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Perfect Timing: Pamuk is a ball (in German)

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  • Perfect Timing: Pamuk is a ball (in German)

    Frankfurter Rundschau, Deutschland
    02. September 2005

    Perfektes Timing ;
    Orhan Pamuk ist ein Spielball


    VON GÜNTER SEUFERT

    Nun haben sie aus Orhan Pamuk doch noch das machen können, was er
    nie hatte sein wollen: einen Schriftsteller, dessen Name politische
    und dann erst literarische Assoziationen weckt. Orhan Pamuk, das
    ist der seit Jahren meistgelesene Schriftsteller der Türkei und der
    einzige im Land, dessen Romane in über dreißig Sprachen übersetzt
    sind. Sie, das sind jene, die ausnahmslos alle politischen Fragen
    in das Schwarz-Weiß-Muster von "Freund oder Feind" pressen, die
    Bevölkerung in "Patrioten und Vaterlandsverräter" aufteilen und zur
    Desavouierung jeglicher Opposition ein nationales Bedrohungsszenario
    nach dem anderen auf die politische Bühne zu hieven trachten.

    Am Dienstag hat der Staatsanwalt des Istanbuler Bezirks Schischli
    Orhan Pamuk wegen "öffentlicher Schmähung des Türkentums" angeklagt
    und dafür Haft zwischen sechs Monaten und drei Jahren gefordert
    (FR, 1. September). Der Schriftsteller hatte dem Schweizer
    Tagesanzeiger gegenüber erklärt, "auf diesem Boden wurden eine
    Million Armenier und dreißigtausend Kurden getötet", und hatte
    damit an nationale Empfindlichkeiten gerührt. Am 23. Oktober
    wird Pamuk zur Preisverleihung des Friedenspreises des deutschen
    Buchhandels in Frankfurt erwartet, und am 3. Oktober sollen die
    Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU beginnen: Ein politischer
    Sprengsatz und ein Zeitplan, wie geschaffen für ein Störfeuer derer,
    die seit Jahren versuchen, die Annäherung des Landes an die EU zu
    behindern und die damit verbundene Demokratisierung zu stoppen.

    An der Armenierfrage interessiert jene Schwarz-Weiß-Maler
    ausschließlich, dass es auf keinen Fall ein Völkermord gewesen sei:
    Schon die Diskussion darüber öffne den Weg für horrende Entschädigungen
    und führe letztlich zur Teilung des Landes. Nun hat Pamuk das Wort
    das Wort "Genozid" nicht in den Mund genommen und auch nicht gesagt,
    "die Türken" hätten "die Armenier" und "die Kurden" getötet. Aus
    diesem Grund hat die für die Presse zuständige Staatsanwaltschaft
    Istanbul, die ebenfalls Ermittlungen aufgenommen hatte, auf eine
    Klage verzichtet und Pamuks Worte als kritische Äußerung im Rahmen
    der Meinungsfreiheit bewertet; ein liberaler Ausweg, den die letzte
    Reform des Strafgesetzbuchs ermöglicht.

    Diese Sach- und Rechtslage lässt Beobachter vermuten, der nun
    angestrengte Prozess diene weniger der Verurteilung des Schriftstellers
    als vielmehr der Provokation eines handfesten Skandals. Der Regierung
    in Ankara sollen diplomatische Schwierigkeiten bereitet und den
    europäischen Gegnern einer türkischen EU-Mitgliedschaft Munition
    geliefert werden. Proteste von europäischer Seite lassen sich
    gleichzeitig als Einmischung in die inneren Angelegenheiten und als
    Unterstützung armenischer Positionen verkaufen.

    Die Aufführung erinnert fatal an das Possenstück, das vor zweieinhalb
    Jahren am Staatssicherheitsgericht Ankara gegeben wurde, in dem die
    deutschen politischen Stiftungen die Hauptbeschuldigten waren. Eine
    wild zusammen gezimmerte Anklageschrift faselte von einer konzertierten
    Aktion von Umweltschützern, religiösen Reaktionären und deutschen
    Stiftungen gegen den Staat - und auch damals stand die Türkei mit
    dem Gipfel von Kopenhagen an einem poltischen Scheideweg. Wie in
    den letzen Wochen Orhan Pamuk, hatten die deutschen Stiftungen
    vernünftigerweise versucht, den Ball niedrig zu halten, um einen
    Skandal zu vermeiden, doch umsonst.

    Derlei Aktionen verweisen auf tiefe politische Risse im türkischen
    Staat, in Bürokratie, Militär und Justiz. In der Justiz stehen
    liberale Strömungen den alten, stramm kemalistisch ausgerichteten
    Kadern gegenüber, und im Militär muss der pro-EU eingestellte
    Generalstabschef Hilmi Özkök auf die Anti-EU-Stimmung der mittleren
    Ränge Rücksicht nehmen. Politische Spaltung herrscht auch in den
    verschiedenen Geheimdiensten, fünf an der Zahl, die sich bisher einer
    zentralen Koordination entziehen.

    Es ist also zu befürchten, dass Orhan Pamuk, der in seinen Romanen die
    türkische Gesellschaft so meisterhaft vielschichtig auftreten lässt,
    in diesem unappetitlichen Kampf nur als Spielball dient.

    Der Autor lebt als Publizist und freier Schriftsteller in Istanbul.

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    From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress
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