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Genozid Armenien: "Wir sind ein Volk von Waisen" [Nation Of Orphansv

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  • Genozid Armenien: "Wir sind ein Volk von Waisen" [Nation Of Orphansv

    Frankfurter Rundschau, Deutschand
    3 mai 2012


    Genozid Armenien: "Wir sind ein Volk von Waisen"


    Einem der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte fielen im
    Sommer 1915 bis zu 1,5 Millionen Armenier zum Opfer. Jedes Jahr
    treffen sich Familienangehörige in Jerewan,
    um der Toten zu gedenken – viele der Nachgeborenen kommen von weit her.

    JEREWAN –
    Maria Titizian und Arsinée Khanjian sind an diesem 24. April wie in
    jedem Jahr mit einem Gefühl der Beklemmung aufgewacht. Jeder Armenier
    trage es in sich, dieses Gefühl, sagen sie. Sie haben sich festlich
    gekleidet und sind gemeinsam mit Hunderttausenden hinaufgegangen zum
    Mahnmal des Völkermords auf dem Tsitsernakaberd-Hügel hoch über der
    armenischen Hauptstadt Jerewan. Erwachsene, Kinder, Greise halten
    Blumen in der Hand, viele laufen still und in sich gekehrt.

    Manche stimmen in die alten armenischen Lieder ein, die aus
    Lautsprechern klingen und von Leben und Tod handeln. Dann treten sie
    ein in das kreisrunde Mahnmal unter den zwölf Betonpylonen, halten
    inne, legen ihre Blumen neben der ewigen Flamme nieder. Um
    Mitternacht, nach der Prozession von mehr als einer halben Million
    Menschen, bedeckt ein Berg von Nelken, Rosen, Tulpen die Gedenkstätte.
    Die Wunde sei nicht verheilt, sagt am nächsten Morgen Maria Titizian,
    Historikerin und Schriftstellerin aus Jerewan.

    „Sie klafft, bis die Täternation sich zu ihrer Verantwortung für den
    Genozid bekennt.“ Noch immer leugnet der türkische Nachbar das
    Verbrechen, obwohl Historiker es längst als Tatsache bewiesen haben.
    Diplomatische Beziehungen zwischen beiden Ländern gibt es nicht, die
    Grenzen sind geschlossen.

    Eine Erleuchtung

    Maria Titizian, 41 Jahre alt, eine offene, herzliche Frau, sitzt in
    ihrem kleinen Büro einer sozialdemokratischen Stiftung in Jerewan. Die
    Stiftung gehört zur Partei der Daschnaken, die im Ersten Weltkrieg den
    Widerstand gegen die Vernichtungspolitik der Osmanen organisiert hat.
    Schon ihr Großvater sei Mitglied der patriotischen Partei Armeniens
    gewesen, sagt Maria Titizian. Vor ihr eine Karte dieses winzigen
    Landes im Südkaukasus, eingeklemmt zwischen Georgien, Aserbaidschan,
    Iran und der Türkei, das nun tatsächlich ihre Heimat wurde. Maria
    Titizian gehört zu jenen Armeniern, die nach dem Ende der Sowjetunion
    mit ihren Familien aus dem Exil ins Land gekommen sind.

    Sie sagt, sie habe ihre Entscheidung, aus Kanada nach Armenien
    umzusiedeln, in den elf Jahren, die sie jetzt hier lebt, nie bereut.
    Als sie 1998 zum ersten Mal in dieses Land kam, sei das wie eine
    Erleuchtung gewesen. „Ich fühlte mich wirklich zu Hause.“ In der
    Diaspora habe man ständig das Gefühl, fremd zu sein. „Jetzt bin ich in
    einem normalen Leben angekommen.“

    Sie hoffe, sagt sie, dass der internationale Druck bis zum
    hundertjährigen Gedenken des Völkermordes im Jahr 2015 die türkische
    Regierung als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches zur
    Entschuldigung veranlasse. So wie sich die Bundesrepublik Deutschland
    nach dem Krieg für den Holocaust verantwortet habe.

    „Holocaust vor dem Holocaust“ nannte der Friedensnobelpreisträger Elie
    Wiesel, was am 24. April 1915 in Konstantinopel mit der Verhaftung von
    235 armenischen Intellektuellen, Musikern, Dichtern begann: die
    systematische Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich. Es
    folgten Massaker und Todesmärsche in die syrische Wüste, bei denen bis
    zu 1,5 Millionen Armenier umkamen. Die „vollständige Vernichtung aller
    Armenier in der Türkei“ hatte der osmanische Innenminister Talaat
    Pascha damals gefordert. Ende August 1915 verkündete er in einem
    Telegramm: „Die Armenierfrage wurde gelöst.“

    Maria Titizians Großvater väterlicherseits gehörte zu jenen 5000
    Armeniern, die in einer Bergfestung nahe dem anatolischen Antakya
    ausharrten. Deren Leid beschrieb der deutsche Schriftsteller Franz
    Werfel 1933 in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Die
    Familie des damals 15-jährigen Kevork Kerekian kam mit dem Leben davon
    und übersiedelte zuerst nach Syrien, wo sich nach der Vertreibung
    große armenische Gemeinden gebildet hatten, und dann weiter nach
    Beirut in den Libanon.

