THE HIDDEN ARMENIANS OF DIYARBEKIR [IN GERMAN]
ZEIT ONLINE, Deutschland
9 August 2013
Die fehlenden Armenier von Diyarbakir
Die Glocken der christlichen Kirche in Diyarbakir läuten seit Kurzem
wieder. Die Stadt im Sudosten Anatoliens versucht die Versöhnung
mit den Armeniern. Von Mely Kiyak
Mein vorerst letzter Text, den ich aus Diyarbakir im Sudosten
Anatoliens sende, soll der vielleicht gröÃ~_ten Wunde der Stadt
gelten.
Die Geschichte Diyarbakirs ist die einer Amputation. So wie ein Mensch
Arme und Beine hat, so selbstverständlich waren die Christen Teil der
Stadt. Diyarbakir verlor sein politisches Gleichgewicht nicht erst mit
dem Krieg gegen die Kurden ab 1980, auch nicht mit der Auslöschung
der Armenier 1915, sondern bereits am 2. November 1895.
Der französische Konsul von Diyarbakir beschrieb in einem Brief
an seinen Botschafter, was in jener Nacht geschah: Ein drei Tage
andauerndes Blutbad, das der Sultan des Osmanischen Reichs, Abdulhamid
II., befohlen hatte, das "Hamidische Massaker". "Hawar! Hawar! -
Hilfe! Hilfe schrie die christliche Bevölkerung auf Kurdisch. Die
Stadt wird mit Feuer und Schwert verwustet", schreibt der Konsul.
Seine Bilanz: "30.000 Tote und Vermisste, 119 in Schutt und Asche
gelegte Dörfer".
Da man im Osmanischen Reich statistikvernarrt war, sind die Toten
nach Religionszugehörigkeit und Ethnie erfasst. Dabei wurde penibel
zwischen Protestanten, Katholiken, Chaldäern, Griechen und anderen
christlichen Bevölkerungsgruppen unterschieden. In Diyarbakir starben
während dieses groÃ~_en Brandes mehr als 1.000 Armenier. Tausende
Läden und Privathäuser von Christen wurden geplundert.
Diese Nacht war, so lerne ich vom Schriftsteller und Diyarbakirer
Stadtforscher Å~^eyhmus Diken, die Generalprobe fur das, was 1915
geschah. Seit diesem ersten Gespräch mit Diken habe ich erneut
angefangen, uber die Auslöschung der armenischen Turken zu forschen.
Aber anders als bisher. In nahezu jeder turkischen Stadt suche ich
nach Spuren, weil ich das groÃ~_e Unfassbare nur im kleinen Konkreten
begreifen kann. Vor Ort. Wo lebten diese Menschen? Was arbeiteten sie?
Erst auf dieser Reise begreife ich, dass der Begriff "Völkermord an
den Armeniern" nicht korrekt ist. Von der Katastrophe waren nicht nur
Armenier betroffen, sondern auch Aramäer und Chaldäer. Uberhaupt
sollte man, da sich 2015 der Völkermord zum 100. Mal jährt, damit
beginnen, genauer zu werden. Viele turkisch, kurdisch und armenisch
sprechenden Autorenkollegen aus der Turkei haben zum Thema der
religiösen Minderheiten hervorragende Bucher geschrieben und ich
frage mich, wie es sein kann, dass es in keinem einzigen deutschen
Verlag eine Ubersetzung dieser Werke gibt.
Ich habe meine Bibliothek zu dem Thema nicht in Istanbul erweitert,
sondern in den Buchhandlungen kleiner, linker Kooperativen und
Kirchenbuchhandlungen im Osten der Turkei. Auf politischer Ebene
ist das Thema brisant und bleibt weitgehend unangetastet. Die
Kulturschaffenden vor Ort aber lassen sich nicht einschuchtern. Es
gibt eine Vielzahl an Buchern, die das Leben der Armenier in vielen
Facetten beleuchten.
Viele Menschen in Diyarbakir begreifen langsam, dass ihrer Stadt die
ursprunglichen Einwohner fehlen. Schaut man sich die alten Postkarten
an, die Kapuzinermönche und Franziskaner von Diyarbakir anfertigten,
dann sieht man die hohen Kirchturme der Surp Giragos und Surp Sarkis
Kirche, die Kuppel der kleinen aramäischen Kirche Meryem, Klöster -
ein Panorama der verschiedenen Kulturen.
