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1. DER "ARABISCHE FRUEHLING" ALS HERAUSFORDERUNG FUER DIE CHRISTLICHEN MINDERHEITEN IM NAHEN OSTEN
http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/wp-content/uploads/2013/03/ADK158-Thomas-Scheffler-Der-%E2%80%9EArabische-Fr%C3%BChling%E2%80%9C-als-Herausforderung-f%C3%BCr-die-christlichen-Minderheiten-im-Nahen-Osten.pdf
VON THOMAS SCHEFFLER (1)
Die 2011 noch haeufig als "Arabischer Fruehling" begruessten
Massenerhebungen in der arabischen Welt stellen die christlichen
Minderheiten dieser Region vor Herausforderungen besonderer Art: Die
scheinbar einfache Entscheidung zwischen "Diktatur" und "Demokratie"
wird fuer sie durch die Furcht ueberlagert, die Demokratisierung des
Nahen Ostens koenne die Macht islamistischer Kraefte staerken und der
Versuch, die alten Diktaturen gewaltsam zu stuerzen, koenne
unkalkulierbare blutige Wirren heraufbeschwoeren, unter denen
religioese Minderheiten, ihrer zahlenmaessigen Schwaeche und
exponierten Stellung wegen, noch mehr leiden koennten als der Rest der
Gesellschaft.
Die massive, teilweise militaerische, Unterstuetzung westlicher und
prowestlicher Maechte fuer den Arabischen Fruehling war kaum geeignet,
solche Befuerchtungen zu beschwichtigen. Zu frisch ist die Erfahrung,
dass sich die Zahl der irakischen Christen in den zehn Jahren nach der
amerikanischen Invasion des Irak 2003 fast halbiert hat. Auch die
Erinnerung an das Schicksal der Armenier und Assyrer im Ersten
Weltkrieg beguenstigt Vermutungen, dass fuer die Aussenpolitik des
Westens im 21. Jahrhundert die "islamische Karte" aus geopolitischen
und weltwirtschaftlichen Gruenden wichtiger sein duerfte als die
Solidaritaet mit den relativ kleinen christlichen Gemeinschaften im
Nahen Osten.
Die Menschenrechtspolitik der Europaeischen Union haelt fuer solche
Befuerchtungen nur relativ schwachen Trost bereit: Die EU-Kommissarin
fuer humanitaere Hilfe und Krisenschutz, Kristalina Georgieva, wurde
im Dezember 2012 in der libanesischen Presse mit den Worten zitiert,
die Europaeische Union werde syrische Christen aufnehmen, die ihr Land
zu verlassen wuenschten, aber nicht, weil sie Christen seien, sondern
weil sie eine "Minderheit" darstellten - eine Erklaerung, die zu
signalisieren schien, dass die EU, erstens, den orientalischen
Christen eher beim Verlassen ihrer Heimat helfen werde als beim
Bleiben, und dass sie sich, zweitens, in ihrer Politik nicht den
christlichen Gemeinschaften verpflichtet sehe, sondern den Werten
einer individualistischen Menschenrechtsethik, die bestenfalls
Mitgliedern von "Minderheiten" eine besondere Schutzwuerdigkeit
zubillige, gleichgueltig worauf der jeweilige Minderheitenstatus
beruht. Die naive Erwartung, dass "westliche" bzw. "europaeische"
Interessen sich prinzipiell mit "christlichen" decken muessten, ist
durch die Ereignisse der letzten Jahre jedenfalls erneut in Frage
gestellt worden.
Kirchliche Wuerdentraeger im Nahen Osten haben sich zum "Arabischen
Fruehling" daher von Anfang an auffallend zurueckhaltend
geaeussert. Ihre Reaktionen schwankten zwischen beredtem Schweigen,
vorsichtiger Unterstuetzung der alten Regimes, offener Kritik an den
Aufstaendischen, Warnungen vor der islamistischen Gefahr und
allgemeinen Aufrufen zu Dialog, Gewaltverzicht und Versoehnung. Die
erdrutschartigen Wahlsiege islamistischer Parteien in Tunesien und
AEgypten sowie das Erstarken bewaffneter Islamisten in Libyen und im
syrischen Buergerkrieg scheinen ihre Befuerchtungen inzwischen
bestaetigt zu haben.
Auch wenn - einem Wort des chaldaeischen Bischofs von Aleppo, Antoine
Audo, vom Februar 2013 zufolge - die christlichen Gemeinschaften in
Syrien heute zwar gefaehrdet, aber nicht direkte Zielscheibe
politischer Gewalt seien, sehen sie sich heute, ebenso wie ihre
Glaubensbrueder in der ganzen Region, in einem tragischen
Entscheidungsdilemma: unterstuetzt man den "Fruehling" der
Demokratisierung, verhilft man Islamisten zur Macht; unterstuetzt man
autoritaere Regimes, ist man als Gegner des mutmasslichen
geschichtlichen "Fortschritts" diskreditiert. Eine von mehreren
Moeglichkeiten, in diesem Dilemma Handlungsfaehigkeit fuer Christen zu
bewahren, ist der Versuch, Buendnisse mit anderen Minderheiten der
Region zu suchen. So werden z. B. im Libanon die Buendnisse des
christlichen Generals Michel Aoun mit der schiitischen Hizballah und
dem alawitisch dominierten Baath-Regime in Damaskus bisweilen mit der
These gerechtfertigt, nur eine "Koalition der Minderheiten" im Nahen
Osten koenne die erwachende sunnitische Mehrheit der Region zaehmen.
