUxwlA)--