Die Glocken der Kirchen läuten parallel zum Gesang des Muezzin
Ich stehe in der prächtig restaurierten Surp Giragos Kirche und
schwatze mit dem armenischen Kapici, der die Pforte der Kirche
bewacht. Er erzählt, dass er mit einer Sunnitin verheiratet ist,
die ihm morgens das Fruhstuck zubereitet, während sie wegen des
Ramadan fastet. Als ich empört tue und ihn einen herzlosen Mann
nenne, der vor den Augen seiner hungrigen Frau schlemmt, lacht er
sich kaputt. Alles ganz easy.
1916 schlug man der Kirche den Turm ab, damit sie nicht mehr das
höchste Gebäude der Stadt ist. Ich freue mich, dass seit zwei
Monaten die Glocken wieder täglich läuten, wie ubrigens uberall
in der Turkei die Glocken der christlichen Gotteshäuser läuten,
manchmal parallel zum Gesang des Muezzin. Und bin dann doch traurig,
weil die einst gröÃ~_te armenische Kirche des Nahen Ostens nur noch
60 Gemeindemitglieder zählt. 20 Familien sind ubrig geblieben. Das
Gleiche gilt fur die Chaldäer. 50 Glaubensgeschwister haben uberlebt,
bis vor Kurzem legten die beiden Gemeinschaften ihre Gottesdienste
noch zusammen.
Osman Baydemir, Mitglied der Kurdenpartei BDP, stellte in einer viel
beachteten Rede im vergangenen Jahr Folgendes klar: "Ein Armenier,
ein Aramäer und ein Chaldäer, dessen GroÃ~_- oder UrgroÃ~_vater
in Diyarbakir geboren wurde, hat ebenso ein Recht hier zu leben,
wie ich es habe.
Das sage ich als ein in Diyarbakir geborener Kurde. Ich möchte
gerne alle ethnischen Gruppen, deren Vorfahren in Diyarbakir lebten,
einladen: Kommt zuruck in eure Stadt!"
Ein einziger Armenier ist diesem Aufruf gefolgt: der Udspieler Yervant
Bostanci. Å~^eyhmus Diken hat dessen Geschichte aufgeschrieben. Er
findet es wichtig, dass er selbst kein Armenier ist, sondern
sunnitischer Kurde. "Es ist wichtig, dass einer wie ich sich fur
die armenischen Mitburger einsetzt. So bedauerlich es klingt, aber
das Anliegen wird dadurch ernster genommen, als wenn ein armenischer
Bruder es vorgetragen hätte", sagt Diken.
"Ich sage meinen Kindern immer, dass sie ja nicht auf die Idee
kommen sollen, irgendetwas unter den Teppich zu kehren. Eines Tages
wird sauber gemacht, der Teppich angehoben und dann kommen alle
Ungeheuerlichkeiten zum Vorschein." Man könne das Heute nicht
aufarbeiten, wenn man das Gestern vergessen machen will, sagt Diken.
Die Aufarbeitung des Völkermords 1915 sei Bedingung und Vorbereitung
fur die Aufarbeitung des Krieges gegen die Kurden.
Wenn man verstehen will, weshalb Armenier in der Diaspora nicht in
ihre Heimatstädte im Osten der Turkei zuruckkehren wollen, muss man
wissen, was 1915 geschah.
Am 12. August 1915 bekam der Gouverneur der Provinz Diyarbakir,
Vali Dr. Mehmed Reschid Bey, den Befehl aus Istanbul die christliche
Bevölkerung nach Syrien zu vertreiben. Dabei sollen Wegstrecken
gewählt werden, die nur schwach besiedelt sind. Der tscherkessische
Arzt telegrafierte bereits am 18. August, dass es ihm gelungen sei
126.000 Menschen zu vertreiben.
126.000 Menschen in nur drei Tagen! Es gibt Berichte, die besagen,
dass den Vertriebenen vor den Stadtmauern noch Kleidung und Schmuck
abgenommen wurde. Jeder kam und machte mit den Leuten was er wollte,
manche nahmen sich Mädchen und Frauen, heirateten oder vergewaltigten
sie.
