Deutschlandradio, Deutschland
18 Januar 2012
Bilder eines Genozids
Armin T. Wegner: "Die Austreibung des armenischen Volkes in die
Wüste", Wallstein, Göttingen 2011, 216 Seiten
Im Ersten Weltkrieg wurde Armin T. Wegner als Sanitäter Zeuge des
Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich. Nach Kriegsende
versuchte er, das Geschehen mit Bildern und Vorträgen publik zu
machen. Der Wallstein Verlag veröffentlicht nun diese Dokumente.
Zwei offene Briefe machten Armin T. Wegner berühmt. Den einen schrieb
er 1933 ebenso mutig wie tollkühn an Hitler, um gegen die einsetzende
Judenverfolgung zu protestieren. Wenig später wurde er deshalb
verhaftet und bis 1934 durch mehrere KZs geschleift, bevor es seiner
jüdischen Frau Lola Landau mit Hilfe von Freunden gelang, ihn
freizubekommen und zur Emigration zu bewegen.
Den ersten offenen Brief hatte Wegner schon im Ersten Weltkrieg
verfasst und an US-Präsident Wilson gesandt: Als Sanitätsunteroffizier
in der Deutsch-Ottomanischen Sanitätsmission hatte er 1915/1916
beobachtet und erfahren, wie die Armenier zuerst von der türkischen
Regierung aus dem Parlament verjagt und dann deportiert wurden. Bis zu
1,5 Millionen Armenier wurden ermordet oder in die mesopotamische
Wüste vertrieben, wo sie elendig zu Grunde gingen.
Der Versuch, diesen Völkermord während des Krieges presseöffentlich zu
machen, misslang, trotz prominenter Ansprechpartner von Maximilian
Harden bis Walther Rathenau. Erst unmittelbar nach Kriegsende hielt
Wegner Lichtbilder-Vorträge über "Die Austreibung des armenischen
Volkes in die Wüste". Er zeigte Fotos, die er selbst gemacht und -
trotz türkischem Verbot - "unter der Leibbinde versteckt über die
Grenze" geschmuggelt hatte.
Der Wallstein Verlag hat jetzt erstmals diesen Vortrag veröffentlicht
und in einer Sisyphosarbeit, soweit möglich, die Herkunft der etwa 100
Fotos erkundet, die Wegner für seinen Vortrag verwendete. Sie zeigen
Landschaft und Alltagsleben der Armenier, Familien, Frauen, Kinder,
fast völkerkundliche Aufnahmen, dazu Zeugnisse einer Jahrtausende
alten Kultur, Inschriften, Kirchen, Ruinen. Und dann Aufnahmen der
Täter, wie Dschemal Pascha, der das Verbot erließ, den Völkermord zu
fotografieren, und dessen Bilder: Erhängte und Verhungerte, Tiere, die
an Knochen nagen, bis aufs Skelett abgemagerte menschliche Reste,
knöcherne Schädel, die in der Wüste liegen.
Bei seinem ersten Lichtbilder-Vortrag 1919 in der Berliner "Urania"
gab es Tumulte: Das hatte nicht nur damit zu tun, dass er die
Mitschuld der deutschen Verbündeten an dem von den Türken verübten
Völkermord anprangerte - eine Mitschuld, die auch Wegner selbst lange
verharmlost hatte. "Vertreter der jungtürkischen Bewegung erhoben den
Vorwurf, Wegner zeige Bilder, die keineswegs das darstellten, was er
von ihnen behauptete", erinnert Herausgeber Andreas Maier.
Tatsächlich hatte Wegner nicht alle Fotos genau geprüft. "Wegners
journalistisch-publizistischer und weniger historisch-dokumentarischer
Einsatz des Mediums Bild drohte schließlich das ganze Unternehmen in
Misskredit zu bringen", schreibt der Herausgeber. So musste Wegner
während des Vortrages und auch danach Korrekturen vornehmen.