    Sie bedauere sehr, dass sie den Großvater Kevork nie kennengelernt
    habe, sagt Maria Titizian. Er starb verarmt während des Bürgerkrieges
    in Beirut. Sein Sohn hatte 1968, kurz vor dem Ausbruch der Unruhen,
    mit der Familie das Land verlassen und Exil in Toronto gesucht. Von
    all ihren Großeltern hat Maria Titizian nur die Oma mütterlicherseits
    kennengelernt, die in jenen Jahren ebenfalls aus dem Libanon nach
    Kanada auswanderte. Ihre Familie und die ihres Mannes waren 1915 fast
    komplett ausgelöscht worden. „Kaum jemand aus dieser Generation hat
    über das Erlebte geredet“, sagt Maria Titizian.

    Ein einziges Mal habe die Großmutter ihr Schweigen gebrochen. Sie
    erzählte ihrer Tochter von der Erinnerung an damals. „Sie war noch ein
    Kind. Sie sprach davon, wie sie durch ein Gebäude in ihrer Heimatstadt
    Urfa lief, wie sie in Blut watete und überall Leichen lagen.“ Maria
    Titizian sagt, ihre Großmutter sei kein sehr warmherziger Mensch
    gewesen. „Vielleicht wegen der schrecklichen Erlebnisse.“

    Wenn Armenier ihre Familiengeschichten erzählen, handeln diese von
    Vertreibung und Misshandlung, von Flucht und Rettung, vom Verlieren
    und Finden der Angehörigen. „Wir sind ein Volk von Waisen“, sagt Maria
    Titizian. In Jerewan ist das am Gedenktag beinahe körperlich zu
    spüren. Stille lastet auf der Stadt.

    Bis vor vor zehn Jahren nahm außerhalb des Landes kaum jemand von
    diesem Datum Notiz. Das hat sich geändert. Der Gedenktag ist ein
    Ereignis von globaler Bedeutung geworden, dem auch Präsident Barack
    Obama mit ehrenden Worten Rechnung trug. Sehr viele der circa sieben
    Millionen Auslands-Armenier leben heute in den USA, Russland und
    Frankreich.

    Zum Gedenktag sind Tausende von ihnen nach Jerewan gereist. Für Maria
    Titizian Gelegenheit, endlich Arsinée Khanjian wiederzusehen, ihre
    Freundin aus Toronto. Während in Maria Titizians Familie über den
    Genozid nie gesprochen wurde, ist Arsinée Khanjian mit der Erinnerung
    daran aufgewachsen. So unterschiedlich die Erfahrungen der beiden
    Frauen mit den Traumata ihrer Familien war, so sehr ist deren
    Bewältigung ihr Lebensthema geworden. Maria Titizian hat nach ihrem
    Studium in Toronto an einem Institut zur Erforschung von Völkermorden
    gearbeitet, das damals die letzten noch lebenden Zeitzeugen des
    Genozids mit der Videokamera interviewte. Eines Tages im Jahr 1985 hat
    sie dort Arsinée Khanjian getroffen. „Sie kam in den Raum gewirbelt
    wie ein Tornado“, erinnert sie sich.

    Arsinée Khanjian hat Politikwissenschaft studiert, bevor sie
    Schauspielerin wurde und auch in Filmen ihres Ehemanns Atom Egoyan
    mitwirkte. Die heute 53-Jährige kam ebenfalls im Libanon zur Welt.
    „Als ich als Teenager nach Kanada kam, dachte ich, wir würden nach
    sechs Monaten wieder zurückgehen in mein geliebtes Beirut. Aber wir
    sind in Toronto geblieben“, sagt sie.

    Arsinée Khanjians Großeltern mütterlicherseits stammten aus Diyarbakir
    in Südostanatolien und gehörten zu den wenigen Überlebenden ihrer
    Familien. Die Großmutter war 1915 zwar erst 15 Jahre alt, aber schon
    verheiratet. Ihr Ehemann wurde ermordet, ihr Sohn Hagop vor ihren
    Augen getötet, sie selbst während der Deportation vergewaltigt. „Ich
    fragte meine Oma einmal, wie ist dein Sohn gestorben? Und sie sagte,
    die Türken wollten ihn ihr wegnehmen, sie habe sich gewehrt, da hätten
    sie dem kleinen Hagop den Kopf eingeschlagen.“ Der Vater ihres Vaters
    verlor seine gesamte Familie, und da er erst sechs Jahre alt war, als
    er in ein syrisches Waisenhaus kam, kannte er nur seinen Vornamen
    Kharpert. „Sie fragten ihn, was hat dein Vater gemacht, und er
    antwortete: Schuhe repariert. Deshalb nannten sie ihn Goshgarian,
    Schuhmacher.“