In Berichten deutscher Diplomaten, die ich aus Materialien des
historischen Seminars Zurich einsah, heiÃ~_t es bereits im Juli
1915, dass Dr. Reschid in der Nähe von Mardin 700 Christen "wie
Hammel abgeschlachtet" habe. Der Gouverneur wurde als "Bluthund"
beschrieben. Er selbst handelte offenbar im Bewusstsein, das einzig
Richtige zu machen. Seine Taten erklärte er später so:
"Doktor zu sein lieÃ~_ mich nicht meine Nationalität vergessen. In
dieser Situation dachte ich bei mir, He, Doktor Reschid! Es gibt zwei
Alternativen: Entweder werden die Armenier die Turken liquidieren,
oder die Turken sie! Vor die Notwendigkeit gestellt, zu wählen,
zögerte ich nicht lange. Mein Turkentum triumphierte uber meine
ärztliche Identität. Die Geschichte anderer Völker kann uber mich
schreiben, was sie will, mich bekummert's gar nicht. Die armenischen
Banditen waren eine Menge schädlicher Mikroben, die den Körper des
Vaterlandes befallen hatten. War es nicht die Pflicht des Arztes,
die Mikroben zu töten?"
Die Menschen beginnen in ihren Familien nachzuforschen
Wie viele Christen zwischen 1915 und 1916 starben, ist nicht bekannt.
Fur mich persönlich spielt es keine Rolle, ob es 700.000, 800.000
oder eineinhalb Millionen waren. Wichtig ist zu begreifen, dass Burger
in Diyarbakir und anderswo zusahen, wie ihre Mitburger misshandelt
und umgebracht wurden - oder sogar dabei mitmachten. Ã~Dhnlich wie
die judische Bevölkerung in Deutschland, waren auch die Armenier
integrierte Mitburger. Sämtliche Rechtsanwälte, Ã~Drzte und Apotheker
waren Armenier, der zweite Vorsitzende des Parlamentes in Diyarbakir
war immer ein Armenier, die Hälfte der Mitglieder im Stadtparlament
waren Armenier.
1914 lebten laut einer offiziellen Zählung alleine in Diyarbakir
72.926 Armenier, davon 9.660 Katholiken, 7.376 Protestanten, der Rest
gregorianisch-apostolische Armenier.
Als Å~^eyhmus Diken 2011 auf der kurdischen Buchmesse in Diyarbakir
die Eröffnungsrede hielt, fragte er die 400 Gäste: "Wie viele von
euch sind Armenier?" Es meldeten sich sechs Leute. Dann fragte er:
"Wie viele von euch wissen, dass der Opa oder die Oma armenisch
sind?" 200 Finger hoben sich.
Es beginnt sich etwas zu ändern. Die Menschen forschen in ihren
Familien und wollen wissen, wer Opfer und wer Täter war. Wäre ich
damals in diesem Raum gewesen, hätte ich auch zu denen gehört,
die bei der zweiten Frage den Finger gehoben hätten. Meine Tante
ist Armenierin und uns Kindern war es verboten daruber zu sprechen.
WeiÃ~_ ich wirklich, dass ich nicht auch einer Täterfamilie angehöre?
Diese Tabus gehören der Vergangenheit an. Man kann heute in der Turkei
uber den Völkermord an den Armeniern sprechen, allerdings muss man
damit rechnen, dass nationalistisch gesinnte Teile der Bevölkerung
durchdrehen, wenn man es macht. Und es wird von offizieller Seite keine
Verantwortung fur deren Taten ubernommen. Es stimmt, was Diken sagt:
es braucht in so einer Atmosphäre Mut zu sagen "Wir verdammen die
Mörder. Wir schämen uns!" Es gehe nicht darum Hass und Zwietracht
zu säen, sagt Diken, sondern den Teppich zu luften. Ich fuhle mich
diesen Autoren nahe. Denen, die trotz allem Widerstand, weiter daruber
schreiben, sich nicht einschuchtern lassen.
Meine Tante wurde von meiner alevitisch-kurdischen Familie vor der
Deportation gerettet, das macht mich froh und ist fur mein Leben eine
Verpflichtung zum Handeln.
