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Kramerseelen Und Genozid

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    KRAMERSEELEN UND GENOZID
    von Auswartige Autoren
    Hans Vogtlin (Baden)

    Neue Zurcher Zeitung
    10. Oktober 2005

    Nach dem Beispiel der Griechen und der Slawen auf dem Balkan,
    denen im 19. Jahrhundert die Befreiung vom turkischen Joch gelungen
    war, versuchten auch die christlichen Armenier sich mit ihren auf
    verschiedene Staaten verteilten Stammesverwandten in einem eigenen
    Nationalstaat zu vereinen. Es gab kleinere Zusammenstosse zwischen
    Aufstandischen und Militar. Sie spitzten sich am 8. Oktober 1895
    zu im Gemetzel von Trapezunt am Schwarzen Meer. Bis 1904 zogen sich
    die brutalen Vergeltungsaktionen hin, wahrend beide Ethnien sich an
    Grausamkeiten uberboten. Man schatzt die armenischen Opfer auf etwa
    50"000. Auch Kurden beteiligten sich an den blutigen Angriffen auf
    die Armenier. Ab 1908 regierten im sudostlich am Mittelmeer gelegenen
    Adana die Jungturken. Unter dem Vorwand, die Armenier unterstutzten
    diese monarchiefeindliche Konkurrenz, brachten die osmanischen Truppen
    25"000 von ihnen um.

    Als im Ersten Weltkrieg der Sultan auf der Seite der Mittelmachte
    gegen die Entente kampfte und mit den nach Suden strebenden Russen
    im Kaukasus in Konflikt geriet, nahmen die Armenier im Bestreben
    nach Unabhangigkeit Partei fur den Zaren und stellten diesem
    Freiwilligenbataillone. Diesen vor allem machte die osmanische
    Staatsfuhrung das Scheitern der turkischen Offensive gegen Russland
    zum Vorwurf. Das jungturkische "Komitee Einheit und Fortschritt"
    beschloss die Vernichtung aller Armenier. Die bisher loyalen
    armenischen Soldaten der staatlichen Streitkrafte wurden als Erste
    entwaffnet und hingerichtet. Am 24. und 25. April 1915 wurden alle
    armenischen Fuhrer aus Politik, Wirtschaft und Kultur in Istanbul
    verhaftet, deportiert und ermordet - mindestens 200 Personen. Bis Juli
    desselben Jahres konzentrierte man die Armenier in ihren Gebieten an
    sieben Orten. Von osmanischen Soldaten und Polizisten oder kurdischen
    Hilfsgruppen wurden sie teils an Ort und Stelle liquidiert, teils
    auf Befehl von Innenminister Talaat auf die Todesmarsche durch die
    Wuste nach Aleppo (heute Nordwestsyrien) geschickt. Nicht umgesiedelt,
    sondern ausdrucklich ausgerottet sollten sie werden: ein klassischer
    Genozid. Etwa 500"000 von ihnen gelang die Flucht in die Emigration. Je
    nach Sympathie oder Antipathie geschatzt, kamen 600"000 bis 1"500"000
    Armenier durch die Strapazen und Niedermetzelungen um. Dies zu
    bestreiten, bedeutet Leugnung eines Genozids.

    Dass sich der schweizerische Standerat mit dem Thema "Armenier-Genozid"
    aus wirtschaftspolitischen Rucksichten nicht befassen will, um ja nicht
    das eidgenossische Verhaltnis zur Turkei zu belasten und die Herren
    in Ankara nicht zu bruskieren, zeugt erneut von der Kleinkariertheit
    schweizerischer Kramerseelen. "Sich ducken" lautet die Parole.
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