WISSEN UND WISSEN WOLLEN; DIE ARMENIENDEBATTE HAT IN DER TURKEI LANGST BEGONNEN
Von Sibylle Thelen Noch wird um Begriffe gerungen
Stuttgarter Zeitung
19. Oktober 2006
Asya und Armanus, so heißen zwei junge Frauen, die sich Elif Shafak
fur ihren Roman "Der Bastard von Istanbul" ausgedacht hat, um die
turkisch-armenische Auseinandersetzung uber das schwere historische
Erbe von 1915 durchzuspielen. Die eine, Asya, ist Turkin, geboren in
Istanbul, aufgewachsen ohne Vater und mit dem Gefuhl, nicht zu wissen,
woher sie kommt. Die andere, Armanus, ist Amerikanerin, aber hin und
her gerissen zwischen den grundverschiedenen Welten ihrer Eltern,
dem american way of life ihrer Mutter und dem Diasporaleben ihres
armenischen Vaters. Armanus beschließt, in Istanbul nach den Spuren
ihrer Vorfahren zu suchen - und begegnet Asya. Die beiden nahern sich
an. Es ist kein einfacher, sondern ein turbulenter Prozess. Leid und
Vorurteil mussen uberwunden, Tabu und Sprachlosigkeit gebrochen werden,
auf beiden Seiten.
65 000-mal hat sich Shafaks Roman in der Turkei verkauft, seitdem
er vor einem halben Jahr erschienen ist. Ein Bestseller. Ein Buch,
das Herzen offnet. Die junge, erfolgreiche Autorin erzahlt vom
furchtbaren Schicksal, das Armanus' Vorfahren widerfuhr, von Tod und
Vertreibung. Und sie erzahlt von den seelischen Schaden, die viele
Menschen damals davontrugen, um sie an Kinder und Kindeskinder
weiterzugeben. Bis heute tragen sie schwer an dem Erbe, jeder
auf seine Weise: die einen in der armenischen Diaspora, die ihre
Identitat vorrangig aus der Erinnerung an den Volkermord bezieht; die
anderen in der turkischen Mehrheitsgesellschaft, die schweigend mit
schwarzen Leerstellen weiterlebt. Diesen Lochern ruckt Shafak zu Leibe,
behutsam, beharrlich. So reift in ihren Protagonisten die Erkenntnis,
dass leugnen nichts bringt. Ein schmerzhafter Gewinn.
Das wunderbare Buch wird im nachsten Jahr auch auf Deutsch
erscheinen. Aufsehen hat es auch bei uns schon erregt: Der
ultranationalistische Anwaltsverein zerrte Shafak in Istanbul
vor Gericht. Einer der Charaktere in ihrem Roman beleidige das
Turkentum, ereiferte er sich. Das absurde Verfahren wurde am ersten
Verhandlungstag Ende September eingestellt. Der Roman indes verkauft
sich weiter mit Erfolg. Der notorisch klagenden Minderheit ist es
nicht gelungen, die Autorin mundtot zu machen. Wie gehabt schreibt
sie als Kolumnistin in der laizistischen Presse und in der liberalen
muslimischen Zeitung "Zaman" uber wichtige Themen dieser Zeit.
Wer will, kann in der Turkei heute viel erfahren uber Massenvertreibung
und -sterben im Osmanischen Reich. Die Auseinandersetzung hat begonnen:
in der Literatur, aber auch in der Wissenschaft, wo abseits vom
staatlichen Forschungsbetrieb kritische Fragen gestellt werden,
etwa am Istanbuler Institut Tesev. Vor einem Jahr fand in Istanbul
ein Kongress zum Tabuthema 1915 statt. Noch wird um die richtigen
Begriffe gerungen. Doch die Graueltaten rucken allmahlich ins
kollektive Bewusstsein.
Gerade weil sich so viel erfahren lasst, fallt umso unangenehmer auf,
wer alles gar nichts erfahren will. Um das festzustellen, kann man nach
Ankara schauen: Dort halt man eisern an einer Geschichtsschreibung
fest, die ohne Begriffe wie Schuld oder Bedauern auskommt. Man muss
aber auch nach Paris blicken; dort hat das Parlament ein Gesetz
gebilligt, nach dem all jene mit einem Jahr Gefangnis und 45 000 Euro
Bußgeld bestraft werden, die den Volkermord an den Armeniern von 1915
leugnen - so als habe in der Turkei nicht langst eine Debatte begonnen,
die sich an diesen Begriff heranpirscht.