Aber weiÃ~_ ich wirklich, dass ich nicht auch einer Täterfamilie
angehöre? Selbst wenn kein Familienmitglied persönlich Hand angelegt
haben sollte, so waren die Christen in der Turkei wie auch die Juden
in Deutschland Mitburger - ich schäme mich unendlich dafur! Wer
zu einer so einfachen wie empathischen Reaktion wie Bedauern oder
Scham angesichts von Völkermorden nicht fähig ist, sondern wie
verruckt Belege fur die angebliche Schuld der von Pogromen verfolgten
Minderheiten sucht, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen. In der
Turkei aber auch in Deutschland leben Leser, die nur die Rhetorik
der Nationalisten kennen, nach dem Motto, "die Kurden, Aleviten
oder Armenier gefährden die Einheit der Nation". Mit Leuten, die
Menschenrechtsverletzungen nicht als solche benennen können, kann
man keinen Weg der Versöhnung gehen, das ist mir klar geworden.
In Diyarbakir aber ist Versöhnung zu spuren, zumindest zwischen
Armeniern und Kurden, die Militärhubschrauber aber drehen derweil
ihre Runden und beäugen misstrauisch die Menschen.
http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-08/kolumne-tuerkische-tage-diyarbakir-armenien-tuerkei
ZEIT ONLINE, Deutschland
9 August 2013
Die fehlenden Armenier von Diyarbakir
Die Glocken der christlichen Kirche in Diyarbakir läuten seit Kurzem
wieder. Die Stadt im Sudosten Anatoliens versucht die Versöhnung
mit den Armeniern. Von Mely Kiyak
Mein vorerst letzter Text, den ich aus Diyarbakir im Sudosten
Anatoliens sende, soll der vielleicht gröÃ~_ten Wunde der Stadt
gelten.
Die Geschichte Diyarbakirs ist die einer Amputation. So wie ein Mensch
Arme und Beine hat, so selbstverständlich waren die Christen Teil der
Stadt. Diyarbakir verlor sein politisches Gleichgewicht nicht erst mit
dem Krieg gegen die Kurden ab 1980, auch nicht mit der Auslöschung
der Armenier 1915, sondern bereits am 2. November 1895.
Der französische Konsul von Diyarbakir beschrieb in einem Brief
an seinen Botschafter, was in jener Nacht geschah: Ein drei Tage
andauerndes Blutbad, das der Sultan des Osmanischen Reichs, Abdulhamid
II., befohlen hatte, das "Hamidische Massaker". "Hawar! Hawar! -
Hilfe! Hilfe schrie die christliche Bevölkerung auf Kurdisch. Die
Stadt wird mit Feuer und Schwert verwustet", schreibt der Konsul.
Seine Bilanz: "30.000 Tote und Vermisste, 119 in Schutt und Asche
gelegte Dörfer".
Da man im Osmanischen Reich statistikvernarrt war, sind die Toten
nach Religionszugehörigkeit und Ethnie erfasst. Dabei wurde penibel
zwischen Protestanten, Katholiken, Chaldäern, Griechen und anderen
christlichen Bevölkerungsgruppen unterschieden. In Diyarbakir starben
während dieses groÃ~_en Brandes mehr als 1.000 Armenier. Tausende
Läden und Privathäuser von Christen wurden geplundert.
Diese Nacht war, so lerne ich vom Schriftsteller und Diyarbakirer
Stadtforscher Å~^eyhmus Diken, die Generalprobe fur das, was 1915
geschah. Seit diesem ersten Gespräch mit Diken habe ich erneut
angefangen, uber die Auslöschung der armenischen Turken zu forschen.
Aber anders als bisher. In nahezu jeder turkischen Stadt suche ich
nach Spuren, weil ich das groÃ~_e Unfassbare nur im kleinen Konkreten
begreifen kann. Vor Ort. Wo lebten diese Menschen? Was arbeiteten sie?
Erst auf dieser Reise begreife ich, dass der Begriff "Völkermord an
den Armeniern" nicht korrekt ist. Von der Katastrophe waren nicht nur
Armenier betroffen, sondern auch Aramäer und Chaldäer. Uberhaupt
sollte man, da sich 2015 der Völkermord zum 100. Mal jährt, damit
beginnen, genauer zu werden. Viele turkisch, kurdisch und armenisch
sprechenden Autorenkollegen aus der Turkei haben zum Thema der
religiösen Minderheiten hervorragende Bucher geschrieben und ich
frage mich, wie es sein kann, dass es in keinem einzigen deutschen
Verlag eine Ubersetzung dieser Werke gibt.
