Berliner Zeitung, Deutschland
19 Januar 2012
Schweigemarsch für Hrant Dink
Von Frank Nordhausen
Istanbul -
Der riesige Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls war nicht groß für die
Menschenmenge, die sich am Donnerstagmittag zu einem Schweigemarsch
versammelte, um an den Mord an dem armenischstämmigen Journalisten
Hrant Dink vor genau fünf Jahren zu erinnern. Nach Angaben türkischer
Medien zogen 30.000 bis 40.000 Demonstranten zum Redaktionsgebäude der
armenischen Wochenzeitung Agos,
Dort - zwei Metrostationen vom Taksim-Platz entfernt - war Dink,
damals Chefredakteur der Zeitschrift, am 19. Januar 2007 erschossen
worden. Der unbequeme Intellektuelle hatte immer wieder eine
öffentliche Debatte über den Völkermord an den Armeniern im
Osmanischen Reich gefordert. Rechtsradikale und Nationalisten hassten
ihn dafür; die Justiz verurteilte ihn aufgrund des berüchtigten
Strafrechtsparagraphen 301 wegen ?Beleidigung des Türkentums`. Der
Europäische Menschengerichtshof in Straßburg kritisierte nach dem
Anschlag die türkischen Behörden, da sie Dink nicht schützten, obwohl
ihnen Mordpläne aus der rechtsextremen Szene bekannt waren.
Auf der Demonstration trugen viele Menschen schwarze Schilder mit der
Aufschrift ?Wir sind alle Hrant - wir sind alle Armenier`. Um drei Uhr
nachmittags, dem Zeitpunkt der tödlichen Schüsse, schwiegen die
Menschen, reckten still die Fäuste oder zeigten das Victory-Zeichen.
Vor allem zeigten sie an diesem Tag, dass es sie noch gibt - die
liberalen, linken, multikulturell bewegten Türken, und dass sie viele
sind. Hrant Dinks Witwe Rakel, seine Kinder und Geschwister legten
rote Nelken auf dem Pflaster nieder, dort, wo sein Blut geflossen war.
An dem weißen, klassizistischen Redaktionsgebäude hatten Freunde von
Dink ein riesiges Transparent aufgehängt mit seinem Bild und der
Aufschrift: ?Das Urteil ist nicht endgültig!`
Der Gedenktag war vor allem auch ein Tag für die liberalen, linken und
multikulturell bewegten Türken.
Foto: Frank Nordhausen Der Gedenktag war vor allem auch ein Tag für
die liberalen, linken und multikulturell bewegten Türken.
Foto: Frank Nordhausen
Ein Mord, der die Türkei aufwühlte
Mit diesem Satz, den auch die Demonstranten skandierten, protestierten
sie gegen das unerwartet milde Urteil gegen mutmaßliche Hintermänner
des Mordes, das ein Istanbuler Gericht vor gerade zwei Tagen gefällt
hatte. Kein anderer Mordfall hat die Türkei in den vergangenen Jahren
so bewegt wie Hrant Dink. Er war von dem damals noch minderjährigen
Rechtsextremisten Ogün Samastaus der Schwarzmeerstadt Trabzon
erschossen worden, der im vergangenen Juli zu 22 Jahren Haft
verurteilt wurde. Am Dienstag erhielt Samasts Komplize Yasin Hayal,
ebenfalls Rechtsnationalist und ebenfalls aus Trabzon, als angeblich
einziger Anstifter eine lebenslange Haftstrafe.
Kaum ein anderes Ereignis wühlte die Türken in den vergangen Jahren so
auf, wie der Mordfall Dink.
Foto: Frank Nordhausen Kaum ein anderes Ereignis wühlte die Türken in
den vergangen Jahren so auf, wie der Mordfall Dink.
Foto: Frank Nordhausen
Der zweite Haupt- und zahlreiche Nebenverdächtige wurden
freigesprochen. Die Dink-Anwälte warfen dem Gericht vor, wichtige
Zeugen gar nicht vernommen zu haben. Auch die Vorsitzende des
türkischen Unternehmerverbandes Tüsiad, Ümit Boyner, erklärte in der
Zeitung Vatan, die Anwälte der Dink-Familie seien ?fast systematisch'
daran gehindert worden, notwendige Beweise zu sammeln, und ihre
Beweisanträge seien ständig abgelehnt worden.
