Operation Nemesis
von Rolf Hosfeld
Stuttgarter Zeitung, Deutschland
Mittwoch, 18.05.2005
Im Windschatten des Ersten Weltkriegs vollzog sich der erste Volkermord
des 20. Jahrhunderts. Mit List, unvorstellbarer Grausamkeit und
Konsequenz wurden 1915/16 im Osmanischen Reich Hunderttausende
von christlichen Armeniern ausgeloscht. Verantwortlich war das
schattenhafte Komitee fur Einheit und Fortschritt um Innenminister
Talaat Pascha und Kriegsminister Enver Pascha. Und das verbundete
Deutsche Reich schwieg dazu.
In seinem sorgfältig dokumentierten, glänzend geschriebenen Buch
"Operation Nemesis" schildert der Filmemacher und Journalist Rolf
Hosfeld die Einzelheiten des Genozids. Schon unter dem "roten Sultan"
Abdul Hamid II. hatte es 1895/96 Armenier-Verfolgungen gegeben. Aber
nach der jungturkischen Revolution 1908 steigerten sich Talaat und
Enver in den Wahn, ihr Land musse von allen nicht-muslimischen,
nicht-turkischen Elementen "gesäubert" werden. Und als wichtigster
"innerer Feind" wurden die 1,5 Millionen Armenier ausgemacht, die
schon Jahrhunderte vor der Ankunft der Seldschuken in Ostanatolien
gesiedelt und es im Osmanischen Reich als Bankiers, Anwälte, Ärzte,
Apotheker, Lehrer, Kaufleute, Unternehmer und Gewerbetreibende zu
beneidetem Wohlstand gebracht hatten.
Seit dem 24. April 1915 wurden sie zusammengetrieben und auf
Todesmärschen in die syrische Wuste gepeitscht, wenn sie nicht vorher
erschossen, erschlagen, gehängt oder ertränkt wurden. Widerstand gegen
die Deportationen gab es nur vereinzelt. Franz Werfel hat 1933 anhand
eines authentischen Falles in seinem Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh"
den Armeniern ein Denkmal gesetzt.
Kurden beteiligten sich mit Raububerfällen, Vergewaltigungen und
Mordorgien. Ihr Schicksal schlug 60 Jahre später. An Sammelpunkten
suchten sich turkische Offiziere und Zivilisten wie auf Sklavenmärkten
armenische Mädchen und junge Frauen als Konkubinen und Mägde aus.
Deutsche Konsuln und Offiziere in turkischen Diensten, andere
Diplomaten und amerikanische Missionare wurden Zeugen der Gräuel
und berichteten nach Hause. Die deutsche Botschaft in Konstantinopel
beschwor die Reichsleitung in Berlin, bei dem Verbundeten vorstellig zu
werden. Doch Reichskanzler Bethmann-Hollweg winkte ab: Bis Kriegsende
wurde die Turkei gebraucht, da konne man auf die Armenier keine
Rucksicht nehmen.
Der Potsdamer Theologe Johannes Lepsius, Grunder eines armenischen
Hilfswerks, setzte Himmel und Holle in Bewegung - vergebens. Bei
Kriegsende fanden die schlimmsten Kriegsverbrecher mit deutscher
Militärhilfe Zuflucht in Berlin. Armenische Rächer ubten in einer
"Operation Nemesis" Selbstjustiz. So erschoss ein armenischer Student
am 15. März 1921 mitten in Berlin Talaat Pascha.
Je nach Zählweise fielen dem Genozid 800 000 bis 1,4 Millionen
Armenier zum Opfer. 90 Jahre später leugnet die moderne Turkei den
Massenmord noch immer. Es sei Notwehr gewesen; die Armenier hätten mit
dem christlichen Zarenreich gemeinsame Sache machen wollen, hätten
Aufstände geplant. Als die franzosische Nationalversammlung 2001 in
einem einstimmig angenommenen Gesetz den Volkermord an den Armeniern
offentlich anerkannte, beorderte Ankara seinen Botschafter nach Hause.
"Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?" fragte Hitler
wenige Tage vor dem Uberfall auf Polen rhetorisch vor Wehrmachts- und
SS-Generälen, denen er die Ausrottung der Polen befiehlt. Hosfelds
Buch hebt ein weithin vergessenes Kapitel der Geschichte wieder
ins Bewusstsein.
