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Armenien: Wo Noahs Arche strandete [in German]

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  • Armenien: Wo Noahs Arche strandete [in German]

    Spiegel Online

    21. Januar 2010, 13:50 Uhr

    Armenien

    Wo Noahs Arche strandete

    Von Thomas Heinloth

    http://www.spiegel.de/reise/europa/0,151 8,673144,00.html

    Schroffe Berglandschaften, spektakuläre Sakralbauten und eine bewegte
    Geschichte: Armenien ist auf dem Weg, auch als Reiseziel wahrgenommen
    zu werden.

    Mit Areni-Wein und Maulbeerwodka empfangen die Kaukasier ihre
    zahlreicher werdenden Gäste - und lassen sie ungern wieder gehen.

    Gut, dass Rotwein die gleiche Farbe hat wie Coca-Cola, zumindest auf
    den ersten Blick, gut für Arenis Winzer und gut für die Rotweintrinker
    im Iran. Die Grenze zum selbsternannten Gottesstaat liegt nicht weit
    hinter den Weinbergen. Und bevor die iranischen LKW-Fahrer sie auf
    ihrem Weg nach Teheran passieren, legen sie in Areni noch eine
    Einkaufspause ein. Die Durchgangsstraße ist ein Getränkemarkt, gesäumt
    mit wackeligen Holzregalen, auf denen Softdrinkflaschen stehen,
    randvoll mit Armeniens weichem, dichtem Wein. "Die Grenzer drücken ein
    Auge zu und stecken zwei Flaschen ein", sagt Stefan Simonian.

    Seit Noahs Arche am Ararat gestrandet ist, keltern sie hier, Stefan
    Simonian seit gut 25 Jahren. Lange hat er für die Russen Wein gemacht,
    er und hundert andere, in der Wein-Kooperative von Areni. Die Russen
    aber haben eingepackt und sind nach Hause gefahren, als Armenien 1991
    unabhängig wurde. Jetzt ist die Kooperative ein Familienbetrieb und
    der ehemalige Vorarbeiter selbständiger Unternehmer. "Oder schreiben
    Sie besser Winzer", sagt Simonian, das klinge besser. Schließlich geht
    es heute vor allem um die Qualität.

    Neue Tanks hat er gekauft und die Rebstöcke radikal
    zurückgeschnitten. 26 Prozent Zuckergehalt hat jetzt die Areni-Traube,
    die so heißt wie der Ort, auf dessen kargen Hängen sie gedeiht. 26
    Prozent, "da brauchen Sie nicht nachsüßen", sagt Simonian, "so viel
    hatten wir unter den Russen nie". 150.000 Flaschen füllt er ab im Jahr
    von seinem Roten, der nach Johannisbeeren schmeckt und einer Spur
    Lakritz. Die guten Jahrgänge verkauft er nach Georgien und
    Russland. "Und wer weiß", sagt Simonian, "vielleicht reisen meine
    Flaschen ja bald bis Frankreich oder bis Italien."


    "Gottverlassen waren wir lange genug"

    Rom und Paris - von Areni aus gesehen, lag das in einem anderen
    Universum, jetzt aber rückt Armenien wieder näher an Europa. "Gott sei
    Dank", sagt Vater Michael, der Abt von Tatev, "gottverlassen waren wir
    lange genug." Über 70 lange Jahre hatten sie keinen Pfarrer -
    ausgerechnet hier in Tatev, wo die Apostolische Kirche Armeniens eines
    ihrer religiösen Zentren betrieb, wo im Mittelalter Mönche aus dem
    ganzen Kaukasus studierten und man jeden Tag dreimal die Messe sang.

    Heute stehen die prachtvollen Bibeln, die hier gefertigt wurden, im
    Historischen Museum Eriwans in Glasvitrinen, und durch die verlassenen
    Mönchszellen pfeift der Wind, hoch über dem Vorotan-Canyon, wo sich
    das Kloster an die Felsen klammert. Verlassen, seltsam unbenutzt wirkt
    die schmucklose, steingraue Kirche, die nach kaltem Weihrauch riecht,
    doch seit kurzem singen Tatevs Kinder wieder in Michaels
    Kirchenchor. "Und sehen Sie mal, da drüben", sagt der Abt, "so langsam
    kommen auch die Alten wieder."

    Drei Hirten in Trainingshosen und Jackets zerren ein schwarzes Schaf
    über den Hof. Dreimal muss es um die Kirche, so sind die Regeln beim
    Tieropfer, der Matagh. Dann kommt die letzte Fütterung mit gesegnetem
    Salz, dann ein sauberer Schnitt durch die Kehle, und schließlich wird
    das gekochte Fleisch verteilt auf sieben bedürftige Familien. "Die
    meisten denken wohl, es kann nicht schaden", sagt Vater
    Michael. Kürzlich hat er ein Schild an die schwere Eichentür genagelt:
    Die Kirche bitte nicht betrunken betreten. "Ein gutes Zeichen", sagt
    Tatevs neuer Pfarrer, "das Leben kommt zurück."

    Auf dem Parkplatz vor dem Kloster beziehen jetzt an den Wochenenden
    die Souvenirverkäufer Stellung: Holzkreuze und Heiligenbildchen für
    die Gläubigen, eingemachte Kirschen und süße Hefeteigfladen für die
    Hungrigen, getrocknete Aprikosen, aufgereiht an Bindfäden, Walnüsse
    mit geliertem Sirup. Und daneben, gegerbt und abgezogen, was die Jäger
    im Winter in den dichten Birkenwäldern schießen: Marder, Luchs und
    Wolf, das Fell zu 40.000 Dram, rund 80 Euro, und Verhandlungssache bei
    den Bären. Sogar Postkarten haben sie jetzt hier, das ist neu. "Gäste
    sind wir noch nicht so recht gewöhnt", sagt Vater Michael.