Eine weitere Moeglichkeit besteht darin, im Interesse eines stabilen
Transformationsprozesses die Chancen fuer eine innere Reform der alten
autoritaeren Regimes offenzuhalten. So kritisierte z. B. der neue
Patriarch der maronitischen Kirche, Bishara Rahi, mehrfach die
Waffenlieferungen Saudi-Arabiens und Qatars an die syrischen
Aufstaendischen und erklaerte im Maerz 2012 in einem
Reuters-Interview, das syrische Regime sei diejenige Diktatur des
Nahen Ostens, die der Demokratie am naechsten stehe. Am 9. Februar
2013 nahm der Patriarch sogar in Anwesenheit hoher syrischer
Funktionaere in Damaskus an der feierlichen Inthronisation des neuen
Patriarchen der Griechisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien, Youhanna
X. Yazigi, teil. Dass Rahi trotz der bedrueckenden
Menschenrechtsbilanz der syrischen Regierung 2013 nach Syrien reiste,
signalisiert eine Wende in der Politik der maronitischen Kirche: Im
Mai 2001 hatte noch nicht einmal der Besuch Papst Johannes-Paul II. im
damals noch friedlichen Damaskus Rahis Vorgaenger, Patriarch Sfeir,
bewegen koennen, ebenfalls dort zu erscheinen. Dass Rahi seiner
Damaskus-Reise noch im gleichen Monat einen viertaegigen Moskau-Besuch
beim Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I., folgen
liess, zeigt die politischen Dimensionen seiner religioesen
Reisetaetigkeit: Russland ist neben China und Iran einer der letzten
Staaten, die offen die syrische Baath-Regierung
unterstuetzen. Aufgrund der vielen muslimischen Bevoelkerungsgruppen
in seinem Machtbereich und an seinen asiatischen Grenzen ist es
prinzipiell besorgt ueber die Staerkung islamistischer Bewegungen im
Gefolge des "Arabischen Fruehlings".
Rahis Versuch, das syrische Regime und seine internationalen Stuetzen
im Dialog zu halten, ist selbst unter libanesischen Christen
umstritten. Allerdings duerfte der Patriarch dabei kaum auf eigene
Faust, sondern mit Rueckendeckung des Vatikans gehandelt haben. Rom
hatte zuvor nichts unversucht gelassen, die Stellung des Patriarchen
unter den orientalischen Kirchenfuehrern zu staerken: Rahi, erst am
15. Maerz 2011 zum Oberhaupt der maronitischen Kirche von Antiochien
gewaehlt, hatte schon im September 2012 Papst Benedikt XVI. zu einem
Pastoralbesuch im Libanon empfangen duerfen. Am 24. November 2012
wurde er zum Kardinal der Katholischen Kirche ernannt, eine
Auszeichnung, auf die sein Vorgaenger, Mar Nasrallah Butrus Sfeir
(Patriarch 1986-2011, Kardinal seit 1994), seinerzeit acht Jahre lang
hatte warten muessen. Am 31. Januar 2013 wurde Rahi darueber hinaus
Mitglied mehrerer hochrangiger Kommissionen des Heiligen Stuhls: der
Kongregation fuer die Orientalischen Kirchen, des Obersten
Gerichtshofs der Apostolischen Signatur, des Paepstlichen Rats der
Seelsorge fuer die Migranten und Menschen unterwegs, sowie des
Paepstlichen Rats fuer sie sozialen Kommunikationsmittel. Zugleich
wurde er vom Papst beauftragt, mit zwei jungen Maroniten die
Meditationstexte fuer die vierzehn Stationen der diesjaehrigen Via
Crucis beim Kolosseum zu Rom auszuarbeiten.
In der diskreten Unterstuetzung des Vatikans fuer Rahis Politik
spiegelt sich nicht zuletzt die Sorge, dass die fortschreitende
Dezimierung der christlichen Kirchen in der Geburtsregion des
Christentums langfristig verheerende Folgen fuer die Einheit der
christlichen Kirche im Ganzen haben koenne. Ob und inwieweit sich im
Zuge einer Demokratisierung der arabischen Welt letztlich
"gemaessigte", dialogbereite Islamisten durchsetzen werden, muss sich
erst noch herausstellen. Gewiss ist es moeglich, dass islamistische
Regierungen mit Ruecksicht auf die internationale OEffentlichkeit oder
aus anderen taktischen Gruenden pragmatische Abstriche von ihren
Maximalzielen machen. Zu bedenken ist aber auch, dass in Laendern wie
AEgypten und Tunesien der soziale und wirtschaftliche Problemdruck
ebenso immens ist wie der Erwartungsdruck der Bevoelkerung auf die
neuen Regimes ?¬` Regimes, denen, im Gegensatz zur Tuerkei, der
reformfoerdernde Anreiz des Beitritts zur Europaeischen Union derzeit
nicht offen steht und die, im Gegensatz zu den arabischen
Golfmonarchien, ueber keine groesseren Erdoelrenten verfuegen, um
soziale Frustrationen im Innern durch staatliche Wohlfahrtsmassnahmen
auszugleichen. Unter solchen Bedingungen koennten selbst demokratisch
gewaehlte Islamisten versucht sein, politische Rivalitaeten auf dem
Ruecken nicht-muslimischer ?¬Å¡Suendenboecke?¬Ë`
auszutragen und den AErger enttaeuschter Waehler von sich selbst auf
?¬Å¡auslaendische?¬Ë` Maechte und
ethno-religioese Minderheiten abzulenken.