Sie wollen Gerechtigkeit
Dagegen erklärte der Vorsitzende Richter Rüsten Eryilamz in der
Zeitung Vatan, trotz vieler Hinweise auf eine Verwicklung von
Sicherheitskräften und Mitgliedern der rechtsextremen Einheitspartei
(BBP) in den Mord gebe es keine ausreichenden Beweise für ein Komplott
durch eine kriminelle Organisation und staatliche Stellen. Auch er sei
unzufrieden mit der Entscheidung, sagte der Richter, aber man habe
einfach nicht die nötige Zeit gehabt, Tausende von
Telefonaufzeichnungen vom Mordtag zu prüfen. Das Gericht habe aufgrund
der Beweislage aber nicht anders handeln können.
#image[1]
Das sehen selbst Vertreter der regierenden AKP und der Staatspräsident
Abdullah Gül ein wenig anders. ?Ein transparentes und gerechtes Urteil
in Übereinstimmung mit den Gesetzen ist ein wichtiger Test für uns`,
erklärte Gül, sichtlich verärgert über den Richterspruch. Die
Demonstranten in Istanbul äußerten sich deutlicher. ?Die Hinweise auf
eine Verschwörung sind so klar, dass sie nur ein Blinder übersehen
kann. Der Staat ist Schuld an dem Verbrechen, er hat es organisiert`,
sagte Ahmet Insel, Professor und bekannter Kolumnist der
linksliberalen Zeitung Radikal, der Berliner Zeitung. ?Ich hoffe, dass
es in einer höheren Gerichtsinstanz Gerechtigkeit gibt - aber das kann
lange dauern.`
Viele Protestierer äußerten sich ähnlich. ?Ich bin hier, weil ich
Gerechtigkeit will. Der Staat ist schuldig, die Verbrechen müssen
aufgeklärt werden`, erklärte eine ältere Frau, Alevitin, die
Angehörige bei dem sogenannten Sivas-Massaker von 1993 verloren hat.
Das Dink-Urteil hat Schockwellen durch die gesamte türkische
Gesellschaft gesandt, wie auch eine kleine Zufallsumfrage der Berliner
Zeitung am Straßenrand zeigte. Ob Sekretärin, Friseuse,
Reisebüro-Inhaber oder Müllmann, die Leute in Istanbul reagierten
ähnlich: ?Hrant Dink ist ermordet worden, er ist ein unschuldiger
Mann, es ist richtig, für Gerechtigkeit zu demonstrieren.`
Ergenekon: Der ?tiefe Staat`
Auf der Kundgebung vor dem Agos-Redaktionsgebäude, die verschiedene
türkische Fernsehsender live übertrugen, warf eine armenisch-türkische
Journalistin der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung
(AKP) vor, mit Schuld zu sein an dem Attentat. Die AKP hat unterdessen
eine weitere Untersuchung gefordert, obwohl eine Parlaments- und eine
Kommission des Staatspräsidenten die Hintergründe nicht hatten klären
können (oder nicht hatten klären wollen, wie Kritiker meinen). Es ist
schon seltsam: Während AKP-nahe Staatsanwälte und Richter mit dem
Vorwurf terroristischer Umtriebe sonst schnell bei der Hand sind,
blieben die Angeklagten des Dink-Prozesses davon unbehelligt, obwohl
die Indizien erdrückend sind.
#image[2]
Auch scheint der Eifer, die Verschwörungen des ?tiefen Staates`
aufzudecken, in dem Maß zu erlahmen, in dem die AKP selbst den Staat
übernimmt. Ein Redner nannte die Namen einer Reihe von Polizei- und
Gendarmerieoffizieren, die in den Mordermittlungen zeitweise eine
Rolle spielten, aber nie belangt wurden - und inzwischen als
Würdenträger in den Reihen der AKP agieren.
Für den ?tiefen Staat` hat sich in der Türkei das Etikett ?Ergenekon`
eingebürgert. Eigentlich bezeichnet Ergenekon jedoch den
Ursprungsmythos der türkischen Volksstämme. Kurz vor der Ankunft am
damaligen Tatort passierten die Demonstranten eine Seitenstraße, die
im rechten Winkel auf die Hauptstraße mündet und ?Ergenekon Caddesi`
heißt - Ergenekon-Straße. Anwohner kämpfen hier schon seit einer Weile
darum, den Namen zu ändern, denn sie sind es leid, Opfer von Hohn und
Spott nicht nur des Postboten zu werden. Studenten hatten nun ein
neues Straßenschild entworfen, das sie unter riesigem Beifall dem
Originalschild überstülpten. Statt ?Ergenekon Caddesi` heißt die
Straße nun ?Hrant Dink Caddesi`. Symbolisch sehr fein, hätte Tucholsky
bemerkt.