In beiden Fallen wird Politik mit Geschichte gemacht: in der einen
Hauptstadt im Namen der Aufklarung, in der anderen Hauptstadt im
Namen der Nation. Aber der historischen Wahrheitsfindung dient keine
Version dieser staatlichen Vorgaben. Sie fordern auch keinen Dialog
und schon gar keine Annaherung. Im Gegenteil, sie sabotieren jede
Differenzierung, sie starken das Bedurfnis der Abgrenzung. Paris zahlt
es Ankara in gleicher Munze heim. Aber was ist gewonnen? Außer, dass
man sich fremd bleibt? Und außer, dass man weiterhin einen Grund hat,
sich fremd bleiben zu wollen?
Zwischen diese Fronten ist auch der turkische Schriftsteller
Orhan Pamuk geraten, der zufalligerweise am Tag der Pariser
Parlamentsentscheidung den Nobelpreis fur Literatur erhielt. Manche
sahen darin ein Zeichen. Denn Pamuks Satz "Man hat hier 30 000 Kurden
umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich,
das zu erwahnen" ist um die Welt gegangen. Aber wofur hat dieser Satz
seither alles herhalten mussen? In der Turkei hat die offizielle Seite
dem Schriftsteller bis heute nicht diese Äußerung verziehen. Im Westen
gilt Pamuk seither als der große Wortfuhrer in Sachen 1915, so als
wurden sich nicht auch andere in der Turkei mit diesem schwierigen
Kapitel der Geschichte beschaftigen. Jede Seite verfahrt mit dem
Zitat so, wie es in ihr eigenes Weltbild passt. So lernt keiner dazu.
Das ist schade, denn an diesem Themenkomplex lasst sich so viel
lernen: wie muhsam es fur eine Gesellschaft ist, das dunkle Kapitel
ihrer Geschichte zu betrachten, und wie ungerecht es ist, von außen
immer nur mit den stereotypen Vorwurfen und Klischees auf ein Land
zu reagieren, das langst im Aufbruch ist. Wer will, kann wissen.
--Boundary_(ID_WcnYgWbh1CDw/HWstLXsfQ)--
Von Sibylle Thelen Noch wird um Begriffe gerungen
Stuttgarter Zeitung
19. Oktober 2006
Asya und Armanus, so heißen zwei junge Frauen, die sich Elif Shafak
fur ihren Roman "Der Bastard von Istanbul" ausgedacht hat, um die
turkisch-armenische Auseinandersetzung uber das schwere historische
Erbe von 1915 durchzuspielen. Die eine, Asya, ist Turkin, geboren in
Istanbul, aufgewachsen ohne Vater und mit dem Gefuhl, nicht zu wissen,
woher sie kommt. Die andere, Armanus, ist Amerikanerin, aber hin und
her gerissen zwischen den grundverschiedenen Welten ihrer Eltern,
dem american way of life ihrer Mutter und dem Diasporaleben ihres
armenischen Vaters. Armanus beschließt, in Istanbul nach den Spuren
ihrer Vorfahren zu suchen - und begegnet Asya. Die beiden nahern sich
an. Es ist kein einfacher, sondern ein turbulenter Prozess. Leid und
Vorurteil mussen uberwunden, Tabu und Sprachlosigkeit gebrochen werden,
auf beiden Seiten.
65 000-mal hat sich Shafaks Roman in der Turkei verkauft, seitdem
er vor einem halben Jahr erschienen ist. Ein Bestseller. Ein Buch,
das Herzen offnet. Die junge, erfolgreiche Autorin erzahlt vom
furchtbaren Schicksal, das Armanus' Vorfahren widerfuhr, von Tod und
Vertreibung. Und sie erzahlt von den seelischen Schaden, die viele
Menschen damals davontrugen, um sie an Kinder und Kindeskinder
weiterzugeben. Bis heute tragen sie schwer an dem Erbe, jeder
auf seine Weise: die einen in der armenischen Diaspora, die ihre
Identitat vorrangig aus der Erinnerung an den Volkermord bezieht; die
anderen in der turkischen Mehrheitsgesellschaft, die schweigend mit
schwarzen Leerstellen weiterlebt. Diesen Lochern ruckt Shafak zu Leibe,
behutsam, beharrlich. So reift in ihren Protagonisten die Erkenntnis,
dass leugnen nichts bringt. Ein schmerzhafter Gewinn.