Trotz aller Bedenken duerfte freilich kein Weg an der Einsicht
vorbeifuehren, dass sich die Demokratisierung des arabischen Raums
zwar verzoegern, aber nicht dauerhaft aufhalten laesst und dass sich
die Existenz christlicher Gemeinschaften in der Region nur dann
nachhaltig sichern laesst, wenn sie gemeinsam mit ihren muslimischen
Nachbarn einen friedlichen Modus Vivendi entwickeln. Aber wie koennte
eine "minderheitenvertraegliche" Form der Demokratisierung der Region
aussehen? Wie schon die europaeische Geschichte des 20. Jahrhunderts
zeigt, ist die Einfuehrung formaldemokratischer politischer Strukturen
noch keine Garantie gegen den Aufstieg totalitaerer
Bewegungen. Benoetigt wird eher eine Art "Demokratie plus X", wobei
"X" hier zusaetzliche Faktoren bezeichnen soll, die eine Demokratie
auch minderheitenvertraeglich machen koennen. Solche Faktoren waeren
z. B. die Trennung von Religion und Politik, der Minderheitenschutz in
Form kultureller und/oder politischer Autonomie, die umfassende
Garantie der Menschenrechte sowie die Dezentralisierung von Staat und
Verwaltung.
Die historisch wichtigste Loesungsidee, naemlich die Trennung von
Staat und Religion (Saekularismus), ist im Nahen Osten freilich
vorerst durch deren jahrzehntelange Verbindung mit Militaerdiktaturen
diskreditiert. Es wird noch langwieriger Diskussionen beduerfen, bevor
die islamistischen Gewinner des "Arabischen Fruehlings" aus innerer
UEberzeugung der Trennung von Staat und Religion oder der voelligen
politischen Gleichstellung von "Glaeubigen" und "Unglaeubigen"
zustimmen. Und angesichts der sozialen Abhaengigkeit vieler arabischer
Buerger von religioesen Wohlfahrtsorganisationen duerfte es noch viel
laenger dauern, bis die Grundsaetze saekularistischer Politik auch von
den Waehlern angenommen werden. So lange duerften Angehoerige
diskriminierter Minderheiten oft nicht warten wollen. Fuer sie koennte
die Auswanderung eine kurzfristig einfachere Alternative darstellen,
um die Karrierechancen ihrer Kinder und die eigene physische
Sicherheit zu sichern.
Eine Alternative zur Saekularisierung des Staatswesens waere die
Ausdehnung des autonomen Gestaltungsspielraums religioeser
Gemeinschaften. So wurde z. B. am 19. Februar 2013 in einer Kommission
des libanesischen Parlaments der Entwurf eines neuen Wahlgesetzes
angenommen, das vorsieht, dass kuenftig christliche Abgeordnete nur
noch von christlichen Waehlern und muslimische Abgeordnete nur noch
von muslimischen Waehlern gewaehlt werden duerfen. De facto handelt es
sich hier um eine konfessionelle Aufspaltung der Waehlerschaft, die
entfernt an das osmanische Millet-System erinnert.
Die Gefahren einer solchen Regelung liegen auf der Hand: Auf allen
Seiten wuerden unter einem solchen System Vorkaempfer konfessioneller
Partikularinteressen siegen; die Christen wuerden sich politisch auf
sich selbst zurueckziehen und das Projekt eines saekularen,
multireligioesen Nationalstaats zugunsten einer kulturellen
Balkanisierung aufgeben, die sie entweder in langwierige
Verteilungskriege oder zurueck in den Dhimmi-Status fuehren wuerde. In
der Islamischen Republik Iran wird ein vergleichbares Wahlrecht
bereits seit 1979 praktiziert.
Zur Person: Dr. Thomas Scheffler ist der Stellvertretende Direktor des
Deutschen Orient Instituts in Beirut und koordiniert dort das
akademische Programm.
(1) Dies ist die ueberarbeitete und aktualisierte Fassung eines
Vortrages, den der Autor im September 2012 im Lepsiushaus Potsdam
gehalten hat.
2. GANZ EINFACH:"1915 - VOELKERMORD AN DEN ARMENIERN"
http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/wp-content/uploads/2013/03/ADK158-Hasan-Cemal_1915_V%C3%B6lkermord-an-den-Armeniern.pdf
VON RAFFI KANTIAN
Hasan Cemal ist einer der bekanntesten und prominentesten Journalisten
der Tuerkei. Nach dem Studium der Politikwissenschaften in Ankara
arbeitete er lange Jahre in verantwortlicher Position bei der
Tageszeitung Cumhuriyet, Flagschiff der Kemalisten, wechselte 1994 als
Kolumnist zur liberalen Milliyet. Er ist Autor mehrerer Buecher zur
politischen Rolle des Militaers und der Kurdischen Frage. Grosse
mediale Aufmerksamkeit erregte seine mehrteilige Reportage mit einem
hochrangigen PKK-Fuehrer.
Hasan Cemal ist aber auch der Enkel von Cemal Pascha, Mitglied des
jungtuerkischen Triumvirats bestehend als Talat, Enver und eben
Cemal. Alle drei wurden nach den Istanbuler Prozessen ab 1919 in
Abwesenheit zum Tode verurteilt. Cemal selbst wurde 1922 in Tiflis von
einem armenischen Kommando ermordet.
Beides zusammen, Hasan Cemal als bekannter Journalist und Enkel von
Cemal Pascha, bedingen seine Faszination, auch des vorliegenden
Buches.
Als ich das erste Mal die Titelseite sah, fiel mir spontan Folgendes
ein: "Der Enkel eines der Hauptverantwortlichen von 1915 bezeichnet
die damaligen Vorgaenge als Voelkermord, waehrend die heutigen
Machthaber einen Eiertanz um diesen Begriff machen."
Das allein weckt die Neugierde fuer dieses Buch und animiert zur
Lektuere. Gleich zu Beginn sei gesagt: Sie ist lohnend.
