THE TURKISH JOURNALIST HASAN CEMAL AND HIS COURAGEOUS BOOK ABOUT THE ARMENIAN GENOCIDE
Tagesspiegel
15 nov 2012
Deutschland
Tote und Tabu
00:00 Uhrvon Thomas Seibert
Gegen die Kraft der Luge: Der turkische Journalist Hasan Cemal und
sein mutiges Buch uber den Volkermord an den Armeniern.
Hasan Cemal hat das Ende eines langen, schmerzlichen Weges erreicht,
als er im Marz 2011 in Los Angeles am Rednerpult steht. Im Saal
sitzen viele Vertreter der armenischen Diaspora. Cemal, einer der
prominentesten Journalisten der Turkei, ringt mit sich. Soll er jetzt
~DVolkermord" sagen, ein Wort, das von der offiziellen Turkei bis
heute strikt abgelehnt wird?
Lange, viel zu lange hat Cemal selbst die offizielle Linie seines
Landes befolgt. Nun geht er sein Manuskript durch und fragt sich:
~DWarum ist meine Zunge so schwer? Habe ich immer noch Tabus, an die
ich nicht ruhren kann? Bin ich immer noch nicht frei? Ist das nicht
eine Schande, Hasan Cemal?" Deshalb beginnt er seine Rede vor den
Armeniern so: ~DIch kenne und verstehe Ihren Schmerz, ich bin hier,
um den Schmerz des Volkermordes mit Ihnen zu teilen.
Das ist die Schlusselszene von Cemals kurzlich in der Turkei
erschienenem Buch ~D1915: Armenischer Volkermord", in dem er sehr
personlich mit dem turkischen Umgang mit der Vergangenheit abrechnet.
Der 68-jahrige Kolumnist der Tageszeitung ~DMilliyet" ist der Enkel von
Cemal Pascha, einem Mitglied jener osmanischen Regierung, die 1915 den
Volkermord anordnete. Cemal Pascha wurde 1922 von Armeniern ermordet,
auch einer der engsten Freunde des jungen Cemal, der turkische Diplomat
Bahadir Demir, wurde 1973 von armenischen Extremisten erschossen.
Umso schwerer ist es fur ihn, dem ~DLeben mit der Luge" zu entfliehen.
Er wachst in einer Familie auf, in der die Rolle des Großvaters bei
den Massakern und der Volkermord so beschrieben werden, wie die Turkei
es bis heute tut. Die Armenier hatten sich im Ersten Weltkrieg mit den
Russen zusammengetan und gegen das Osmanische Reich gekampft, deshalb
hatten sie deportiert werden mussen. Dass dabei viele Menschen starben,
sei betrublich, aber allein den Kriegsbedingungen zuzuschreiben.
Selbst Mustafa Kemal Ataturk, der bis heute verehrte Vater der
modernen Turkei, steht fur diese Lesart. Aber Cemal berichtet von
einer schier unglaublichen Manipulation. In einer Rede vor dem ersten
nach-osmanischen Parlament im April 1920 habe Ataturk den Massenmord
an den Armeniern als ~Dschandliche Tat" bezeichnet, als ~Deine
Niedertracht". Dieser Satz sei spater aus den Parlamentsprotokollen
gestrichen worden: ~DSie zensieren sogar Ataturk!", schreibt Cemal.
Die Luge war machtig. Erst in den 80er Jahren wurde Cemal bewusst,
dass mit der offiziellen Darstellung der Ereignisse von 1915 etwas
nicht stimmt. In den Neunzigern liest er die Bucher von Taner Akcam,
einem nach Amerika emigrierten turkischen Volkermordexperten, der fur
turkische Nationalisten zur Hassfigur wurde. Doch obwohl dessen Thesen
ihn aufrutteln, erwahnt er die Bucher in seinen Zeitungskolumnen nicht,
wie er schreibt. Moglicherweise hatte er ~Dimmer noch das Tabu von
1915 im Kopf".
