HASAN CEMAL: "1915. ERMENI SOYKIRIMI (DER VOLKERMORD AN DEN ARMENIERN)"
Deutschlandfunk
12 nov 2012
Deutschland
Von Gunnar Kohne
Der Volkermord an den Armeniern war lange ein Tabu der Geschichte
in der Turkei. Mit diesem Tabu ist auch der Journalist Hasan Cemal
aufgewachsen. Seine personliche Auseinandersetzung mit dem Genozid,
sein Fragen und Verstehen, hat der Journalist in dem Buch "1915. Der
Volkermord an den Armeniern" zusammengefasst.
Auf dem Titelfoto ist der Autor zu sehen, wie er in der weiten
Halle der Volkermord-Gedenkstatte in Erivan weiße Nelken vor der
ewigen Flamme niederlegt. Hasan Cemal war vor funf Jahren im Tross
des turkischen Staatsprasidenten Gul in die armenische Hauptstadt
gekommen. Ein historischer Besuch anlasslich eines Fußball-Landerspiels
zwischen Armenien und der Turkei. Lange, so erinnert sich der
prominente Milliyet-Kolumnist, habe er mit sich gerungen, ob er das
Mahnmal besuchen solle:
"Ich fuhlte, dass ich damit auch eine Tabumauer in meinem Innersten
einreißen wurde. Aber ich erinnerte mich an die Worte von Hrant Dink,
der uns Turken zurief: 'Lasst uns zusammen kommen und endlich unserem
Schmerz gegenseitig Respekt erweisen'."
Cemals Freund und Journalistenkollege Hrant Dink war im Jahr zuvor
in Istanbul auf offener Straße erschossen worden - weil er Armenier
war, weil er fur die Versohnung zwischen Turken und Armeniern und
fur die historische Wahrheit gleichermaßen gestritten hatte. Ihm,
Hrant Dink, ist das Buch "Der Volkermord an den Armeniern" gewidmet,
sein gewaltsamer Tod, so bekennt Cemal im Eingangskapitel, war fur
ihn der letzte Anstoß, sich intensiv mit dem finstersten Kapitel der
Geschichte seines Landes auseinanderzusetzen. Von diesem schmerzhaften
Erkenntnisprozess - der die eigenen Familiengeschichte mit einschließt
- handelt das Buch. Es ist - anders als der Titel vermuten lasst
- keine Arbeit uber die Vertreibung und Ermordung von vermutlich
uber einer Million Armeniern wahrend des Ersten Weltkrieges durch
das siechende osmanische Regime. Uber die Planung und Durchfuhrung
dieses Genozids durch die turkische Armeefuhrung ist alles gesagt
und geschrieben - und selbst in der Turkei zweifeln mittlerweile
nur noch extrem nationalistische Kreise die historischen Fakten
an. Das ist wohl das Erstaunlichste an diesem Buch: dass es so gut
wie keine Kontroverse ausgelost hat. Es belegt einen Zeitenwechsel
in der Turkei. Noch vor wenigen Jahren wurde Cemal allein fur
die Unterstutzung einer Historikerkonferenz zu dem Thema wegen
"Verunglimpfung des Turkentums" angeklagt. Es waren meist tragische
Ereignisse, die ihn aufruttelten. So wurde ein enger Freund
wahrend seines Dienstes als turkischer Diplomat in den USA Anfang
der 70er-Jahre von der armenischen Untergrundorganisation ASALA
erschossen - als spate Vergeltung fur den Volkermord. Und an noch
etwas erinnert er sich: Warum uber seinen Großvater, Cemal Pascha,
in seinem Elternhaus so wenig gesprochen wurde, insbesondere uber die
Umstande seines Todes. Cemal Pascha war einer der nationalistischen
Jungturkenanfuhrer und im Ersten Weltkrieg Armeekommandant. 1922
wurde er in der georgischen Hauptstadt Tiflis von einem Armenier
wegen seiner Beteiligung an dem Volkermord erschossen. Wahrend seines
Besuches in Erivan traf sich Hasan Cemal, Enkel des Taters, mit dem
Enkel des Attentaters:
"Anfangs war ich etwas nervos. Armen Gevorgyan hatte zwei Fotos
mitgebracht, vergilbt mit eingerissenen Randern und mit einem Geruch
von Traurigkeit. Auf dem einen war das Haus zu sehen, in dem sein
Großvater vor 1915 gelebt hatte. Das andere zeigte einen bartigen
Turken, der zwei armenische Kinder, Verwandte von Gevorgyans Großvater,
vor Graueltaten und Vertreibung gerettet hatte, indem er sie zwei
Jahre versteckt und sie dann wieder unversehrt ihrer Familie ubergeben
hatte. Wir saßen uns gegenuber, tranken Tee und Kaffee und sprachen von
der Notwendigkeit eines Friedens. Wir tauschten Handynummern aus. Das
nachste Mal wird er mich anrufen, wenn er nach Istanbul kommt, ich
werde ihn dann zu Fisch und Raki am Bosporus einladen."