Zwei Mottos deuten an, wohin die Reise gehen soll: "Der Kampf des
Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedaechtnisses gegen das
Vergessen" (Milan Kundera) und "Falls Freiheit ueberhaupt etwas
bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen,
was sie nicht hoeren wollen" (George Orwell).
Wie jeder junge Mensch, der in der Tuerkei zur Schule geht
bzw. studiert, hat auch Hasan Cemal in all den Jahren nichts vom
Voelkermord gehoert, auch nach dem Studium der
Politikwissenschaften. In der Familie wurde nicht viel darueber
gesprochen, allenfalls in Andeutungen und eher verharmlosend im Sinne
der offiziellen Geschichte.
Anstoesse von aussen mussten her. Die Attentate gegen tuerkische
Diplomaten waren solche. UEbrigens: Sein Freund Bahadir Demir, damals
Konsul in Los Angeles, wurde von Gurgen (Karekin) Yanikiyan 1973
erschossen. Hasan Cemal trug seinen Sarg nach der UEberfuehrung in die
Tuerkei mit. Auch das ASALA-Attentat von Orly 1983 war ein solcher
Anstoss. Da war er bereits als Journalist taetig und kommentierte den
Vorfall ganz entlang der offiziellen Regierungslinie, wie er im Buch
anmerkt. Dass mit der offiziellen Geschichte etwas nicht stimmen
konnte, wurde nicht nur ihm klar. Informationen von aussen waren
gefragt. Diese konnten fuer jene, die im Geiste der offiziellen
Geschichte erzogen worden waren - eigentlich fuer alle im Lande -
durchaus schmerzlich sein. So berichtet Hasan Cemal von den
"Lektuereeindruecken" von Ali Bayramoglu. Dieser habe, als er des
Nachts ein Buch des armenisch-amerikanischen Historikers Vahakn
Dadrian las, es gegen die Wand geschleudert. So schwer verdaulich
waren fuer ihn die Fakten.
Hasan Cemals "Wegweiser" waren Taner Akcam und Hrant Dink, ganz
besonders nach seiner Ermordung im Januar 2007. Ihm ist auch das Buch
gewidmet: "Lieber Hrant, deine Schmerzen haben mich dieses Buch
schreiben lassen."
Seine eigentliche Hinwendung zum "armenischen Thema" setzt Anfang des
Jahrtausends an. Die ersten Schritte sind zaghaft. Er meint, dass
Historiker das Problem loesen werden, bis er Zweifel bekommt, ob
offizielle tuerkische Historiker dafuer ueberhaupt geeignet sind. Bald
formuliert er sehr deutlich. Da heisst es: "Wir wurden gezwungen, mit
der Luege zu leben"¦ Eine Elite aus Militaers und Zivilisten, die
sich mit der Republik gleichsetzte, hat die historischen Fakten
staendig verfaelscht, um ihre Herrschaft ueber das System, ihre
Privilegien zu perpetuieren." Trotz dieser Einsichten ist der Weg zum
"G-Wort" fuer Hasan Cemal ein schmerzvoller. Im Fruehjahr 2011 ist es
so weit - nach vielen Selbstzweifeln - im Alter von 67 Jahren: "Der
Makel des Vaterlandsverraeters"¦ Ich verteidige seit Jahren die
Demokratie, die Meinungsfreiheit. Soll ich einige meiner Gedanken fuer
mich behalten? Soll ich noch unantastbare Tabus haben??`
Zuvor besucht er im September 2008 das Genozidmahnmal in Jerewan, legt
Blumen nieder.
Der Leser wird fortwaehrend Zeuge seiner Entwicklung, die er als
"intellektuelle Reise" umschreibt. Das ist eine der Staerken dieses
Buches. Und indirekt wird auch der Grossvater Cemal Pascha
eingebunden, wird Objekt der Kritik, so z.B. wenn er feststellt:
"Richtig ist es, die Diktatur der Jungtuerken und ihr Verbrechen gegen
die Menschlichkeit in 1916 zu verurteilen, sich bei den Armeniern zu
entschuldigen."
Hasan Cemals Reise setzt im reifen Alter ein und zieht sich ueber
mehrere Jahre hin - kein Wunder in einem Staat, dessen Fuehrung, trotz
der Fortschritte in Teilen der Zivilgesellschaft, eisern an der
offiziellen Geschichte festhaelt.
An wen richtet sich Hasan Cemals Buch? Diese Frage ist legitim und
kann mit einigen moeglichen Antworten versehen werden. Da ist zum
einen das heimische tuerkische Publikum, das ihn als bedeutenden
Journalisten mit einem landesweit bekannten Grossvater schaetzt und
bewundert. Sein Beispiel kann fuer jene, die sich noch nicht trauen,
ein Vorbild sein, ihm gleichzutun. Denkbar ist auch das armenische
Publikum, besonders in der Diaspora. Ein moeglicher Fingerzeig
hierfuer ist, dass Hasan Cemal sein Buch erstmalig in Deutschland (in
Berlin und Koeln), Sitz der zweitgroessten armenischen Diaspora in
Westeuropa, vorstellte, nicht daheim. UEberhaupt scheinen die Armenier
fuer ihn wichtig zu sein. Die ostarmenische Version des Buches sei in
Arbeit, auch eine westarmenische. Die Tuerkei wandelt sich, diesen
Satz hat Hasan Cemal in Berlin und in Koeln mehrfach wiederholt. Mal
schauen, ob und wann der Staat Teil dieses Wandels wird.