Heinz Delvendahl, dpa
--Boundary_(ID_W7BfEOkLhzoVDJ6UM5/IwQ)--
von Rolf Hosfeld
Stuttgarter Zeitung, Deutschland
Mittwoch, 18.05.2005
Im Windschatten des Ersten Weltkriegs vollzog sich der erste Volkermord
des 20. Jahrhunderts. Mit List, unvorstellbarer Grausamkeit und
Konsequenz wurden 1915/16 im Osmanischen Reich Hunderttausende
von christlichen Armeniern ausgeloscht. Verantwortlich war das
schattenhafte Komitee fur Einheit und Fortschritt um Innenminister
Talaat Pascha und Kriegsminister Enver Pascha. Und das verbundete
Deutsche Reich schwieg dazu.
In seinem sorgfältig dokumentierten, glänzend geschriebenen Buch
"Operation Nemesis" schildert der Filmemacher und Journalist Rolf
Hosfeld die Einzelheiten des Genozids. Schon unter dem "roten Sultan"
Abdul Hamid II. hatte es 1895/96 Armenier-Verfolgungen gegeben. Aber
nach der jungturkischen Revolution 1908 steigerten sich Talaat und
Enver in den Wahn, ihr Land musse von allen nicht-muslimischen,
nicht-turkischen Elementen "gesäubert" werden. Und als wichtigster
"innerer Feind" wurden die 1,5 Millionen Armenier ausgemacht, die
schon Jahrhunderte vor der Ankunft der Seldschuken in Ostanatolien
gesiedelt und es im Osmanischen Reich als Bankiers, Anwälte, Ärzte,
Apotheker, Lehrer, Kaufleute, Unternehmer und Gewerbetreibende zu
beneidetem Wohlstand gebracht hatten.
Seit dem 24. April 1915 wurden sie zusammengetrieben und auf
Todesmärschen in die syrische Wuste gepeitscht, wenn sie nicht vorher
erschossen, erschlagen, gehängt oder ertränkt wurden. Widerstand gegen
die Deportationen gab es nur vereinzelt. Franz Werfel hat 1933 anhand
eines authentischen Falles in seinem Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh"
den Armeniern ein Denkmal gesetzt.
Kurden beteiligten sich mit Raububerfällen, Vergewaltigungen und
Mordorgien. Ihr Schicksal schlug 60 Jahre später. An Sammelpunkten
suchten sich turkische Offiziere und Zivilisten wie auf Sklavenmärkten
armenische Mädchen und junge Frauen als Konkubinen und Mägde aus.
Deutsche Konsuln und Offiziere in turkischen Diensten, andere
Diplomaten und amerikanische Missionare wurden Zeugen der Gräuel
und berichteten nach Hause. Die deutsche Botschaft in Konstantinopel
beschwor die Reichsleitung in Berlin, bei dem Verbundeten vorstellig zu
werden. Doch Reichskanzler Bethmann-Hollweg winkte ab: Bis Kriegsende
wurde die Turkei gebraucht, da konne man auf die Armenier keine
Rucksicht nehmen.
Der Potsdamer Theologe Johannes Lepsius, Grunder eines armenischen
Hilfswerks, setzte Himmel und Holle in Bewegung - vergebens. Bei
Kriegsende fanden die schlimmsten Kriegsverbrecher mit deutscher
Militärhilfe Zuflucht in Berlin. Armenische Rächer ubten in einer
"Operation Nemesis" Selbstjustiz. So erschoss ein armenischer Student
am 15. März 1921 mitten in Berlin Talaat Pascha.
Je nach Zählweise fielen dem Genozid 800 000 bis 1,4 Millionen
Armenier zum Opfer. 90 Jahre später leugnet die moderne Turkei den
Massenmord noch immer. Es sei Notwehr gewesen; die Armenier hätten mit
dem christlichen Zarenreich gemeinsame Sache machen wollen, hätten
Aufstände geplant. Als die franzosische Nationalversammlung 2001 in
einem einstimmig angenommenen Gesetz den Volkermord an den Armeniern
offentlich anerkannte, beorderte Ankara seinen Botschafter nach Hause.
"Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?" fragte Hitler
wenige Tage vor dem Uberfall auf Polen rhetorisch vor Wehrmachts- und
SS-Generälen, denen er die Ausrottung der Polen befiehlt. Hosfelds
Buch hebt ein weithin vergessenes Kapitel der Geschichte wieder
ins Bewusstsein.
Heinz Delvendahl, dpa
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