WAHRHEIT DURCH GERICHTSBESCHLUß?; DIE SCHWEIZ IN DER KLEMME: AN DEN TURKEN ZEIGT SICH DAS DILEMMA DER ANTIRASSISTISCHEN STAATSRASON
Jurg Altwegg
Frankfurter Allgemeine Zeitung
8. September 2005
GENF, 7. September
Seit Jahren sind die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Turkei
schlecht. In der Schweiz laufen Untersuchungen der Staatsanwaltschaft
gegen den Prasidenten der Turkischen Historischen Gesellschaft, Yusuf
Halacoglu, wie gegen den Vorsitzenden der turkischen Arbeiterpartei,
Dogu Perincek: Beiden wird vorgeworfen, den Genozid an den Armeniern
zu leugnen. Verargert uber die Schweiz ist die Turkei auch Orhan
Pamuks wegen, der sich kaum zwei Monate nach der Verleihung des
Friedenspreises vor einem Gericht verantworten muß. Ihm droht eine
Gefangnisstrafe, weil er in einem Interview im Magazin des Zurcher
"Tages-Anzeigers" erklart hatte, in der Turkei seien 30 000 Kurden
und eine Million Armenier ermordet worden.
Pikant wird die Lage dadurch, daß in beiden Landern versucht wird,
offizielle Versionen der historischen "Wahrheit" mit der Gewalt
von Gerichtsbeschlussen durchzusetzen. Mit welchem Recht, darf
man sich in der Turkei fragen, erregt man sich in der Schweiz
uber das Verfahren gegen Pamuk, wenn man selbst spiegelverkehrte
Äußerungen zum Anlaß fur analoge Verfahren nimmt? Die Schweiz tut
sich schwer mit ihrem Antirassismusgesetz und ganz besonders mit
einem Artikel, der das Leugnen von "Volkermord und anderen Verbrechen
gegen die Menschlichkeit" unter Strafe stellt. Konnen oder mussen
die Strafverfahren die demokratischen Debatten und historische
Untersuchungen ersetzen?
Das Gesetz entstand zu Beginn der neunziger Jahre im Zug neuer
antisemitischer Äußerungen. Der jetzige Innenminister Christoph
Blocher wurde damals des Antisemitismus, sein journalistischer
Gegenspieler Frank A. Meyer noch kurzlich des Rassismus gegen den
Islam bezichtigt. Seit Jahren muß sich der Publizist Frank Lubke vor
wechselnden Gerichten fur einen offenen Brief verantworten, in dem er
Attentate "als Beispiel fur die islamistisch-arabisch-palastinensischen
Wahnsinnsschlachtereien gegen die judisch-israelische Zivilbevolkerung"
bezeichnete. Ob das Gesetz wirklich zum Schutz der Minderheiten
beitragt, erscheint ungewiß. Die vielen Affaren vergiften jedenfalls
das Klima.
Die Spannungen mit der Turkei dauern seit Jahren an. Staatsbesuche
wurden verschoben - und nachgeholt. Im Juni kam eine Delegation der
Außenpolitischen Kommission des turkischen Parlaments in die Schweiz.
Man konne von der Bevolkerung nicht erwarten, daß sie die Großvater
zu Kriminellen erklare, teilte man den Schweizern mit.
Ministerprasident Erdogan habe eine Historikerkommission eingesetzt,
welche ganz nach dem Beispiel von Jean-Francois Bergiers "Unabhangiger
Expertenkommission Schweiz Zweiter Weltkrieg" die Volkermord-Vorwurfe
abklaren werde. Die Große Kammer des Schweizer Parlaments hat - wie
Frankreich, wie der Europarat - die Massaker, deren Opfer die Armenier
waren, per Abstimmung vor zwei Jahren zum Genozid erklart. Es gibt
auch entsprechende Gerichtsurteile: In juristischer Hinsicht scheinen
die Falle Halacoglu und Perincek klar, die Äußerungen beider erfullen
offenkundig den Strafbestand.
Schweizer Politiker verweisen auf die Gewaltentrennung.
Nun wird auch das fragwurdige Gesetz wieder diskutiert. Die
"Auschwitz-Lugner", schreibt der Historiker Georg Kreis in der
Zeitschrift "Tachles", bestreiten nicht nur die Tatsache der sechs
Millionen Toten: "Sie werfen den Opfern und ihren Nachkommen auch vor,
mit der Fabrikation dieser ,Legende' politischen und pekuniaren Gewinn
erzielen zu wollen." Das sei Antisemitismus. Kreis erkennt an, "daß man
antirassistische Normen nicht als Schutz einzig fur Juden ernst nehmen
darf", ein solches "Privileg" wurde auch von den Juden abgelehnt:
"Es gibt aber in den europaischen Gesellschaften aus Rucksicht auf die
historische Schuld die Neigung, gegenuber antijudischer Diffamierung
besonders sensibel zu sein. Die muslimische Minderheit etwa, der
gegenuber Europa nicht in dieser Weise schuldig geworden ist, kommt
nicht in gleichem Maß in den Genuß einer solchen Sensibilitat."
Das Gesetz, mit dem sich die Schweiz ein gutes Gewissen verschaffen
wollte, hat Ungeister geweckt, die sie nicht mehr los wird. "Die
Leugnung des Genozids an den Armeniern ist wohl nicht ein taugliches
Objekt, um die Gleichbehandlung einzufordern und durchzuexerzieren",
befindet der Historiker Kreis. Mit dieser Formulierung ist er nun
selbst unter Beschuß geraten. Denn zumindest vor dem Gesetz mußten
auch alle Genozide gleich sein.