Seine Leistung schmälert das dennoch nicht. Denn viele der
entsetzlichsten Fotos des Genozids an den Armeniern, die Wegner
zeigte, hatte er auch selbst fotografiert. Die Autoren und Archivare
liefern nach minutiösen Recherchen die Belege, sie fanden sie im
Nachlass Wegners im Deutschen Literaturarchiv Marbach und in seinem
Haus in Stromboli, sie haben seine Kamera, die Motive, die
Beschriftungen, die Erklärungen verglichen, und alles in einem
umfangreichen Anhang erklärt.
Den Schriftsteller Armin T. Wegner in die Rolle des Historikers zu
drängen, wäre dennoch falsch. Er nutzte alle ihm zur Verfügung
stehenden Mittel - Briefe, Berichte, Bilder, eigene wie fremde - um
mittels "Dichtung und Wahrheit" ein Menschheitsverbrechen
anzuprangern. Herausgeber Maier deutet das als Zeichen einer
schleichenden Literarisierung: "Statt nur das Selbsterlebte
unmittelbar wiederzugeben, wird er wider Willens zum Dichter",
schreibt Maier.
Wegner: "Es ist der Mund von tausend Toten, der aus mir reden soll".
Dass Armin T. Wegner - nicht gänzlich unumstritten - nach Johannes
Lepsius den Ruf des wichtigsten Zeugen dieses Völkermords behielt,
dürfte im jahrzehntelangen Engagement Wegners für die armenische Sache
begründet sein, wofür er unter anderem mit dem St. Georg-Orden der
armenisch-apostolischen Kirche geehrt wurde.
Mit diesem Buch erleben heutige Leser Wegners beeindruckenden Vortrag,
sie erfahren, welchen Lernprozess der Pazifist durchmachte. Und dank
des kenntnisreichen Essays von Wolfgang Gust werden Hintergründe und
Schuldige für den Völkermord an den Armeniern benannt - der bis heute
vielerorts geleugnet wird.
Besprochen von Liane von Billerbeck
Armin T. Wegner: Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste
Herausgegeben von Andreas Maier, mit einem Essay von Wolfgang Gust
Wallstein Verlag, Göttingen 2011
216 Seiten, 24 Euro
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1655382/
18 Januar 2012
Bilder eines Genozids
Armin T. Wegner: "Die Austreibung des armenischen Volkes in die
Wüste", Wallstein, Göttingen 2011, 216 Seiten
Im Ersten Weltkrieg wurde Armin T. Wegner als Sanitäter Zeuge des
Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich. Nach Kriegsende
versuchte er, das Geschehen mit Bildern und Vorträgen publik zu
machen. Der Wallstein Verlag veröffentlicht nun diese Dokumente.
Zwei offene Briefe machten Armin T. Wegner berühmt. Den einen schrieb
er 1933 ebenso mutig wie tollkühn an Hitler, um gegen die einsetzende
Judenverfolgung zu protestieren. Wenig später wurde er deshalb
verhaftet und bis 1934 durch mehrere KZs geschleift, bevor es seiner
jüdischen Frau Lola Landau mit Hilfe von Freunden gelang, ihn
freizubekommen und zur Emigration zu bewegen.
Den ersten offenen Brief hatte Wegner schon im Ersten Weltkrieg
verfasst und an US-Präsident Wilson gesandt: Als Sanitätsunteroffizier
in der Deutsch-Ottomanischen Sanitätsmission hatte er 1915/1916
beobachtet und erfahren, wie die Armenier zuerst von der türkischen
Regierung aus dem Parlament verjagt und dann deportiert wurden. Bis zu
1,5 Millionen Armenier wurden ermordet oder in die mesopotamische
Wüste vertrieben, wo sie elendig zu Grunde gingen.
Der Versuch, diesen Völkermord während des Krieges presseöffentlich zu
machen, misslang, trotz prominenter Ansprechpartner von Maximilian
Harden bis Walther Rathenau. Erst unmittelbar nach Kriegsende hielt
Wegner Lichtbilder-Vorträge über "Die Austreibung des armenischen
Volkes in die Wüste". Er zeigte Fotos, die er selbst gemacht und -
trotz türkischem Verbot - "unter der Leibbinde versteckt über die
Grenze" geschmuggelt hatte.