Hasan Cemal: 1915 - Ermeni Soykirimi (1915 - Voelkermord an den
Armeniern)
- 230 S., Istanbul (Everest Yayinlari) 2012. ISBN:
978-605-141-513-0. Preis: 18 TL (ca. 8 EUR)
From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress
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1. DER "ARABISCHE FRUEHLING" ALS HERAUSFORDERUNG FUER DIE CHRISTLICHEN MINDERHEITEN IM NAHEN OSTEN
http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/wp-content/uploads/2013/03/ADK158-Thomas-Scheffler-Der-%E2%80%9EArabische-Fr%C3%BChling%E2%80%9C-als-Herausforderung-f%C3%BCr-die-christlichen-Minderheiten-im-Nahen-Osten.pdf
VON THOMAS SCHEFFLER (1)
Die 2011 noch haeufig als "Arabischer Fruehling" begruessten
Massenerhebungen in der arabischen Welt stellen die christlichen
Minderheiten dieser Region vor Herausforderungen besonderer Art: Die
scheinbar einfache Entscheidung zwischen "Diktatur" und "Demokratie"
wird fuer sie durch die Furcht ueberlagert, die Demokratisierung des
Nahen Ostens koenne die Macht islamistischer Kraefte staerken und der
Versuch, die alten Diktaturen gewaltsam zu stuerzen, koenne
unkalkulierbare blutige Wirren heraufbeschwoeren, unter denen
religioese Minderheiten, ihrer zahlenmaessigen Schwaeche und
exponierten Stellung wegen, noch mehr leiden koennten als der Rest der
Gesellschaft.
Die massive, teilweise militaerische, Unterstuetzung westlicher und
prowestlicher Maechte fuer den Arabischen Fruehling war kaum geeignet,
solche Befuerchtungen zu beschwichtigen. Zu frisch ist die Erfahrung,
dass sich die Zahl der irakischen Christen in den zehn Jahren nach der
amerikanischen Invasion des Irak 2003 fast halbiert hat. Auch die
Erinnerung an das Schicksal der Armenier und Assyrer im Ersten
Weltkrieg beguenstigt Vermutungen, dass fuer die Aussenpolitik des
Westens im 21. Jahrhundert die "islamische Karte" aus geopolitischen
und weltwirtschaftlichen Gruenden wichtiger sein duerfte als die
Solidaritaet mit den relativ kleinen christlichen Gemeinschaften im
Nahen Osten.
Die Menschenrechtspolitik der Europaeischen Union haelt fuer solche
Befuerchtungen nur relativ schwachen Trost bereit: Die EU-Kommissarin
fuer humanitaere Hilfe und Krisenschutz, Kristalina Georgieva, wurde
im Dezember 2012 in der libanesischen Presse mit den Worten zitiert,
die Europaeische Union werde syrische Christen aufnehmen, die ihr Land
zu verlassen wuenschten, aber nicht, weil sie Christen seien, sondern
weil sie eine "Minderheit" darstellten - eine Erklaerung, die zu
signalisieren schien, dass die EU, erstens, den orientalischen
Christen eher beim Verlassen ihrer Heimat helfen werde als beim
Bleiben, und dass sie sich, zweitens, in ihrer Politik nicht den
christlichen Gemeinschaften verpflichtet sehe, sondern den Werten
einer individualistischen Menschenrechtsethik, die bestenfalls
Mitgliedern von "Minderheiten" eine besondere Schutzwuerdigkeit
zubillige, gleichgueltig worauf der jeweilige Minderheitenstatus
beruht. Die naive Erwartung, dass "westliche" bzw. "europaeische"
Interessen sich prinzipiell mit "christlichen" decken muessten, ist
durch die Ereignisse der letzten Jahre jedenfalls erneut in Frage
gestellt worden.
Kirchliche Wuerdentraeger im Nahen Osten haben sich zum "Arabischen
Fruehling" daher von Anfang an auffallend zurueckhaltend
geaeussert. Ihre Reaktionen schwankten zwischen beredtem Schweigen,
vorsichtiger Unterstuetzung der alten Regimes, offener Kritik an den
Aufstaendischen, Warnungen vor der islamistischen Gefahr und
allgemeinen Aufrufen zu Dialog, Gewaltverzicht und Versoehnung. Die
erdrutschartigen Wahlsiege islamistischer Parteien in Tunesien und
AEgypten sowie das Erstarken bewaffneter Islamisten in Libyen und im
syrischen Buergerkrieg scheinen ihre Befuerchtungen inzwischen
bestaetigt zu haben.
Auch wenn - einem Wort des chaldaeischen Bischofs von Aleppo, Antoine
Audo, vom Februar 2013 zufolge - die christlichen Gemeinschaften in
Syrien heute zwar gefaehrdet, aber nicht direkte Zielscheibe
politischer Gewalt seien, sehen sie sich heute, ebenso wie ihre
Glaubensbrueder in der ganzen Region, in einem tragischen
Entscheidungsdilemma: unterstuetzt man den "Fruehling" der
Demokratisierung, verhilft man Islamisten zur Macht; unterstuetzt man
autoritaere Regimes, ist man als Gegner des mutmasslichen
geschichtlichen "Fortschritts" diskreditiert. Eine von mehreren
Moeglichkeiten, in diesem Dilemma Handlungsfaehigkeit fuer Christen zu
bewahren, ist der Versuch, Buendnisse mit anderen Minderheiten der
Region zu suchen. So werden z. B. im Libanon die Buendnisse des
christlichen Generals Michel Aoun mit der schiitischen Hizballah und
dem alawitisch dominierten Baath-Regime in Damaskus bisweilen mit der
These gerechtfertigt, nur eine "Koalition der Minderheiten" im Nahen
Osten koenne die erwachende sunnitische Mehrheit der Region zaehmen.