--Boundary_(ID_XIl7b5ykPJHeB03ee4qE/w)--
Jurg Altwegg
Frankfurter Allgemeine Zeitung
8. September 2005
GENF, 7. September
Seit Jahren sind die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Turkei
schlecht. In der Schweiz laufen Untersuchungen der Staatsanwaltschaft
gegen den Prasidenten der Turkischen Historischen Gesellschaft, Yusuf
Halacoglu, wie gegen den Vorsitzenden der turkischen Arbeiterpartei,
Dogu Perincek: Beiden wird vorgeworfen, den Genozid an den Armeniern
zu leugnen. Verargert uber die Schweiz ist die Turkei auch Orhan
Pamuks wegen, der sich kaum zwei Monate nach der Verleihung des
Friedenspreises vor einem Gericht verantworten muß. Ihm droht eine
Gefangnisstrafe, weil er in einem Interview im Magazin des Zurcher
"Tages-Anzeigers" erklart hatte, in der Turkei seien 30 000 Kurden
und eine Million Armenier ermordet worden.
Pikant wird die Lage dadurch, daß in beiden Landern versucht wird,
offizielle Versionen der historischen "Wahrheit" mit der Gewalt
von Gerichtsbeschlussen durchzusetzen. Mit welchem Recht, darf
man sich in der Turkei fragen, erregt man sich in der Schweiz
uber das Verfahren gegen Pamuk, wenn man selbst spiegelverkehrte
Äußerungen zum Anlaß fur analoge Verfahren nimmt? Die Schweiz tut
sich schwer mit ihrem Antirassismusgesetz und ganz besonders mit
einem Artikel, der das Leugnen von "Volkermord und anderen Verbrechen
gegen die Menschlichkeit" unter Strafe stellt. Konnen oder mussen
die Strafverfahren die demokratischen Debatten und historische
Untersuchungen ersetzen?
Das Gesetz entstand zu Beginn der neunziger Jahre im Zug neuer
antisemitischer Äußerungen. Der jetzige Innenminister Christoph
Blocher wurde damals des Antisemitismus, sein journalistischer
Gegenspieler Frank A. Meyer noch kurzlich des Rassismus gegen den
Islam bezichtigt. Seit Jahren muß sich der Publizist Frank Lubke vor
wechselnden Gerichten fur einen offenen Brief verantworten, in dem er
Attentate "als Beispiel fur die islamistisch-arabisch-palastinensischen
Wahnsinnsschlachtereien gegen die judisch-israelische Zivilbevolkerung"
bezeichnete. Ob das Gesetz wirklich zum Schutz der Minderheiten
beitragt, erscheint ungewiß. Die vielen Affaren vergiften jedenfalls
das Klima.
Die Spannungen mit der Turkei dauern seit Jahren an. Staatsbesuche
wurden verschoben - und nachgeholt. Im Juni kam eine Delegation der
Außenpolitischen Kommission des turkischen Parlaments in die Schweiz.
Man konne von der Bevolkerung nicht erwarten, daß sie die Großvater
zu Kriminellen erklare, teilte man den Schweizern mit.
Ministerprasident Erdogan habe eine Historikerkommission eingesetzt,
welche ganz nach dem Beispiel von Jean-Francois Bergiers "Unabhangiger
Expertenkommission Schweiz Zweiter Weltkrieg" die Volkermord-Vorwurfe
abklaren werde. Die Große Kammer des Schweizer Parlaments hat - wie
Frankreich, wie der Europarat - die Massaker, deren Opfer die Armenier
waren, per Abstimmung vor zwei Jahren zum Genozid erklart. Es gibt
auch entsprechende Gerichtsurteile: In juristischer Hinsicht scheinen
die Falle Halacoglu und Perincek klar, die Äußerungen beider erfullen
offenkundig den Strafbestand.
Schweizer Politiker verweisen auf die Gewaltentrennung.
Nun wird auch das fragwurdige Gesetz wieder diskutiert. Die
"Auschwitz-Lugner", schreibt der Historiker Georg Kreis in der
Zeitschrift "Tachles", bestreiten nicht nur die Tatsache der sechs
Millionen Toten: "Sie werfen den Opfern und ihren Nachkommen auch vor,
mit der Fabrikation dieser ,Legende' politischen und pekuniaren Gewinn
erzielen zu wollen." Das sei Antisemitismus. Kreis erkennt an, "daß man
antirassistische Normen nicht als Schutz einzig fur Juden ernst nehmen
darf", ein solches "Privileg" wurde auch von den Juden abgelehnt:
"Es gibt aber in den europaischen Gesellschaften aus Rucksicht auf die
historische Schuld die Neigung, gegenuber antijudischer Diffamierung
besonders sensibel zu sein. Die muslimische Minderheit etwa, der
gegenuber Europa nicht in dieser Weise schuldig geworden ist, kommt
nicht in gleichem Maß in den Genuß einer solchen Sensibilitat."
Das Gesetz, mit dem sich die Schweiz ein gutes Gewissen verschaffen
wollte, hat Ungeister geweckt, die sie nicht mehr los wird. "Die
Leugnung des Genozids an den Armeniern ist wohl nicht ein taugliches
Objekt, um die Gleichbehandlung einzufordern und durchzuexerzieren",
befindet der Historiker Kreis. Mit dieser Formulierung ist er nun
selbst unter Beschuß geraten. Denn zumindest vor dem Gesetz mußten
auch alle Genozide gleich sein.
--Boundary_(ID_XIl7b5ykPJHeB03ee4qE/w)--