http://www.berliner-zeitung.de/politik/mord-an-journalisten-schweigemarsch-fuer-hrant-dink,10808018,11479284.html
19 Januar 2012
Schweigemarsch für Hrant Dink
Von Frank Nordhausen
Istanbul -
Der riesige Taksim-Platz im Zentrum Istanbuls war nicht groß für die
Menschenmenge, die sich am Donnerstagmittag zu einem Schweigemarsch
versammelte, um an den Mord an dem armenischstämmigen Journalisten
Hrant Dink vor genau fünf Jahren zu erinnern. Nach Angaben türkischer
Medien zogen 30.000 bis 40.000 Demonstranten zum Redaktionsgebäude der
armenischen Wochenzeitung Agos,
Dort - zwei Metrostationen vom Taksim-Platz entfernt - war Dink,
damals Chefredakteur der Zeitschrift, am 19. Januar 2007 erschossen
worden. Der unbequeme Intellektuelle hatte immer wieder eine
öffentliche Debatte über den Völkermord an den Armeniern im
Osmanischen Reich gefordert. Rechtsradikale und Nationalisten hassten
ihn dafür; die Justiz verurteilte ihn aufgrund des berüchtigten
Strafrechtsparagraphen 301 wegen ?Beleidigung des Türkentums`. Der
Europäische Menschengerichtshof in Straßburg kritisierte nach dem
Anschlag die türkischen Behörden, da sie Dink nicht schützten, obwohl
ihnen Mordpläne aus der rechtsextremen Szene bekannt waren.
Auf der Demonstration trugen viele Menschen schwarze Schilder mit der
Aufschrift ?Wir sind alle Hrant - wir sind alle Armenier`. Um drei Uhr
nachmittags, dem Zeitpunkt der tödlichen Schüsse, schwiegen die
Menschen, reckten still die Fäuste oder zeigten das Victory-Zeichen.
Vor allem zeigten sie an diesem Tag, dass es sie noch gibt - die
liberalen, linken, multikulturell bewegten Türken, und dass sie viele
sind. Hrant Dinks Witwe Rakel, seine Kinder und Geschwister legten
rote Nelken auf dem Pflaster nieder, dort, wo sein Blut geflossen war.
An dem weißen, klassizistischen Redaktionsgebäude hatten Freunde von
Dink ein riesiges Transparent aufgehängt mit seinem Bild und der
Aufschrift: ?Das Urteil ist nicht endgültig!`
Der Gedenktag war vor allem auch ein Tag für die liberalen, linken und
multikulturell bewegten Türken.
Foto: Frank Nordhausen Der Gedenktag war vor allem auch ein Tag für
die liberalen, linken und multikulturell bewegten Türken.
Foto: Frank Nordhausen
Ein Mord, der die Türkei aufwühlte
Mit diesem Satz, den auch die Demonstranten skandierten, protestierten
sie gegen das unerwartet milde Urteil gegen mutmaßliche Hintermänner
des Mordes, das ein Istanbuler Gericht vor gerade zwei Tagen gefällt
hatte. Kein anderer Mordfall hat die Türkei in den vergangenen Jahren
so bewegt wie Hrant Dink. Er war von dem damals noch minderjährigen
Rechtsextremisten Ogün Samastaus der Schwarzmeerstadt Trabzon
erschossen worden, der im vergangenen Juli zu 22 Jahren Haft
verurteilt wurde. Am Dienstag erhielt Samasts Komplize Yasin Hayal,
ebenfalls Rechtsnationalist und ebenfalls aus Trabzon, als angeblich
einziger Anstifter eine lebenslange Haftstrafe.
Kaum ein anderes Ereignis wühlte die Türken in den vergangen Jahren so
auf, wie der Mordfall Dink.
Foto: Frank Nordhausen Kaum ein anderes Ereignis wühlte die Türken in
den vergangen Jahren so auf, wie der Mordfall Dink.
Foto: Frank Nordhausen
Der zweite Haupt- und zahlreiche Nebenverdächtige wurden
freigesprochen. Die Dink-Anwälte warfen dem Gericht vor, wichtige
Zeugen gar nicht vernommen zu haben. Auch die Vorsitzende des
türkischen Unternehmerverbandes Tüsiad, Ümit Boyner, erklärte in der
Zeitung Vatan, die Anwälte der Dink-Familie seien ?fast systematisch'
daran gehindert worden, notwendige Beweise zu sammeln, und ihre
Beweisanträge seien ständig abgelehnt worden.