    In Arsinée Khanjians Familie spielt es eine große Rolle, armenisch zu
    sein. „Ich sprach Armenisch, ging auf eine armenische Schule und in
    die armenische Kirche, alle meine Freunde in Beirut waren Armenier.“
    Sie sagt, sie sei mit dem unbedingten Wunsch nach Gerechtigkeit für
    die vielen Toten aufgewachsen. „Ich interessierte mich für die
    Schauspielerei, engagierte mich für die Umwelt, für Frauenrechte –
    aber vor allem für Armenien. Deshalb war es wie ein Wunder, als es
    plötzlich 1991 einen armenischen Staat gab.“

    Ihr Mann Atom Egoyan, mit dem sie seit fast dreißig Jahren
    zusammenlebt, stammt aus einer armenischen Familie, die über Ägypten
    nach Kanada ausgewandert ist, im Unterschied zu ihr konnte er aber
    kaum Armenisch. „Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
    entschlossen wir uns sofort, nach Armenien zu reisen und dort einen
    Film zu drehen.“ So entstand eine halbdokumentarische Annäherung an
    die fremde Heimat mit dem Titel „Calendar“, die 1993 auf der Berlinale
    lief. „Ich sah mich um, sah den Berg Ararat, von dem ich immer
    geträumt hatte. Aber ich sah auch die Menschen, die jahrzehntelang im
    Sowjetsystem gelebt hatten und dachte, das sollen also die Leute sein,
    zu denen ich gehöre?“

    Immer wieder reiste das Paar seither in den Kaukasus und drehte 2001
    mit „Ararat“ einen der ersten Spielfilme, der den Genozid behandelt.
    Seit Jahren ist Atom Egoyan auch Präsident der Filmfestspiele von
    Jerewan. Beide sind etabliert in Armenien, aber zurückzuwandern sei
    für sie nie eine Option gewesen, sagt Arsinée Khanjian, nicht nur in
    den schlimmen Jahren der Energieknappheit, des Zusammenbruchs der
    Wirtschaft, des Krieges mit Aserbaidschan um die Exklave
    Berg-Karabach. „Es würde wegen unserer Verpflichtungen in Kanada und
    den USA nicht funktionieren“, sagt sie. Sie bedauert nur, dass ihr
    Sohn Arshile nicht besser Armenisch spricht.

    Am Abend vor dem Tag der Erinnerung war sie mit ihrer Freundin Maria
    am Opernhaus in Jerewan, wo die Jugend der Daschnak-Partei ihren
    jährlichen Umzug mit Fackeln und Kerzen zum Mahnmal machte. Unter die
    Demonstranten hatten sich auch Extremisten gemischt, die
    ultranationalistische Parolen brüllten, einige verbrannten eine
    türkische Fahne. Einige Jugendliche jubelten dazu.

    Arsinée Khanjian und Maria Titizian waren entsetzt, als sie das sahen.
    „Sie lassen dort ihren Hass und ihre Frustration raus“, sagt Arsinée
    Khanjian. Sie ist sich sicher, dass eine Versöhnung mit der Türkei
    möglich sei – aber nur im Dialog. Wie alle glaubt sie, dass die Türken
    den ersten Schritt machen müssten. Sie selbst ist ein einziges Mal in
    die Türkei gereist – um den Berg Ararat, das nationale Symbol der
    Armenier, zu besteigen. Die Einladungen zum Istanbuler Filmfestival
    hätten sie und ihr Mann stets ausgeschlagen.

    „Manchmal habe ich Mitleid mit den Türken“, sagt sie, „denn man hat
    sie zu Geiseln einer nationalistischen Ideologie gemacht. Man hat
    ihnen ihre eigene Geschichte geraubt, sei sie nun gut oder schlecht.“

    Die Geschichten erzählen

    Bei einem Stadtbummel durch Jerewan entdeckt sie in einem der vielen
    Souvenirgeschäfte, die vor allem Kunden aus der Diaspora anlocken,
    eine DVD ihres Films „Ararat“. Sie spielt darin neben dem
    armenisch-französischen Chansonnier Charles Aznavour die Hauptrolle.
    In der Türkei war dieser Film nach seiner Kinopremiere vor zehn Jahren
    zunächst verboten. „Herabwürdigung des Türkentums“, lautete die
    Begründung. Atom Egoyan und Arsinée Khanjian wurden von den türkischen
    Behörden eine Zeit lang mit einem Einreiseverbot belegt.

    Arsinée Khanjian bittet den Verkäufer, die DVD in den Rekorder zu
    legen und vorzuspulen bis zu der Szene, in der sie, eine
    Schauspielerin, und Aznavour, ein Regisseur, sich erstmals begegnen.
    „Woran arbeiten Sie?“, fragt sie. Aznavour antwortet: „Meine Mutter
    ist eine Überlebende des Genozids. Mein Leben lang habe ich mir
    vorgenommen, einen Film zu machen, in dem sie ihre Geschichte
    erzählt.“ Das ist es, sagt Arsinée Khanjian. Es geht darum, die
    Geschichten zu erzählen.

    http://www.fr-online.de/panorama/genozid-armenien--wir-sind-ein-volk-von-waisen-,1472782,15091454.html




    From: A. Papazian
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