Der Spiegel, Deutschland
29. Dezember 2008
"Größtes Tabu"
RUBRIK: Interview Panorama; Türkei; S. 93 Heft 1/2008
Professor Baskin Oran, 63, Politikwissenschaftler in Ankara, über
seine Kampagne, sich zur Verantwortung für den Völkermord an den
Armeniern zu bekennen
SPIEGEL: Seit dem Start Ihrer Unterschriftenaktion im Internet haben
sich mehr als 25 000 Türken für die osmanischen Kriegsverbrechen im
Ersten Weltkrieg entschuldigt. Damals kamen über eine Million Armenier
ums Leben. Ist das der Beginn einer kritischen Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit?
Oran: Die Türken, die sich jetzt entschuldigen, sind nicht
verantwortlich für die Sünden von 1915. Es gibt kein kollektives
Verbrechen, aber es gibt ein kollektives Gewissen. Mit unserer Aktion
rütteln wir am größten Tabu in der Türkei. Aber eigentlich kommt die
Kampagne Jahrzehnte zu spät.
SPIEGEL: Türkische Nationalisten behaupten, dass Sie das nationale
Ansehen beschädigen. Davon ist auch Ministerpräsident Erdogan
überzeugt.
Oran: Nein, ich glaube, unser Ansehen wird in der internationalen
Öffentlichkeit sogar steigen. Außerdem geht es um die Enkel der
Armenier, die endlich eine Entschuldigung hören müssen - in einem Land
wie der Türkei, wo es keine "Kultur des Entschuldigens" gibt.
SPIEGEL: Welche Auswirkungen wird die Aktion auf das
türkisch-armenische Verhältnis haben?
Oran: Die Mehrheit der Armenier begrüßt unsere Initiative. Aber es
gibt auch Hardliner, die verurteilen, dass wir nicht ausdrücklich von
Genozid sprechen. Sie fürchten, dass wir mit der Entschuldigung
armenische Reparationsforderungen durchkreuzen könnten. Für diese
Leute sind wir nur Lakaien des türkischen Staates.
SPIEGEL: Welche Reaktionen bekommen Sie von den türkischen Bürgern?
Oran: Leider überwiegend schlechte. Ich selbst erhalte jeden Tag an
die 200 Hassbriefe. Viele sagen, ich hätte das türkische Volk
beleidigt. Aber man muss bedenken: Jedes Kind lernt hier schon in der
Schule, dass Armenier früher Muslime getötet haben. Unserer Erziehung
haben wir es zu verdanken, dass das Land unter einer kollektiven
Amnesie leidet. Im Osten der Türkei haben früher allerdings
tatsächlich viele Menschen unter armenischen Racheaktionen gelitten.
29. Dezember 2008
"Größtes Tabu"
RUBRIK: Interview Panorama; Türkei; S. 93 Heft 1/2008
Professor Baskin Oran, 63, Politikwissenschaftler in Ankara, über
seine Kampagne, sich zur Verantwortung für den Völkermord an den
Armeniern zu bekennen
SPIEGEL: Seit dem Start Ihrer Unterschriftenaktion im Internet haben
sich mehr als 25 000 Türken für die osmanischen Kriegsverbrechen im
Ersten Weltkrieg entschuldigt. Damals kamen über eine Million Armenier
ums Leben. Ist das der Beginn einer kritischen Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit?
Oran: Die Türken, die sich jetzt entschuldigen, sind nicht
verantwortlich für die Sünden von 1915. Es gibt kein kollektives
Verbrechen, aber es gibt ein kollektives Gewissen. Mit unserer Aktion
rütteln wir am größten Tabu in der Türkei. Aber eigentlich kommt die
Kampagne Jahrzehnte zu spät.
SPIEGEL: Türkische Nationalisten behaupten, dass Sie das nationale
Ansehen beschädigen. Davon ist auch Ministerpräsident Erdogan
überzeugt.
Oran: Nein, ich glaube, unser Ansehen wird in der internationalen
Öffentlichkeit sogar steigen. Außerdem geht es um die Enkel der
Armenier, die endlich eine Entschuldigung hören müssen - in einem Land
wie der Türkei, wo es keine "Kultur des Entschuldigens" gibt.
SPIEGEL: Welche Auswirkungen wird die Aktion auf das
türkisch-armenische Verhältnis haben?
Oran: Die Mehrheit der Armenier begrüßt unsere Initiative. Aber es
gibt auch Hardliner, die verurteilen, dass wir nicht ausdrücklich von
Genozid sprechen. Sie fürchten, dass wir mit der Entschuldigung
armenische Reparationsforderungen durchkreuzen könnten. Für diese
Leute sind wir nur Lakaien des türkischen Staates.
SPIEGEL: Welche Reaktionen bekommen Sie von den türkischen Bürgern?
Oran: Leider überwiegend schlechte. Ich selbst erhalte jeden Tag an
die 200 Hassbriefe. Viele sagen, ich hätte das türkische Volk
beleidigt. Aber man muss bedenken: Jedes Kind lernt hier schon in der
Schule, dass Armenier früher Muslime getötet haben. Unserer Erziehung
haben wir es zu verdanken, dass das Land unter einer kollektiven
Amnesie leidet. Im Osten der Türkei haben früher allerdings
tatsächlich viele Menschen unter armenischen Racheaktionen gelitten.