Cemal begegnet dem armenischstammigen Journalisten Hrant Dink. Dink
wird 2007 ermordet, ein Wendepunkt, auch fur Cemal. Ein Jahr nach
dessen Tod besucht er das Volkermord-Mahnmal in der armenischen
Hauptstadt Eriwan. Langsam distanziert er sich von der Geschichtsluge
- und stoßt auf weitere: Nicht nur die Massaker an den Armeniern
werden beschonigt oder verschwiegen, auch Pogrome gegen Kurden,
Griechen, Alewiten und Juden werden von der Geschichtsschreibung
unter den Teppich gekehrt. Die Turkei hat Angst, schreibt Cemal. ~DIn
unserem Staat regiert die Angst vor der Geschichte." Aus Archiven
werden Dokumente uber die dunklen Seiten der Vergangenheit entfernt,
Schulbucher prasentieren eine ~Dsaubere" Nation. Wer dem widerspricht,
der wird als Vaterlandsverrater beschimpft wie der Historiker Akcam,
vor Gericht gestellt wie Literaturnobelpreistrager Orhan Pamuk -
oder ermordet wie Hrant Dink.
Die Lugen verhindern eine demokratische Befreiung der turkischen
Gesellschaft, ist Cemal uberzeugt. Die Staatsideologen wussten,
~Ddass die Wahrheit die Menschen befreit" und wollten deshalb an den
Tabus festhalten. Auch heute noch ruhmen Regierungspolitiker die
Vertreibung der Griechen aus Kleinasien in den 1920er Jahren, und
das Bildungssystem nahrt nach wie vor einen ~Dblinden Nationalismus
und Rassismus".
Doch ganz so duster, wie Cemal es beschreibt, ist die Lage vielleicht
doch nicht. Noch vor wenigen Jahren hatte ein Buchladen mit Cemals
Titel in den Regalen einen Angriff militanter Nationalisten riskiert,
und Cemal ware wegen ~DBeleidigung des Turkentums" angezeigt worden.
Außer einigen wutenden Beitragen in Internetforen ist bisher
jedoch nichts geschehen. Cemals mutiges Buch taucht sogar in der
Bestsellerliste einer großen Buchladenkette auf. Vielleicht lasst
die Kraft der Luge ja tatsachlich nach.Thomas Seibert
http://www.tagesspiegel.de/kultur/tote-und-tabu/7395410.html
Tagesspiegel
15 nov 2012
Deutschland
Tote und Tabu
00:00 Uhrvon Thomas Seibert
Gegen die Kraft der Luge: Der turkische Journalist Hasan Cemal und
sein mutiges Buch uber den Volkermord an den Armeniern.
Hasan Cemal hat das Ende eines langen, schmerzlichen Weges erreicht,
als er im Marz 2011 in Los Angeles am Rednerpult steht. Im Saal
sitzen viele Vertreter der armenischen Diaspora. Cemal, einer der
prominentesten Journalisten der Turkei, ringt mit sich. Soll er jetzt
~DVolkermord" sagen, ein Wort, das von der offiziellen Turkei bis
heute strikt abgelehnt wird?
Lange, viel zu lange hat Cemal selbst die offizielle Linie seines
Landes befolgt. Nun geht er sein Manuskript durch und fragt sich:
~DWarum ist meine Zunge so schwer? Habe ich immer noch Tabus, an die
ich nicht ruhren kann? Bin ich immer noch nicht frei? Ist das nicht
eine Schande, Hasan Cemal?" Deshalb beginnt er seine Rede vor den
Armeniern so: ~DIch kenne und verstehe Ihren Schmerz, ich bin hier,
um den Schmerz des Volkermordes mit Ihnen zu teilen.
Das ist die Schlusselszene von Cemals kurzlich in der Turkei
erschienenem Buch ~D1915: Armenischer Volkermord", in dem er sehr
personlich mit dem turkischen Umgang mit der Vergangenheit abrechnet.
Der 68-jahrige Kolumnist der Tageszeitung ~DMilliyet" ist der Enkel von
Cemal Pascha, einem Mitglied jener osmanischen Regierung, die 1915 den
Volkermord anordnete. Cemal Pascha wurde 1922 von Armeniern ermordet,
auch einer der engsten Freunde des jungen Cemal, der turkische Diplomat
Bahadir Demir, wurde 1973 von armenischen Extremisten erschossen.
