TAZ, Deutschland [Germany]
21 aug 2012
Armenische Gemeinde flieht aus Syrien
[Armenian Community Flees Syria]
Flucht zu den verarmten Brüdern
Knapp 4.000 Armenier aus Syrien suchen Schutz vor dem Krieg in der
Kaukasusrepublik. Die Menschen dort sind bitterarm, aber sie helfen,
so gut sie können. von Tigran Petrosyan
BERLIN taz | Einen Job in einer Firma hat er schon, eine eigene
Unterkunft noch nicht. ?Das ist ein großes Problem, aber ich versuche
trotzdem, mir hier in Armenien ein neues Leben aufzubauen`, sagt Harut
Palulyan. Der 22-Jährige ist mit seiner Mutter und Schwester vor einem
Monat aus Syrien geflohen.
Die Familie lebte in Aleppo. Dort hat Harut Ökonomie studiert und
versucht jetzt an der Universität in der Hauptstadt Jerewan seinen
Master zu machen. ?Zurzeit wohnen wir bei meinem älteren Bruder in
Jerewan. Er ist verheiratet und hat ein Baby. Sechs Personen in einer
Zweizimmerwohnung. Das ist zu eng. Deshalb müssen wir schnell etwas
finden.`
So wie Harut sind in den vergangenen Monaten knapp 4.000 Angehörige
der armenischen Minderheit aus Syrien vor dem Bürgerkrieg nach
Armenien geflohen. In Syrien leben etwa 100.000 Armenier, davon allein
knapp 60.000 in Aleppo. Die armenische Gemeinde in Syrien war eine der
ersten in der Diaspora, die nach dem Genozid an den Armeniern im
Osmanischen Reich 1915 entstand.
Angesichts der explosiven Lage in Syrien hat die armenische Regierung
die Formalitäten für die Visavergabe vereinfacht. Zudem ist in
Armenien seit 2007 die doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt. Nach
Angaben der Pass- und Visaabteilung der Polizei Jerewan haben zwischen
Januar und Juli dieses Jahres 3.663 Armenier aus Syrien um einen
armenischen Pass nachgesucht.
Extrateure Sonderflüge
Doch nicht alle Ausreisewilligen können sich auf den Weg nach Jerewan
machen. Zwar hat die armenische Fluggesellschaft Armavia Sonderflüge
zwischen Jerewan und Aleppo sowie Damaskus eingerichtet. Doch die
Ticketpreise wurden massiv erhöht. Kostete die Strecke vor dem
Ausbruch des Bürgerkriegs 245 Euro, mussten die Flüchtlinge in den
vergangenen Wochen und Monaten 380 Euro für ein Ticket hinlegen. Nach
massiven Protesten und einer Intervention der armenischen Regierung
reduzierte Armavia den Preis wieder.
Überhaupt stellen die Neuankömmlinge aus Syrien für Armenien eine
besondere Herausforderung dar. Denn das Land ist bitterarm. Ein nicht
unerheblicher Teil des armenischen Staatshaushalts wird von der
Diaspora (circa 10 Millionen Armenier) finanziert. Offiziell lag die
Arbeitslosenrate Anfang 2012 bei 6,2 Prozent, dürfte aber in Wahrheit
viel höher sein. 2011 betrugen Löhne durchschnittlich 220 Euro und
Renten 52 Euro.
Trotzdem bemüht sich die Regierung, den Flüchtlingen zu helfen. Das
Diasporaministerium stellte 17.500 Euro für ein zweiwöchiges
Kindersommerlager im August zur Verfügung. 400 Teilnehmer sind aus
Syrien und von ihren Eltern nach Jerewan geschickt worden. ?Danach
haben diese Kinder die Möglichkeit, bei armenischen Familien zu
wohnen. 150 Familien sind bereit, Kinder aus Syrien aufzunehmen`,
sagte die Diasporaministerin Hranusch Hakobyan unlängst vor
Journalisten.
Sprachkurse in Ostarmenisch
In drei Jerewaner Schulen werden Schüler aus Syrien in speziellen
Kursen unterrichtet. Auch für Studenten plant das Ministerium
Weiterbildungsangebote. Eine große Hürde für die Armenier aus Syrien
ist die Sprache. In Armenien und anderen Staaten der Exsowjetunion
spricht man Ostarmenisch. Westarmenisch wird in der Diaspora
gesprochen. Die Sprachen unterscheiden sich in Grammatik, Wortschatz
und Orthografie. Intensivsprachkurse in Ostarmenisch sollen den
Armeniern aus Syrien die Integration erleichtern.