    Wer sich setzt, den lassen sie so schnell nicht gehen

    Selbst die Hirten auf den Almen singen nicht mehr allein für ihre
    Schafe. In den Syunik-Bergen überm Kloster sind die ersten
    Trekkinggruppen unterwegs, in bonbonbunten Gore-Tex-Jacken leicht
    auszumachen im ockerfarbenen Faltenwurf der kargen Hügel. Hajastan, so
    nennen die Armenier ihre Heimat, Land aus Stein, und mit den Steinen
    wechselt Armenien nach jeder langen Kurve sein Gesicht.

    Brüchig und porös ist der Sandstein rund um Tatev, rostrot der
    Schiefer in der festgebackenen Erde kurz vor der Grenze zum Iran, rosa
    der Tuff bei Eriwan.

    Bespickt mit Dornen ist der Lava-Schutt auf den Hochplateaus vor
    Berg-Karabach, und die Schluchten hinter Garni sind gesäumt von einem
    Überhang Zehntausender Basaltsäulen, aneinandergereiht wie die
    steinernen Pfeifen einer apokalyptischen Orgel.

    Ein Busparkplatz auch hier: In einem aufgebockten Blechcontainer
    verkauft ein Junge Souvenirs, handgestrickte Socken und Dosenbier für
    Männerrunden auf dem nahen Picknickplatz. Ein Dutzend Bauern aus dem
    nächsten Dorf feiern den Sonntag rund um eine Plastikplane und freut
    sich über die Besucher: "Maulbeerwodka, kommen Sie, nur 50 Dram." Und
    wer sich setzt, den lassen sie so schnell nicht gehen.

    Selten lassen sie einen ohne weiteres weiterziehen. Nicht ohne ein
    Gläschen Selbstgebrannten, nicht ohne eine Aprikose, nicht ohne ein
    Stück Lavash-Brot, am besten frisch als hauchdünner, warmer Fladen,
    wenn ihn die Frauen gerade aus den Lehmofen geholt haben.

    Und wer anhält in Sarnakunk bekommt Kaffee bei Melanja
    Ghazarian. Jeder, sagt Melanja, bekommt bei mir Kaffee. Sarnakunk
    heißt kalte Quelle, und Quellwasser läuft in Melanjas Küche ohne Pause
    eiskalt durch die Spüle und jetzt in ihren Kaffeetopf aus Aluguss. Ein
    Löffelchen für jede Tasse: "Türkisch, sagt sie, in Armenien trinken
    wir Kaffee türkisch, trotz alledem." Für Gäste aus dem Ausland holt
    sie das Feiertagsgeschirr. "Setzen Sie sich", sagt Melanja, "man muss
    sich doch kennenlernen, wenn Sie schon mal da sind."

    Und dann erzählt sie: zwei Kühe, ein paar Ziegen, die Bienenstöcke vor
    dem Haus, vier Apfelbäume und ein Schlag Kartoffeln, das ist ihr
    Besitz. "Es ist gar nicht so viel, was fehlt", sagt Melanja, nur eine
    Glasveranda hätte sie so gern und manchmal ein bisschen Bargeld. Das
    meiste tauschen sie im Dorf, Geld gibt es nur an der Straße Richtung
    Eriwan, wo ihre Söhne Wiesenchampignons verkaufen.

    Eriwan? Nie ist sie dort gewesen.


    Auberginenmus und Ziegenkäse

    Ein Witz hat die Hauptstadt Eriwan berühmt gemacht, und im Prinzip,
    ja, haben sie auch ein Radio dort. Ein rot-weißer Sendemast auf dem
    Hügel über dem Armeemuseum, turmhoch, dominant, unübersehbar. Doch
    nicht der Radiosender thront über Eriwan, sondern der Ararat,
    Armeniens heiliger, mystischer Berg, der von jedem Platz, von jeder
    Straße Eriwans zu sehen ist.

    Die Altstadt wird gerade umgekrempelt: Vom Platz vor der Oper aus
    gräbt ein Investment-Trust eine diagonale Schneise durchs
    Schachbrett-Straßenmuster. Die neue Northern Avenue ist in Beton
    gegossene Plastikarchitektur, mehr Mall als Straße, und dass sie
    keinen armenischen Namen trägt, ist wohl Programm. Die Bauarbeiten
    laufen noch, doch die Mieter haben sich schon angekündigt: Emporio
    Armani, Starbucks. Das ist Armeniens neue Mischung: links ein
    Luxus-Lexus, rechts ein Lada.

    Lada-Land sind die Gassen rund um die Zentrale Markthalle gegenüber
    Eriwans einziger Moschee, wo die Platanen blühen und wilder Wein sich
    rankt um altrosa Tuff-Fassaden, bis hinauf zu französischen
    Balkonen. Und an den Ständen in der Halle wie schon immer: Rote Beete,
    Trockenfrüchte, Nüsse, Auberginenmus und Ziegenkäse.

    Und wer ein bisschen sucht, findet auch Stefan Simonians Rotwein aus
    Areni, vielleicht sogar eine Flasche aus dem Jahr 2001: sein bester
    Jahrgang, aus dem Sommer, in dem einfach alles stimmte, die Sonne, der
    Regen und der Wind, dem Jahr, als die rostbraune Erde alles in
    Simonians dunkelblaue Trauben steckte.

    Noch steht er in der Markthalle Eriwans, zu 4000 Dram die Flasche,
    unterm Ararat. Doch vielleicht reist er demnächst nach Rom, vielleicht
    auch nach Paris.
Working...
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