Sie wollen Gerechtigkeit
Dagegen erklärte der Vorsitzende Richter Rüsten Eryilamz in der
Zeitung Vatan, trotz vieler Hinweise auf eine Verwicklung von
Sicherheitskräften und Mitgliedern der rechtsextremen Einheitspartei
(BBP) in den Mord gebe es keine ausreichenden Beweise für ein Komplott
durch eine kriminelle Organisation und staatliche Stellen. Auch er sei
unzufrieden mit der Entscheidung, sagte der Richter, aber man habe
einfach nicht die nötige Zeit gehabt, Tausende von
Telefonaufzeichnungen vom Mordtag zu prüfen. Das Gericht habe aufgrund
der Beweislage aber nicht anders handeln können.
#image[1]
Das sehen selbst Vertreter der regierenden AKP und der Staatspräsident
Abdullah Gül ein wenig anders. ?Ein transparentes und gerechtes Urteil
in Übereinstimmung mit den Gesetzen ist ein wichtiger Test für uns`,
erklärte Gül, sichtlich verärgert über den Richterspruch. Die
Demonstranten in Istanbul äußerten sich deutlicher. ?Die Hinweise auf
eine Verschwörung sind so klar, dass sie nur ein Blinder übersehen
kann. Der Staat ist Schuld an dem Verbrechen, er hat es organisiert`,
sagte Ahmet Insel, Professor und bekannter Kolumnist der
linksliberalen Zeitung Radikal, der Berliner Zeitung. ?Ich hoffe, dass
es in einer höheren Gerichtsinstanz Gerechtigkeit gibt - aber das kann
lange dauern.`
Viele Protestierer äußerten sich ähnlich. ?Ich bin hier, weil ich
Gerechtigkeit will. Der Staat ist schuldig, die Verbrechen müssen
aufgeklärt werden`, erklärte eine ältere Frau, Alevitin, die
Angehörige bei dem sogenannten Sivas-Massaker von 1993 verloren hat.
Das Dink-Urteil hat Schockwellen durch die gesamte türkische
Gesellschaft gesandt, wie auch eine kleine Zufallsumfrage der Berliner
Zeitung am Straßenrand zeigte. Ob Sekretärin, Friseuse,
Reisebüro-Inhaber oder Müllmann, die Leute in Istanbul reagierten
ähnlich: ?Hrant Dink ist ermordet worden, er ist ein unschuldiger
Mann, es ist richtig, für Gerechtigkeit zu demonstrieren.`
Ergenekon: Der ?tiefe Staat`
Auf der Kundgebung vor dem Agos-Redaktionsgebäude, die verschiedene
türkische Fernsehsender live übertrugen, warf eine armenisch-türkische
Journalistin der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung
(AKP) vor, mit Schuld zu sein an dem Attentat. Die AKP hat unterdessen
eine weitere Untersuchung gefordert, obwohl eine Parlaments- und eine
Kommission des Staatspräsidenten die Hintergründe nicht hatten klären
können (oder nicht hatten klären wollen, wie Kritiker meinen). Es ist
schon seltsam: Während AKP-nahe Staatsanwälte und Richter mit dem
Vorwurf terroristischer Umtriebe sonst schnell bei der Hand sind,
blieben die Angeklagten des Dink-Prozesses davon unbehelligt, obwohl
die Indizien erdrückend sind.
#image[2]
Auch scheint der Eifer, die Verschwörungen des ?tiefen Staates`
aufzudecken, in dem Maß zu erlahmen, in dem die AKP selbst den Staat
übernimmt. Ein Redner nannte die Namen einer Reihe von Polizei- und
Gendarmerieoffizieren, die in den Mordermittlungen zeitweise eine
Rolle spielten, aber nie belangt wurden - und inzwischen als
Würdenträger in den Reihen der AKP agieren.
Für den ?tiefen Staat` hat sich in der Türkei das Etikett ?Ergenekon`
eingebürgert. Eigentlich bezeichnet Ergenekon jedoch den
Ursprungsmythos der türkischen Volksstämme. Kurz vor der Ankunft am
damaligen Tatort passierten die Demonstranten eine Seitenstraße, die
im rechten Winkel auf die Hauptstraße mündet und ?Ergenekon Caddesi`
heißt - Ergenekon-Straße. Anwohner kämpfen hier schon seit einer Weile
darum, den Namen zu ändern, denn sie sind es leid, Opfer von Hohn und
Spott nicht nur des Postboten zu werden. Studenten hatten nun ein
neues Straßenschild entworfen, das sie unter riesigem Beifall dem
Originalschild überstülpten. Statt ?Ergenekon Caddesi` heißt die
Straße nun ?Hrant Dink Caddesi`. Symbolisch sehr fein, hätte Tucholsky
bemerkt.
http://www.berliner-zeitung.de/politik/mord-an-journalisten-schweigemarsch-fuer-hrant-dink,10808018,11479284.html