Der Wallstein Verlag hat jetzt erstmals diesen Vortrag veröffentlicht
und in einer Sisyphosarbeit, soweit möglich, die Herkunft der etwa 100
Fotos erkundet, die Wegner für seinen Vortrag verwendete. Sie zeigen
Landschaft und Alltagsleben der Armenier, Familien, Frauen, Kinder,
fast völkerkundliche Aufnahmen, dazu Zeugnisse einer Jahrtausende
alten Kultur, Inschriften, Kirchen, Ruinen. Und dann Aufnahmen der
Täter, wie Dschemal Pascha, der das Verbot erließ, den Völkermord zu
fotografieren, und dessen Bilder: Erhängte und Verhungerte, Tiere, die
an Knochen nagen, bis aufs Skelett abgemagerte menschliche Reste,
knöcherne Schädel, die in der Wüste liegen.
Bei seinem ersten Lichtbilder-Vortrag 1919 in der Berliner "Urania"
gab es Tumulte: Das hatte nicht nur damit zu tun, dass er die
Mitschuld der deutschen Verbündeten an dem von den Türken verübten
Völkermord anprangerte - eine Mitschuld, die auch Wegner selbst lange
verharmlost hatte. "Vertreter der jungtürkischen Bewegung erhoben den
Vorwurf, Wegner zeige Bilder, die keineswegs das darstellten, was er
von ihnen behauptete", erinnert Herausgeber Andreas Maier.
Tatsächlich hatte Wegner nicht alle Fotos genau geprüft. "Wegners
journalistisch-publizistischer und weniger historisch-dokumentarischer
Einsatz des Mediums Bild drohte schließlich das ganze Unternehmen in
Misskredit zu bringen", schreibt der Herausgeber. So musste Wegner
während des Vortrages und auch danach Korrekturen vornehmen.
Seine Leistung schmälert das dennoch nicht. Denn viele der
entsetzlichsten Fotos des Genozids an den Armeniern, die Wegner
zeigte, hatte er auch selbst fotografiert. Die Autoren und Archivare
liefern nach minutiösen Recherchen die Belege, sie fanden sie im
Nachlass Wegners im Deutschen Literaturarchiv Marbach und in seinem
Haus in Stromboli, sie haben seine Kamera, die Motive, die
Beschriftungen, die Erklärungen verglichen, und alles in einem
umfangreichen Anhang erklärt.
Den Schriftsteller Armin T. Wegner in die Rolle des Historikers zu
drängen, wäre dennoch falsch. Er nutzte alle ihm zur Verfügung
stehenden Mittel - Briefe, Berichte, Bilder, eigene wie fremde - um
mittels "Dichtung und Wahrheit" ein Menschheitsverbrechen
anzuprangern. Herausgeber Maier deutet das als Zeichen einer
schleichenden Literarisierung: "Statt nur das Selbsterlebte
unmittelbar wiederzugeben, wird er wider Willens zum Dichter",
schreibt Maier.
Wegner: "Es ist der Mund von tausend Toten, der aus mir reden soll".
Dass Armin T. Wegner - nicht gänzlich unumstritten - nach Johannes
Lepsius den Ruf des wichtigsten Zeugen dieses Völkermords behielt,
dürfte im jahrzehntelangen Engagement Wegners für die armenische Sache
begründet sein, wofür er unter anderem mit dem St. Georg-Orden der
armenisch-apostolischen Kirche geehrt wurde.
Mit diesem Buch erleben heutige Leser Wegners beeindruckenden Vortrag,
sie erfahren, welchen Lernprozess der Pazifist durchmachte. Und dank
des kenntnisreichen Essays von Wolfgang Gust werden Hintergründe und
Schuldige für den Völkermord an den Armeniern benannt - der bis heute
vielerorts geleugnet wird.
Besprochen von Liane von Billerbeck
Armin T. Wegner: Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste
Herausgegeben von Andreas Maier, mit einem Essay von Wolfgang Gust
Wallstein Verlag, Göttingen 2011
216 Seiten, 24 Euro
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1655382/