Eine weitere Moeglichkeit besteht darin, im Interesse eines stabilen
Transformationsprozesses die Chancen fuer eine innere Reform der alten
autoritaeren Regimes offenzuhalten. So kritisierte z. B. der neue
Patriarch der maronitischen Kirche, Bishara Rahi, mehrfach die
Waffenlieferungen Saudi-Arabiens und Qatars an die syrischen
Aufstaendischen und erklaerte im Maerz 2012 in einem
Reuters-Interview, das syrische Regime sei diejenige Diktatur des
Nahen Ostens, die der Demokratie am naechsten stehe. Am 9. Februar
2013 nahm der Patriarch sogar in Anwesenheit hoher syrischer
Funktionaere in Damaskus an der feierlichen Inthronisation des neuen
Patriarchen der Griechisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien, Youhanna
X. Yazigi, teil. Dass Rahi trotz der bedrueckenden
Menschenrechtsbilanz der syrischen Regierung 2013 nach Syrien reiste,
signalisiert eine Wende in der Politik der maronitischen Kirche: Im
Mai 2001 hatte noch nicht einmal der Besuch Papst Johannes-Paul II. im
damals noch friedlichen Damaskus Rahis Vorgaenger, Patriarch Sfeir,
bewegen koennen, ebenfalls dort zu erscheinen. Dass Rahi seiner
Damaskus-Reise noch im gleichen Monat einen viertaegigen Moskau-Besuch
beim Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I., folgen
liess, zeigt die politischen Dimensionen seiner religioesen
Reisetaetigkeit: Russland ist neben China und Iran einer der letzten
Staaten, die offen die syrische Baath-Regierung
unterstuetzen. Aufgrund der vielen muslimischen Bevoelkerungsgruppen
in seinem Machtbereich und an seinen asiatischen Grenzen ist es
prinzipiell besorgt ueber die Staerkung islamistischer Bewegungen im
Gefolge des "Arabischen Fruehlings".
Rahis Versuch, das syrische Regime und seine internationalen Stuetzen
im Dialog zu halten, ist selbst unter libanesischen Christen
umstritten. Allerdings duerfte der Patriarch dabei kaum auf eigene
Faust, sondern mit Rueckendeckung des Vatikans gehandelt haben. Rom
hatte zuvor nichts unversucht gelassen, die Stellung des Patriarchen
unter den orientalischen Kirchenfuehrern zu staerken: Rahi, erst am
15. Maerz 2011 zum Oberhaupt der maronitischen Kirche von Antiochien
gewaehlt, hatte schon im September 2012 Papst Benedikt XVI. zu einem
Pastoralbesuch im Libanon empfangen duerfen. Am 24. November 2012
wurde er zum Kardinal der Katholischen Kirche ernannt, eine
Auszeichnung, auf die sein Vorgaenger, Mar Nasrallah Butrus Sfeir
(Patriarch 1986-2011, Kardinal seit 1994), seinerzeit acht Jahre lang
hatte warten muessen. Am 31. Januar 2013 wurde Rahi darueber hinaus
Mitglied mehrerer hochrangiger Kommissionen des Heiligen Stuhls: der
Kongregation fuer die Orientalischen Kirchen, des Obersten
Gerichtshofs der Apostolischen Signatur, des Paepstlichen Rats der
Seelsorge fuer die Migranten und Menschen unterwegs, sowie des
Paepstlichen Rats fuer sie sozialen Kommunikationsmittel. Zugleich
wurde er vom Papst beauftragt, mit zwei jungen Maroniten die
Meditationstexte fuer die vierzehn Stationen der diesjaehrigen Via
Crucis beim Kolosseum zu Rom auszuarbeiten.
In der diskreten Unterstuetzung des Vatikans fuer Rahis Politik
spiegelt sich nicht zuletzt die Sorge, dass die fortschreitende
Dezimierung der christlichen Kirchen in der Geburtsregion des
Christentums langfristig verheerende Folgen fuer die Einheit der
christlichen Kirche im Ganzen haben koenne. Ob und inwieweit sich im
Zuge einer Demokratisierung der arabischen Welt letztlich
"gemaessigte", dialogbereite Islamisten durchsetzen werden, muss sich
erst noch herausstellen. Gewiss ist es moeglich, dass islamistische
Regierungen mit Ruecksicht auf die internationale OEffentlichkeit oder
aus anderen taktischen Gruenden pragmatische Abstriche von ihren
Maximalzielen machen. Zu bedenken ist aber auch, dass in Laendern wie
AEgypten und Tunesien der soziale und wirtschaftliche Problemdruck
ebenso immens ist wie der Erwartungsdruck der Bevoelkerung auf die
neuen Regimes ?¬` Regimes, denen, im Gegensatz zur Tuerkei, der
reformfoerdernde Anreiz des Beitritts zur Europaeischen Union derzeit
nicht offen steht und die, im Gegensatz zu den arabischen
Golfmonarchien, ueber keine groesseren Erdoelrenten verfuegen, um
soziale Frustrationen im Innern durch staatliche Wohlfahrtsmassnahmen
auszugleichen. Unter solchen Bedingungen koennten selbst demokratisch
gewaehlte Islamisten versucht sein, politische Rivalitaeten auf dem
Ruecken nicht-muslimischer ?¬Å¡Suendenboecke?¬Ë`
auszutragen und den AErger enttaeuschter Waehler von sich selbst auf
?¬Å¡auslaendische?¬Ë` Maechte und
ethno-religioese Minderheiten abzulenken.
