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Armenisch-Turkischer Publizist Hrant Dink Bekommt WegenVolkskritisch

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    ARMENISCH-TURKISCHER PUBLIZIST HRANT DINK BEKOMMT WEGEN VOLKSKRITISCHEN ARTIKELS BEWAHRUNGSSTRAFE
    von Boris Kalnoky

    DIE WELT, Deutschland
    10. Oktober 2005

    Verurteilung wegen Beleidigung der Turkei

    Istanbul - Wegen Beleidigung der Turkei ist ein armenisch-turkischer
    Journalist zu einer sechsmonatigen Bewahrungsstrafe verurteilt
    worden. Hrant Dink hatte im Februar 2004 in seiner Wochenzeitung "Agos"
    etwas verquer geschrieben, die Armenier sollten sich "dem neuen Blut
    des unabhangigen Armeniens zuwenden". Nur so konnten sie sich von der
    "Last der Diaspora befreien". In dem Beitrag ging es um das kollektive
    Gedachtnis der Massaker an den Armeniern von 1915-17 (in der Turkei
    darf man diesbezuglich nicht von Genozid sprechen oder schreiben),
    und in einer anderen, etwas merkwurdigen Formulierung schrieb Dink,
    die Armenier sollten den "verdorbenen Teil ihres turkischen Blutes"
    symbolisch zuruckweisen. Nach Angaben von Dinks Kollegen wurden die
    Zitate aus dem Zusammenhang gerissen und falsch interpretiert. In
    der Turkei steht die Beleidigung der nationalen Identitat unter Strafe.

    Wenige Tage nach der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zwischen der
    EU und der Turkei hat der Schuldspruch auch deshalb eine besondere
    Bedeutung, weil Dink auf der Grundlage von Gesetzen verurteilt wurde,
    die nach Ansicht der EU abgeschafft werden mussen.

    Die Intellektuellen und Publizisten der Turkei taten indes gut daran,
    die Regierung einmal um eine erschopfende und rechtlich bindende
    Definition dessen zu bitten, was sie unter "turkischer Identitat"
    versteht. Das ware einerseits sicher kurzweilige Lekture, und
    andererseits auch Schutz vor dem langen Arm des Gesetzes. Denn obwohl
    niemand so ganz genau weiß, was diese turkische Identitat denn sein
    soll, macht man sich strafbar, wenn man sie "beleidigt". (Vielleicht
    brauchte man auch eine Definition dessen, was unter "Beleidigung"
    zu verstehen ist). Daß das Gericht mit seinem Urteil zugleich die
    neuerdings so gern beschworene "europaische Identitat" der Turkei
    beleidigte, zu deren zentralen Werten immer noch die Meinungsfreiheit
    gehort, fiel vermutlich keinem der urteilsfreudigen Polit-Juristen auf.

    Aus europaischer Sicht, und auch aus der Sicht turkischer
    Reformpolitiker, ist jedenfalls die Sorge berechtigt, daß konservative
    Kreise innerhalb des Justizapparates mit spektakular widersinnigen
    Verfahren gegen prominente Intellektuelle versuchen, die europaischen
    Traume der Turkei zu sabotieren.

    Im Dezember steht ein Prozeß gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk an,
    der sich gegen ganz ahnliche Vorwurfe verteidigen muß. Pamuk bekommt
    dieses Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er hat zwar
    nicht das verbotene Wort "Genozid" gebraucht, aber doch offentlich
    gesagt, in der Turkei seien 30 000 Kurden und eine Million Armenier
    umgebracht worden. Letztere Zahl ist nach Meinung vieler Historiker
    etwas hoch gegriffen. Aber auch wenn es "nur" beispielsweise 800
    000 Tote waren, wird dadurch das Ausmaß der Tragodie nicht geringer,
    und das muß frei von Angst vor staatlicher Gewalt gesagt werden durfen.

    Die juristische Hetzkampagne gegen "unturkische" Intellektuelle ist um
    so bedauerlicher, als der Trend eigentlich in Richtung Liberalisierung
    geht. Kurzlich wurde nach langem Widerstand der Justizbehorden -
    die in den genannten Fallen stets eine Rolle zu spielen pflegen -
    eine Konferenz unabhangiger Historiker zur Armenierfrage in Istanbul
    abgehalten.

    Seither liest man in Kolumnen und Kommentaren turkischer Blatter
    bemerkenswerte Meinungen und Analysen. Enver Pasha und die Jungturken,
    die damals das ottomanische Reich regierten, werden da beispielsweise
    als vom Volk abgehobene Abenteurertypen geschildert, Fremde eigentlich,
    Turken vom Balkan, deren verantwortungslose Politik nicht nur die
    Armenier, sondern auch die Turken und letztlich das ganze Land ins
    Verderben sturzte.

    Das konnte eine Vorstufe fur die Entwicklung einer neuen Standard-These
    in der Turkei sein: Wir waren es nicht, Enver Pascha ist es gewesen.

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