Frankfurter Allgemeine Zeitung
24. Mai 2005
Schallplatten und Phono;
Die Stimmung bleibt düster; Klaviermusik aus Armenien, vorgestellt in
Erstaufnahmen
Schallplatten und Phono
Der Völkermord an den Armeniern, der vor neunzig Jahren seinen Anfang
nahm, wird bis heute von der Türkei geleugnet. In der an
Grausamkeiten nicht armen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist
er ein heikles Thema geblieben. Doch lenken die Diskussionen um
Vernichtung und Schuld, die jetzt zum Jahrestag des Genozids neu
aufgeflammt sind, auch die Aufmerksamkeit auf Armenien, die das Land
sonst womöglich nicht erhalten hätte. Seltsam ist es allemal, wie das
Wissen um historisches Geschehen auch den Hörzugriff prägt. Als
Grundton, einem Tinnitus ähnlich, meint man in dieser Erstaufnahme
armenischer Klavierkleinstücke aus acht Jahrzehnten des zwanzigstens
Jahrhunderts hoffnungslose Düsternis zu vernehmen, Wut und
Verzweiflung.
Die Miniaturensammlung, aufgenommen von Sona Shaboyan, die aus Eriwan
stammt und dort ausgebildet wurde, eröffnet fulminant mit drei
Komitas-Tänzen - Bearbeitungen von Volkstänzen durch den Komponisten
Soghomon Soghomonyan, der sich Komitas nannte. Sie entstanden 1916,
ein Jahr nach den Massakern, und begründeten die kammermusikalische
Delikatesse armenischer Klaviermusik: Kleinstformen für Hörer mit
Ohren für Details. Bisweilen begegnet man dem einen oder anderen
dieser Tänze heute als Zugabe eines Konzertpianisten mit Blick auch
auf die Randbezirke des Repertoires.
"Erangi" beginnt mit hüpfenden Figuren, die einander durch beide
Hände verfolgen, doch es ist eher schwerfälliges Stolpern als
graziöses Tänzeln. Perkussive Imitationen bestimmen auch die beiden
anderen Komitas-Stücke, ihre Melodien kreiseln um wenige Töne, die
wie in Trance wiederholt und in winzigen Schritten variiert werden.
Die Stimmung bleibt düster.
Auf Aram Katchachurians gewaltige Toccata folgen Klavierbearbeitungen
armenischer Lieder aus den vierziger und fünfziger Jahren sowie
weitere Komitas-Paraphrasen - auf die Gattung und den Komponisten,
der sich nach ihr benannte, scheinen sich sämtliche Generationen
armenischer Musiker zu beziehen. Nach einer Stunde
schwermütig-virtuoser Vermessung der Tastatur des Klaviers und seines
Resonanzraums folgt eine letzte Verneigung vor Komitas und dem
Schicksal des armenischen Volkes in den 1984 entstandenen Miniaturen
von Ruben Sargsyan. Sie enden mit der Imitation eines grell
scheppernden Glockenspiels.
ANDREAS OBST
Klaviermusik aus Armenien. Werke von Komitas, Aram Katchachurian,
Robert Andreasian, Georgy Saradian, Alexander Arutiunian, Arno
Babachanian, Eduard Mirsoian und Ruben Sargsyan. Sona Shaboyan. Oehms
Classics OC 374.
24. Mai 2005
Schallplatten und Phono;
Die Stimmung bleibt düster; Klaviermusik aus Armenien, vorgestellt in
Erstaufnahmen
Schallplatten und Phono
Der Völkermord an den Armeniern, der vor neunzig Jahren seinen Anfang
nahm, wird bis heute von der Türkei geleugnet. In der an
Grausamkeiten nicht armen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist
er ein heikles Thema geblieben. Doch lenken die Diskussionen um
Vernichtung und Schuld, die jetzt zum Jahrestag des Genozids neu
aufgeflammt sind, auch die Aufmerksamkeit auf Armenien, die das Land
sonst womöglich nicht erhalten hätte. Seltsam ist es allemal, wie das
Wissen um historisches Geschehen auch den Hörzugriff prägt. Als
Grundton, einem Tinnitus ähnlich, meint man in dieser Erstaufnahme
armenischer Klavierkleinstücke aus acht Jahrzehnten des zwanzigstens
Jahrhunderts hoffnungslose Düsternis zu vernehmen, Wut und
Verzweiflung.
Die Miniaturensammlung, aufgenommen von Sona Shaboyan, die aus Eriwan
stammt und dort ausgebildet wurde, eröffnet fulminant mit drei
Komitas-Tänzen - Bearbeitungen von Volkstänzen durch den Komponisten
Soghomon Soghomonyan, der sich Komitas nannte. Sie entstanden 1916,
ein Jahr nach den Massakern, und begründeten die kammermusikalische
Delikatesse armenischer Klaviermusik: Kleinstformen für Hörer mit
Ohren für Details. Bisweilen begegnet man dem einen oder anderen
dieser Tänze heute als Zugabe eines Konzertpianisten mit Blick auch
auf die Randbezirke des Repertoires.
"Erangi" beginnt mit hüpfenden Figuren, die einander durch beide
Hände verfolgen, doch es ist eher schwerfälliges Stolpern als
graziöses Tänzeln. Perkussive Imitationen bestimmen auch die beiden
anderen Komitas-Stücke, ihre Melodien kreiseln um wenige Töne, die
wie in Trance wiederholt und in winzigen Schritten variiert werden.
Die Stimmung bleibt düster.
Auf Aram Katchachurians gewaltige Toccata folgen Klavierbearbeitungen
armenischer Lieder aus den vierziger und fünfziger Jahren sowie
weitere Komitas-Paraphrasen - auf die Gattung und den Komponisten,
der sich nach ihr benannte, scheinen sich sämtliche Generationen
armenischer Musiker zu beziehen. Nach einer Stunde
schwermütig-virtuoser Vermessung der Tastatur des Klaviers und seines
Resonanzraums folgt eine letzte Verneigung vor Komitas und dem
Schicksal des armenischen Volkes in den 1984 entstandenen Miniaturen
von Ruben Sargsyan. Sie enden mit der Imitation eines grell
scheppernden Glockenspiels.
ANDREAS OBST
Klaviermusik aus Armenien. Werke von Komitas, Aram Katchachurian,
Robert Andreasian, Georgy Saradian, Alexander Arutiunian, Arno
Babachanian, Eduard Mirsoian und Ruben Sargsyan. Sona Shaboyan. Oehms
Classics OC 374.