Trotz aller Bedenken duerfte freilich kein Weg an der Einsicht
vorbeifuehren, dass sich die Demokratisierung des arabischen Raums
zwar verzoegern, aber nicht dauerhaft aufhalten laesst und dass sich
die Existenz christlicher Gemeinschaften in der Region nur dann
nachhaltig sichern laesst, wenn sie gemeinsam mit ihren muslimischen
Nachbarn einen friedlichen Modus Vivendi entwickeln. Aber wie koennte
eine "minderheitenvertraegliche" Form der Demokratisierung der Region
aussehen? Wie schon die europaeische Geschichte des 20. Jahrhunderts
zeigt, ist die Einfuehrung formaldemokratischer politischer Strukturen
noch keine Garantie gegen den Aufstieg totalitaerer
Bewegungen. Benoetigt wird eher eine Art "Demokratie plus X", wobei
"X" hier zusaetzliche Faktoren bezeichnen soll, die eine Demokratie
auch minderheitenvertraeglich machen koennen. Solche Faktoren waeren
z. B. die Trennung von Religion und Politik, der Minderheitenschutz in
Form kultureller und/oder politischer Autonomie, die umfassende
Garantie der Menschenrechte sowie die Dezentralisierung von Staat und
Verwaltung.
Die historisch wichtigste Loesungsidee, naemlich die Trennung von
Staat und Religion (Saekularismus), ist im Nahen Osten freilich
vorerst durch deren jahrzehntelange Verbindung mit Militaerdiktaturen
diskreditiert. Es wird noch langwieriger Diskussionen beduerfen, bevor
die islamistischen Gewinner des "Arabischen Fruehlings" aus innerer
UEberzeugung der Trennung von Staat und Religion oder der voelligen
politischen Gleichstellung von "Glaeubigen" und "Unglaeubigen"
zustimmen. Und angesichts der sozialen Abhaengigkeit vieler arabischer
Buerger von religioesen Wohlfahrtsorganisationen duerfte es noch viel
laenger dauern, bis die Grundsaetze saekularistischer Politik auch von
den Waehlern angenommen werden. So lange duerften Angehoerige
diskriminierter Minderheiten oft nicht warten wollen. Fuer sie koennte
die Auswanderung eine kurzfristig einfachere Alternative darstellen,
um die Karrierechancen ihrer Kinder und die eigene physische
Sicherheit zu sichern.
Eine Alternative zur Saekularisierung des Staatswesens waere die
Ausdehnung des autonomen Gestaltungsspielraums religioeser
Gemeinschaften. So wurde z. B. am 19. Februar 2013 in einer Kommission
des libanesischen Parlaments der Entwurf eines neuen Wahlgesetzes
angenommen, das vorsieht, dass kuenftig christliche Abgeordnete nur
noch von christlichen Waehlern und muslimische Abgeordnete nur noch
von muslimischen Waehlern gewaehlt werden duerfen. De facto handelt es
sich hier um eine konfessionelle Aufspaltung der Waehlerschaft, die
entfernt an das osmanische Millet-System erinnert.
Die Gefahren einer solchen Regelung liegen auf der Hand: Auf allen
Seiten wuerden unter einem solchen System Vorkaempfer konfessioneller
Partikularinteressen siegen; die Christen wuerden sich politisch auf
sich selbst zurueckziehen und das Projekt eines saekularen,
multireligioesen Nationalstaats zugunsten einer kulturellen
Balkanisierung aufgeben, die sie entweder in langwierige
Verteilungskriege oder zurueck in den Dhimmi-Status fuehren wuerde. In
der Islamischen Republik Iran wird ein vergleichbares Wahlrecht
bereits seit 1979 praktiziert.
Zur Person: Dr. Thomas Scheffler ist der Stellvertretende Direktor des
Deutschen Orient Instituts in Beirut und koordiniert dort das
akademische Programm.
(1) Dies ist die ueberarbeitete und aktualisierte Fassung eines
Vortrages, den der Autor im September 2012 im Lepsiushaus Potsdam
gehalten hat.
2. GANZ EINFACH:"1915 - VOELKERMORD AN DEN ARMENIERN"
http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/wp-content/uploads/2013/03/ADK158-Hasan-Cemal_1915_V%C3%B6lkermord-an-den-Armeniern.pdf
VON RAFFI KANTIAN
Hasan Cemal ist einer der bekanntesten und prominentesten Journalisten
der Tuerkei. Nach dem Studium der Politikwissenschaften in Ankara
arbeitete er lange Jahre in verantwortlicher Position bei der
Tageszeitung Cumhuriyet, Flagschiff der Kemalisten, wechselte 1994 als
Kolumnist zur liberalen Milliyet. Er ist Autor mehrerer Buecher zur
politischen Rolle des Militaers und der Kurdischen Frage. Grosse
mediale Aufmerksamkeit erregte seine mehrteilige Reportage mit einem
hochrangigen PKK-Fuehrer.
Hasan Cemal ist aber auch der Enkel von Cemal Pascha, Mitglied des
jungtuerkischen Triumvirats bestehend als Talat, Enver und eben
Cemal. Alle drei wurden nach den Istanbuler Prozessen ab 1919 in
Abwesenheit zum Tode verurteilt. Cemal selbst wurde 1922 in Tiflis von
einem armenischen Kommando ermordet.
Beides zusammen, Hasan Cemal als bekannter Journalist und Enkel von
Cemal Pascha, bedingen seine Faszination, auch des vorliegenden
Buches.
Als ich das erste Mal die Titelseite sah, fiel mir spontan Folgendes
ein: "Der Enkel eines der Hauptverantwortlichen von 1915 bezeichnet
die damaligen Vorgaenge als Voelkermord, waehrend die heutigen
Machthaber einen Eiertanz um diesen Begriff machen."
Das allein weckt die Neugierde fuer dieses Buch und animiert zur
Lektuere. Gleich zu Beginn sei gesagt: Sie ist lohnend.