Hasan Cemal, Jahrgang 1944, ist ein Kind der Republik Kemal Ataturks.
Wie alle lernte er in der Schule viel uber die Errungenschaften der
modernen Turkei. Das untergegangene Osmanische Reich spielte so gut
wie keine Rolle. Auch dass in dem Gebiet der heutigen Turkei nicht nur
Turken, sondern auch Kurden, Griechen, Kaukasier und eben Armenier
lebten und noch leben war keine Rede wert. Erst recht nicht, dass
diesen Minderheiten angetane Unrecht. Cemal nennt diese Tabus auch
"Angst vor der Geschichte".
"Wer der Vergangenheit nicht mit Hass, sondern mit Mitgefuhl begegnet,
wird nicht nur die Geschichte von ihren Ketten, sondern auch sich
selbst befreien."
Cemal hat sich als Taterenkel wieder und wieder in den vergangenen
Jahren im Ausland der armenischen Diaspora gestellt. Ob in Salzburg
oder in Los Angeles, er horte sich die erschutternden Zeugnisse
der Opfernachkommen geduldig an, etliche von ihnen sind in dem Buch
versammelt. Es ist ein ehrliches Buch, besonders wenn es um Cemals
eigene Familiengeschichte geht. Storend ist nur, dass zu oft in
der ersten Person die Rede ist und Cemal viel aus eigenen Artikeln
zitiert. Dennoch: Fur die verbliebenen 20.000 Armenier in der Turkei
ist es ein Trost, dass es einflussreiche liberale Turken wie Hasan
Cemal gibt. 2015 werden die Armenier weltweit der einhundertsten
Wiederkehr der "großen Katastrophe" gedenken, wie sie den Volkermord
nennen. Ob es die Turkei bis dahin schafft, mit ihrer Vergangenheit
und mit Armenien Frieden zu schließen? Mutige Menschen wie Hasan
Cemal konnten dabei helfen.
Hasan Cemal: "1915. Ermeni Soykirimi (Der Volkermord an den
Armeniern)", Verlag Everest Yayinlari (Istanbul) 2012, 230 Seiten,
11,99 Euro
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/andruck/1920047/
Deutschlandfunk
12 nov 2012
Deutschland
Von Gunnar Kohne
Der Volkermord an den Armeniern war lange ein Tabu der Geschichte
in der Turkei. Mit diesem Tabu ist auch der Journalist Hasan Cemal
aufgewachsen. Seine personliche Auseinandersetzung mit dem Genozid,
sein Fragen und Verstehen, hat der Journalist in dem Buch "1915. Der
Volkermord an den Armeniern" zusammengefasst.
Auf dem Titelfoto ist der Autor zu sehen, wie er in der weiten
Halle der Volkermord-Gedenkstatte in Erivan weiße Nelken vor der
ewigen Flamme niederlegt. Hasan Cemal war vor funf Jahren im Tross
des turkischen Staatsprasidenten Gul in die armenische Hauptstadt
gekommen. Ein historischer Besuch anlasslich eines Fußball-Landerspiels
zwischen Armenien und der Turkei. Lange, so erinnert sich der
prominente Milliyet-Kolumnist, habe er mit sich gerungen, ob er das
Mahnmal besuchen solle:
"Ich fuhlte, dass ich damit auch eine Tabumauer in meinem Innersten
einreißen wurde. Aber ich erinnerte mich an die Worte von Hrant Dink,
der uns Turken zurief: 'Lasst uns zusammen kommen und endlich unserem
Schmerz gegenseitig Respekt erweisen'."