Einige Nichtregierungsorganisationen unterstützen das
Diasporaministerium. Zum Beispiel die Facebook-Initiative ?Förderung
für Rückkehrer`. Dort können sich Helfer registrieren lassen. ?Ein
Geschäftsmann hat mit Möbeln einer Familie geholfen, ein Mädchen
wollte 10 Euro spenden`, sagt Karen Vrtanesyan, Aktivist der
Initiative. Auch juristisch könnten sich die Flüchtlinge beraten
lassen. ?Die Menschen, die vor einer Woche gekommen sind, haben
unterschiedliche Geschichten erzählt. Einer sagte, die Lage in seinem
Bezirk in Aleppo sei normal. Andere sagten, es gebe kein Brot und kein
Wasser.` Die Ankommenden klagten über hohe Preise auf Märkten in
Jerewan: 10 Kilogramm Orangen kosteten in Syrien ein Euro, in Armenien
ein Kilogramm Orangen zwei Euro.
?Die Mehrheit der Ankommenden organisiert ihr Leben selbst. Viele
möchten nicht in Armenien bleiben, sondern in ein, zwei Monaten nach
Syrien zurückkehren`, sagt Vrtanesyan. Nach Angaben des Migrationsamts
Armeniens haben sich 30 Familien um den Flüchtlingsstatus beworben.
Sie alle hätten Unterkünfte vom Staat bekommen.
Das stößt nicht bei allen Einheimischen auf Zustimmung, denn die
Wohnungsnot ist groß. ?Ich bekomme 55 Euro Rente. Die Armenier aus
Syrien können sich nicht vorstellen, wie man mit so wenig Geld leben
kann`, sagt Asja Avetisyan. Die 68-Jährige wohnt bei ihrem Sohn.
?Aber`, sagt sie, ?Wir dürfen diese Menschen nicht allein lassen.`
http://www.taz.de/Armenische-Gemeinde-flieht-aus-Syrien/!100008/
21 aug 2012
Armenische Gemeinde flieht aus Syrien
[Armenian Community Flees Syria]
Flucht zu den verarmten Brüdern
Knapp 4.000 Armenier aus Syrien suchen Schutz vor dem Krieg in der
Kaukasusrepublik. Die Menschen dort sind bitterarm, aber sie helfen,
so gut sie können. von Tigran Petrosyan
BERLIN taz | Einen Job in einer Firma hat er schon, eine eigene
Unterkunft noch nicht. ?Das ist ein großes Problem, aber ich versuche
trotzdem, mir hier in Armenien ein neues Leben aufzubauen`, sagt Harut
Palulyan. Der 22-Jährige ist mit seiner Mutter und Schwester vor einem
Monat aus Syrien geflohen.
Die Familie lebte in Aleppo. Dort hat Harut Ökonomie studiert und
versucht jetzt an der Universität in der Hauptstadt Jerewan seinen
Master zu machen. ?Zurzeit wohnen wir bei meinem älteren Bruder in
Jerewan. Er ist verheiratet und hat ein Baby. Sechs Personen in einer
Zweizimmerwohnung. Das ist zu eng. Deshalb müssen wir schnell etwas
finden.`
So wie Harut sind in den vergangenen Monaten knapp 4.000 Angehörige
der armenischen Minderheit aus Syrien vor dem Bürgerkrieg nach
Armenien geflohen. In Syrien leben etwa 100.000 Armenier, davon allein
knapp 60.000 in Aleppo. Die armenische Gemeinde in Syrien war eine der
ersten in der Diaspora, die nach dem Genozid an den Armeniern im
Osmanischen Reich 1915 entstand.
Angesichts der explosiven Lage in Syrien hat die armenische Regierung
die Formalitäten für die Visavergabe vereinfacht. Zudem ist in
Armenien seit 2007 die doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt. Nach
Angaben der Pass- und Visaabteilung der Polizei Jerewan haben zwischen
Januar und Juli dieses Jahres 3.663 Armenier aus Syrien um einen
armenischen Pass nachgesucht.