Zwei Mottos deuten an, wohin die Reise gehen soll: "Der Kampf des
Menschen gegen die Macht ist der Kampf des Gedaechtnisses gegen das
Vergessen" (Milan Kundera) und "Falls Freiheit ueberhaupt etwas
bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen,
was sie nicht hoeren wollen" (George Orwell).
Wie jeder junge Mensch, der in der Tuerkei zur Schule geht
bzw. studiert, hat auch Hasan Cemal in all den Jahren nichts vom
Voelkermord gehoert, auch nach dem Studium der
Politikwissenschaften. In der Familie wurde nicht viel darueber
gesprochen, allenfalls in Andeutungen und eher verharmlosend im Sinne
der offiziellen Geschichte.
Anstoesse von aussen mussten her. Die Attentate gegen tuerkische
Diplomaten waren solche. UEbrigens: Sein Freund Bahadir Demir, damals
Konsul in Los Angeles, wurde von Gurgen (Karekin) Yanikiyan 1973
erschossen. Hasan Cemal trug seinen Sarg nach der UEberfuehrung in die
Tuerkei mit. Auch das ASALA-Attentat von Orly 1983 war ein solcher
Anstoss. Da war er bereits als Journalist taetig und kommentierte den
Vorfall ganz entlang der offiziellen Regierungslinie, wie er im Buch
anmerkt. Dass mit der offiziellen Geschichte etwas nicht stimmen
konnte, wurde nicht nur ihm klar. Informationen von aussen waren
gefragt. Diese konnten fuer jene, die im Geiste der offiziellen
Geschichte erzogen worden waren - eigentlich fuer alle im Lande -
durchaus schmerzlich sein. So berichtet Hasan Cemal von den
"Lektuereeindruecken" von Ali Bayramoglu. Dieser habe, als er des
Nachts ein Buch des armenisch-amerikanischen Historikers Vahakn
Dadrian las, es gegen die Wand geschleudert. So schwer verdaulich
waren fuer ihn die Fakten.
Hasan Cemals "Wegweiser" waren Taner Akcam und Hrant Dink, ganz
besonders nach seiner Ermordung im Januar 2007. Ihm ist auch das Buch
gewidmet: "Lieber Hrant, deine Schmerzen haben mich dieses Buch
schreiben lassen."
Seine eigentliche Hinwendung zum "armenischen Thema" setzt Anfang des
Jahrtausends an. Die ersten Schritte sind zaghaft. Er meint, dass
Historiker das Problem loesen werden, bis er Zweifel bekommt, ob
offizielle tuerkische Historiker dafuer ueberhaupt geeignet sind. Bald
formuliert er sehr deutlich. Da heisst es: "Wir wurden gezwungen, mit
der Luege zu leben"¦ Eine Elite aus Militaers und Zivilisten, die
sich mit der Republik gleichsetzte, hat die historischen Fakten
staendig verfaelscht, um ihre Herrschaft ueber das System, ihre
Privilegien zu perpetuieren." Trotz dieser Einsichten ist der Weg zum
"G-Wort" fuer Hasan Cemal ein schmerzvoller. Im Fruehjahr 2011 ist es
so weit - nach vielen Selbstzweifeln - im Alter von 67 Jahren: "Der
Makel des Vaterlandsverraeters"¦ Ich verteidige seit Jahren die
Demokratie, die Meinungsfreiheit. Soll ich einige meiner Gedanken fuer
mich behalten? Soll ich noch unantastbare Tabus haben??`
Zuvor besucht er im September 2008 das Genozidmahnmal in Jerewan, legt
Blumen nieder.
Der Leser wird fortwaehrend Zeuge seiner Entwicklung, die er als
"intellektuelle Reise" umschreibt. Das ist eine der Staerken dieses
Buches. Und indirekt wird auch der Grossvater Cemal Pascha
eingebunden, wird Objekt der Kritik, so z.B. wenn er feststellt:
"Richtig ist es, die Diktatur der Jungtuerken und ihr Verbrechen gegen
die Menschlichkeit in 1916 zu verurteilen, sich bei den Armeniern zu
entschuldigen."
Hasan Cemals Reise setzt im reifen Alter ein und zieht sich ueber
mehrere Jahre hin - kein Wunder in einem Staat, dessen Fuehrung, trotz
der Fortschritte in Teilen der Zivilgesellschaft, eisern an der
offiziellen Geschichte festhaelt.
An wen richtet sich Hasan Cemals Buch? Diese Frage ist legitim und
kann mit einigen moeglichen Antworten versehen werden. Da ist zum
einen das heimische tuerkische Publikum, das ihn als bedeutenden
Journalisten mit einem landesweit bekannten Grossvater schaetzt und
bewundert. Sein Beispiel kann fuer jene, die sich noch nicht trauen,
ein Vorbild sein, ihm gleichzutun. Denkbar ist auch das armenische
Publikum, besonders in der Diaspora. Ein moeglicher Fingerzeig
hierfuer ist, dass Hasan Cemal sein Buch erstmalig in Deutschland (in
Berlin und Koeln), Sitz der zweitgroessten armenischen Diaspora in
Westeuropa, vorstellte, nicht daheim. UEberhaupt scheinen die Armenier
fuer ihn wichtig zu sein. Die ostarmenische Version des Buches sei in
Arbeit, auch eine westarmenische. Die Tuerkei wandelt sich, diesen
Satz hat Hasan Cemal in Berlin und in Koeln mehrfach wiederholt. Mal
schauen, ob und wann der Staat Teil dieses Wandels wird.
Hasan Cemal: 1915 - Ermeni Soykirimi (1915 - Voelkermord an den
Armeniern)
- 230 S., Istanbul (Everest Yayinlari) 2012. ISBN:
978-605-141-513-0. Preis: 18 TL (ca. 8 EUR)
From: Emil Lazarian | Ararat NewsPress