Umso schwerer ist es fur ihn, dem ~DLeben mit der Luge" zu entfliehen.
Er wachst in einer Familie auf, in der die Rolle des Großvaters bei
den Massakern und der Volkermord so beschrieben werden, wie die Turkei
es bis heute tut. Die Armenier hatten sich im Ersten Weltkrieg mit den
Russen zusammengetan und gegen das Osmanische Reich gekampft, deshalb
hatten sie deportiert werden mussen. Dass dabei viele Menschen starben,
sei betrublich, aber allein den Kriegsbedingungen zuzuschreiben.
Selbst Mustafa Kemal Ataturk, der bis heute verehrte Vater der
modernen Turkei, steht fur diese Lesart. Aber Cemal berichtet von
einer schier unglaublichen Manipulation. In einer Rede vor dem ersten
nach-osmanischen Parlament im April 1920 habe Ataturk den Massenmord
an den Armeniern als ~Dschandliche Tat" bezeichnet, als ~Deine
Niedertracht". Dieser Satz sei spater aus den Parlamentsprotokollen
gestrichen worden: ~DSie zensieren sogar Ataturk!", schreibt Cemal.
Die Luge war machtig. Erst in den 80er Jahren wurde Cemal bewusst,
dass mit der offiziellen Darstellung der Ereignisse von 1915 etwas
nicht stimmt. In den Neunzigern liest er die Bucher von Taner Akcam,
einem nach Amerika emigrierten turkischen Volkermordexperten, der fur
turkische Nationalisten zur Hassfigur wurde. Doch obwohl dessen Thesen
ihn aufrutteln, erwahnt er die Bucher in seinen Zeitungskolumnen nicht,
wie er schreibt. Moglicherweise hatte er ~Dimmer noch das Tabu von
1915 im Kopf".
Cemal begegnet dem armenischstammigen Journalisten Hrant Dink. Dink
wird 2007 ermordet, ein Wendepunkt, auch fur Cemal. Ein Jahr nach
dessen Tod besucht er das Volkermord-Mahnmal in der armenischen
Hauptstadt Eriwan. Langsam distanziert er sich von der Geschichtsluge
- und stoßt auf weitere: Nicht nur die Massaker an den Armeniern
werden beschonigt oder verschwiegen, auch Pogrome gegen Kurden,
Griechen, Alewiten und Juden werden von der Geschichtsschreibung
unter den Teppich gekehrt. Die Turkei hat Angst, schreibt Cemal. ~DIn
unserem Staat regiert die Angst vor der Geschichte." Aus Archiven
werden Dokumente uber die dunklen Seiten der Vergangenheit entfernt,
Schulbucher prasentieren eine ~Dsaubere" Nation. Wer dem widerspricht,
der wird als Vaterlandsverrater beschimpft wie der Historiker Akcam,
vor Gericht gestellt wie Literaturnobelpreistrager Orhan Pamuk -
oder ermordet wie Hrant Dink.
Die Lugen verhindern eine demokratische Befreiung der turkischen
Gesellschaft, ist Cemal uberzeugt. Die Staatsideologen wussten,
~Ddass die Wahrheit die Menschen befreit" und wollten deshalb an den
Tabus festhalten. Auch heute noch ruhmen Regierungspolitiker die
Vertreibung der Griechen aus Kleinasien in den 1920er Jahren, und
das Bildungssystem nahrt nach wie vor einen ~Dblinden Nationalismus
und Rassismus".
Doch ganz so duster, wie Cemal es beschreibt, ist die Lage vielleicht
doch nicht. Noch vor wenigen Jahren hatte ein Buchladen mit Cemals
Titel in den Regalen einen Angriff militanter Nationalisten riskiert,
und Cemal ware wegen ~DBeleidigung des Turkentums" angezeigt worden.
Außer einigen wutenden Beitragen in Internetforen ist bisher
jedoch nichts geschehen. Cemals mutiges Buch taucht sogar in der
Bestsellerliste einer großen Buchladenkette auf. Vielleicht lasst
die Kraft der Luge ja tatsachlich nach.Thomas Seibert
http://www.tagesspiegel.de/kultur/tote-und-tabu/7395410.html