Cemals Freund und Journalistenkollege Hrant Dink war im Jahr zuvor
in Istanbul auf offener Straße erschossen worden - weil er Armenier
war, weil er fur die Versohnung zwischen Turken und Armeniern und
fur die historische Wahrheit gleichermaßen gestritten hatte. Ihm,
Hrant Dink, ist das Buch "Der Volkermord an den Armeniern" gewidmet,
sein gewaltsamer Tod, so bekennt Cemal im Eingangskapitel, war fur
ihn der letzte Anstoß, sich intensiv mit dem finstersten Kapitel der
Geschichte seines Landes auseinanderzusetzen. Von diesem schmerzhaften
Erkenntnisprozess - der die eigenen Familiengeschichte mit einschließt
- handelt das Buch. Es ist - anders als der Titel vermuten lasst
- keine Arbeit uber die Vertreibung und Ermordung von vermutlich
uber einer Million Armeniern wahrend des Ersten Weltkrieges durch
das siechende osmanische Regime. Uber die Planung und Durchfuhrung
dieses Genozids durch die turkische Armeefuhrung ist alles gesagt
und geschrieben - und selbst in der Turkei zweifeln mittlerweile
nur noch extrem nationalistische Kreise die historischen Fakten
an. Das ist wohl das Erstaunlichste an diesem Buch: dass es so gut
wie keine Kontroverse ausgelost hat. Es belegt einen Zeitenwechsel
in der Turkei. Noch vor wenigen Jahren wurde Cemal allein fur
die Unterstutzung einer Historikerkonferenz zu dem Thema wegen
"Verunglimpfung des Turkentums" angeklagt. Es waren meist tragische
Ereignisse, die ihn aufruttelten. So wurde ein enger Freund
wahrend seines Dienstes als turkischer Diplomat in den USA Anfang
der 70er-Jahre von der armenischen Untergrundorganisation ASALA
erschossen - als spate Vergeltung fur den Volkermord. Und an noch
etwas erinnert er sich: Warum uber seinen Großvater, Cemal Pascha,
in seinem Elternhaus so wenig gesprochen wurde, insbesondere uber die
Umstande seines Todes. Cemal Pascha war einer der nationalistischen
Jungturkenanfuhrer und im Ersten Weltkrieg Armeekommandant. 1922
wurde er in der georgischen Hauptstadt Tiflis von einem Armenier
wegen seiner Beteiligung an dem Volkermord erschossen. Wahrend seines
Besuches in Erivan traf sich Hasan Cemal, Enkel des Taters, mit dem
Enkel des Attentaters:
"Anfangs war ich etwas nervos. Armen Gevorgyan hatte zwei Fotos
mitgebracht, vergilbt mit eingerissenen Randern und mit einem Geruch
von Traurigkeit. Auf dem einen war das Haus zu sehen, in dem sein
Großvater vor 1915 gelebt hatte. Das andere zeigte einen bartigen
Turken, der zwei armenische Kinder, Verwandte von Gevorgyans Großvater,
vor Graueltaten und Vertreibung gerettet hatte, indem er sie zwei
Jahre versteckt und sie dann wieder unversehrt ihrer Familie ubergeben
hatte. Wir saßen uns gegenuber, tranken Tee und Kaffee und sprachen von
der Notwendigkeit eines Friedens. Wir tauschten Handynummern aus. Das
nachste Mal wird er mich anrufen, wenn er nach Istanbul kommt, ich
werde ihn dann zu Fisch und Raki am Bosporus einladen."
Hasan Cemal, Jahrgang 1944, ist ein Kind der Republik Kemal Ataturks.
Wie alle lernte er in der Schule viel uber die Errungenschaften der
modernen Turkei. Das untergegangene Osmanische Reich spielte so gut
wie keine Rolle. Auch dass in dem Gebiet der heutigen Turkei nicht nur
Turken, sondern auch Kurden, Griechen, Kaukasier und eben Armenier
lebten und noch leben war keine Rede wert. Erst recht nicht, dass
diesen Minderheiten angetane Unrecht. Cemal nennt diese Tabus auch
"Angst vor der Geschichte".
"Wer der Vergangenheit nicht mit Hass, sondern mit Mitgefuhl begegnet,
wird nicht nur die Geschichte von ihren Ketten, sondern auch sich
selbst befreien."
Cemal hat sich als Taterenkel wieder und wieder in den vergangenen
Jahren im Ausland der armenischen Diaspora gestellt. Ob in Salzburg
oder in Los Angeles, er horte sich die erschutternden Zeugnisse
der Opfernachkommen geduldig an, etliche von ihnen sind in dem Buch
versammelt. Es ist ein ehrliches Buch, besonders wenn es um Cemals
eigene Familiengeschichte geht. Storend ist nur, dass zu oft in
der ersten Person die Rede ist und Cemal viel aus eigenen Artikeln
zitiert. Dennoch: Fur die verbliebenen 20.000 Armenier in der Turkei
ist es ein Trost, dass es einflussreiche liberale Turken wie Hasan
Cemal gibt. 2015 werden die Armenier weltweit der einhundertsten
Wiederkehr der "großen Katastrophe" gedenken, wie sie den Volkermord
nennen. Ob es die Turkei bis dahin schafft, mit ihrer Vergangenheit
und mit Armenien Frieden zu schließen? Mutige Menschen wie Hasan
Cemal konnten dabei helfen.
Hasan Cemal: "1915. Ermeni Soykirimi (Der Volkermord an den
Armeniern)", Verlag Everest Yayinlari (Istanbul) 2012, 230 Seiten,
11,99 Euro
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/andruck/1920047/