Extrateure Sonderflüge
Doch nicht alle Ausreisewilligen können sich auf den Weg nach Jerewan
machen. Zwar hat die armenische Fluggesellschaft Armavia Sonderflüge
zwischen Jerewan und Aleppo sowie Damaskus eingerichtet. Doch die
Ticketpreise wurden massiv erhöht. Kostete die Strecke vor dem
Ausbruch des Bürgerkriegs 245 Euro, mussten die Flüchtlinge in den
vergangenen Wochen und Monaten 380 Euro für ein Ticket hinlegen. Nach
massiven Protesten und einer Intervention der armenischen Regierung
reduzierte Armavia den Preis wieder.
Überhaupt stellen die Neuankömmlinge aus Syrien für Armenien eine
besondere Herausforderung dar. Denn das Land ist bitterarm. Ein nicht
unerheblicher Teil des armenischen Staatshaushalts wird von der
Diaspora (circa 10 Millionen Armenier) finanziert. Offiziell lag die
Arbeitslosenrate Anfang 2012 bei 6,2 Prozent, dürfte aber in Wahrheit
viel höher sein. 2011 betrugen Löhne durchschnittlich 220 Euro und
Renten 52 Euro.
Trotzdem bemüht sich die Regierung, den Flüchtlingen zu helfen. Das
Diasporaministerium stellte 17.500 Euro für ein zweiwöchiges
Kindersommerlager im August zur Verfügung. 400 Teilnehmer sind aus
Syrien und von ihren Eltern nach Jerewan geschickt worden. ?Danach
haben diese Kinder die Möglichkeit, bei armenischen Familien zu
wohnen. 150 Familien sind bereit, Kinder aus Syrien aufzunehmen`,
sagte die Diasporaministerin Hranusch Hakobyan unlängst vor
Journalisten.
Sprachkurse in Ostarmenisch
In drei Jerewaner Schulen werden Schüler aus Syrien in speziellen
Kursen unterrichtet. Auch für Studenten plant das Ministerium
Weiterbildungsangebote. Eine große Hürde für die Armenier aus Syrien
ist die Sprache. In Armenien und anderen Staaten der Exsowjetunion
spricht man Ostarmenisch. Westarmenisch wird in der Diaspora
gesprochen. Die Sprachen unterscheiden sich in Grammatik, Wortschatz
und Orthografie. Intensivsprachkurse in Ostarmenisch sollen den
Armeniern aus Syrien die Integration erleichtern.
Einige Nichtregierungsorganisationen unterstützen das
Diasporaministerium. Zum Beispiel die Facebook-Initiative ?Förderung
für Rückkehrer`. Dort können sich Helfer registrieren lassen. ?Ein
Geschäftsmann hat mit Möbeln einer Familie geholfen, ein Mädchen
wollte 10 Euro spenden`, sagt Karen Vrtanesyan, Aktivist der
Initiative. Auch juristisch könnten sich die Flüchtlinge beraten
lassen. ?Die Menschen, die vor einer Woche gekommen sind, haben
unterschiedliche Geschichten erzählt. Einer sagte, die Lage in seinem
Bezirk in Aleppo sei normal. Andere sagten, es gebe kein Brot und kein
Wasser.` Die Ankommenden klagten über hohe Preise auf Märkten in
Jerewan: 10 Kilogramm Orangen kosteten in Syrien ein Euro, in Armenien
ein Kilogramm Orangen zwei Euro.
?Die Mehrheit der Ankommenden organisiert ihr Leben selbst. Viele
möchten nicht in Armenien bleiben, sondern in ein, zwei Monaten nach
Syrien zurückkehren`, sagt Vrtanesyan. Nach Angaben des Migrationsamts
Armeniens haben sich 30 Familien um den Flüchtlingsstatus beworben.
Sie alle hätten Unterkünfte vom Staat bekommen.
Das stößt nicht bei allen Einheimischen auf Zustimmung, denn die
Wohnungsnot ist groß. ?Ich bekomme 55 Euro Rente. Die Armenier aus
Syrien können sich nicht vorstellen, wie man mit so wenig Geld leben
kann`, sagt Asja Avetisyan. Die 68-Jährige wohnt bei ihrem Sohn.
?Aber`, sagt sie, ?Wir dürfen diese Menschen nicht allein lassen.`
http://www.taz.de/Armenische-Gemeinde-flieht-aus-Syrien/!100008/