Das wunderbare Buch wird im nachsten Jahr auch auf Deutsch
erscheinen. Aufsehen hat es auch bei uns schon erregt: Der
ultranationalistische Anwaltsverein zerrte Shafak in Istanbul
vor Gericht. Einer der Charaktere in ihrem Roman beleidige das
Turkentum, ereiferte er sich. Das absurde Verfahren wurde am ersten
Verhandlungstag Ende September eingestellt. Der Roman indes verkauft
sich weiter mit Erfolg. Der notorisch klagenden Minderheit ist es
nicht gelungen, die Autorin mundtot zu machen. Wie gehabt schreibt
sie als Kolumnistin in der laizistischen Presse und in der liberalen
muslimischen Zeitung "Zaman" uber wichtige Themen dieser Zeit.
Wer will, kann in der Turkei heute viel erfahren uber Massenvertreibung
und -sterben im Osmanischen Reich. Die Auseinandersetzung hat begonnen:
in der Literatur, aber auch in der Wissenschaft, wo abseits vom
staatlichen Forschungsbetrieb kritische Fragen gestellt werden,
etwa am Istanbuler Institut Tesev. Vor einem Jahr fand in Istanbul
ein Kongress zum Tabuthema 1915 statt. Noch wird um die richtigen
Begriffe gerungen. Doch die Graueltaten rucken allmahlich ins
kollektive Bewusstsein.
Gerade weil sich so viel erfahren lasst, fallt umso unangenehmer auf,
wer alles gar nichts erfahren will. Um das festzustellen, kann man nach
Ankara schauen: Dort halt man eisern an einer Geschichtsschreibung
fest, die ohne Begriffe wie Schuld oder Bedauern auskommt. Man muss
aber auch nach Paris blicken; dort hat das Parlament ein Gesetz
gebilligt, nach dem all jene mit einem Jahr Gefangnis und 45 000 Euro
Bußgeld bestraft werden, die den Volkermord an den Armeniern von 1915
leugnen - so als habe in der Turkei nicht langst eine Debatte begonnen,
die sich an diesen Begriff heranpirscht.
In beiden Fallen wird Politik mit Geschichte gemacht: in der einen
Hauptstadt im Namen der Aufklarung, in der anderen Hauptstadt im
Namen der Nation. Aber der historischen Wahrheitsfindung dient keine
Version dieser staatlichen Vorgaben. Sie fordern auch keinen Dialog
und schon gar keine Annaherung. Im Gegenteil, sie sabotieren jede
Differenzierung, sie starken das Bedurfnis der Abgrenzung. Paris zahlt
es Ankara in gleicher Munze heim. Aber was ist gewonnen? Außer, dass
man sich fremd bleibt? Und außer, dass man weiterhin einen Grund hat,
sich fremd bleiben zu wollen?
Zwischen diese Fronten ist auch der turkische Schriftsteller
Orhan Pamuk geraten, der zufalligerweise am Tag der Pariser
Parlamentsentscheidung den Nobelpreis fur Literatur erhielt. Manche
sahen darin ein Zeichen. Denn Pamuks Satz "Man hat hier 30 000 Kurden
umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich,
das zu erwahnen" ist um die Welt gegangen. Aber wofur hat dieser Satz
seither alles herhalten mussen? In der Turkei hat die offizielle Seite
dem Schriftsteller bis heute nicht diese Äußerung verziehen. Im Westen
gilt Pamuk seither als der große Wortfuhrer in Sachen 1915, so als
wurden sich nicht auch andere in der Turkei mit diesem schwierigen
Kapitel der Geschichte beschaftigen. Jede Seite verfahrt mit dem
Zitat so, wie es in ihr eigenes Weltbild passt. So lernt keiner dazu.
Das ist schade, denn an diesem Themenkomplex lasst sich so viel
lernen: wie muhsam es fur eine Gesellschaft ist, das dunkle Kapitel
ihrer Geschichte zu betrachten, und wie ungerecht es ist, von außen
immer nur mit den stereotypen Vorwurfen und Klischees auf ein Land
zu reagieren, das langst im Aufbruch ist. Wer will, kann wissen.
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