Ich habe meine Bibliothek zu dem Thema nicht in Istanbul erweitert,
sondern in den Buchhandlungen kleiner, linker Kooperativen und
Kirchenbuchhandlungen im Osten der Turkei. Auf politischer Ebene
ist das Thema brisant und bleibt weitgehend unangetastet. Die
Kulturschaffenden vor Ort aber lassen sich nicht einschuchtern. Es
gibt eine Vielzahl an Buchern, die das Leben der Armenier in vielen
Facetten beleuchten.
Viele Menschen in Diyarbakir begreifen langsam, dass ihrer Stadt die
ursprunglichen Einwohner fehlen. Schaut man sich die alten Postkarten
an, die Kapuzinermönche und Franziskaner von Diyarbakir anfertigten,
dann sieht man die hohen Kirchturme der Surp Giragos und Surp Sarkis
Kirche, die Kuppel der kleinen aramäischen Kirche Meryem, Klöster -
ein Panorama der verschiedenen Kulturen.
Die Glocken der Kirchen läuten parallel zum Gesang des Muezzin
Ich stehe in der prächtig restaurierten Surp Giragos Kirche und
schwatze mit dem armenischen Kapici, der die Pforte der Kirche
bewacht. Er erzählt, dass er mit einer Sunnitin verheiratet ist,
die ihm morgens das Fruhstuck zubereitet, während sie wegen des
Ramadan fastet. Als ich empört tue und ihn einen herzlosen Mann
nenne, der vor den Augen seiner hungrigen Frau schlemmt, lacht er
sich kaputt. Alles ganz easy.
1916 schlug man der Kirche den Turm ab, damit sie nicht mehr das
höchste Gebäude der Stadt ist. Ich freue mich, dass seit zwei
Monaten die Glocken wieder täglich läuten, wie ubrigens uberall
in der Turkei die Glocken der christlichen Gotteshäuser läuten,
manchmal parallel zum Gesang des Muezzin. Und bin dann doch traurig,
weil die einst gröÃ~_te armenische Kirche des Nahen Ostens nur noch
60 Gemeindemitglieder zählt. 20 Familien sind ubrig geblieben. Das
Gleiche gilt fur die Chaldäer. 50 Glaubensgeschwister haben uberlebt,
bis vor Kurzem legten die beiden Gemeinschaften ihre Gottesdienste
noch zusammen.
Osman Baydemir, Mitglied der Kurdenpartei BDP, stellte in einer viel
beachteten Rede im vergangenen Jahr Folgendes klar: "Ein Armenier,
ein Aramäer und ein Chaldäer, dessen GroÃ~_- oder UrgroÃ~_vater
in Diyarbakir geboren wurde, hat ebenso ein Recht hier zu leben,
wie ich es habe.
Das sage ich als ein in Diyarbakir geborener Kurde. Ich möchte
gerne alle ethnischen Gruppen, deren Vorfahren in Diyarbakir lebten,
einladen: Kommt zuruck in eure Stadt!"
Ein einziger Armenier ist diesem Aufruf gefolgt: der Udspieler Yervant
Bostanci. Å~^eyhmus Diken hat dessen Geschichte aufgeschrieben. Er
findet es wichtig, dass er selbst kein Armenier ist, sondern
sunnitischer Kurde. "Es ist wichtig, dass einer wie ich sich fur
die armenischen Mitburger einsetzt. So bedauerlich es klingt, aber
das Anliegen wird dadurch ernster genommen, als wenn ein armenischer
Bruder es vorgetragen hätte", sagt Diken.
"Ich sage meinen Kindern immer, dass sie ja nicht auf die Idee
kommen sollen, irgendetwas unter den Teppich zu kehren. Eines Tages
wird sauber gemacht, der Teppich angehoben und dann kommen alle
Ungeheuerlichkeiten zum Vorschein." Man könne das Heute nicht
aufarbeiten, wenn man das Gestern vergessen machen will, sagt Diken.
Die Aufarbeitung des Völkermords 1915 sei Bedingung und Vorbereitung
fur die Aufarbeitung des Krieges gegen die Kurden.
Wenn man verstehen will, weshalb Armenier in der Diaspora nicht in
ihre Heimatstädte im Osten der Turkei zuruckkehren wollen, muss man
wissen, was 1915 geschah.
Am 12. August 1915 bekam der Gouverneur der Provinz Diyarbakir,
Vali Dr. Mehmed Reschid Bey, den Befehl aus Istanbul die christliche
Bevölkerung nach Syrien zu vertreiben. Dabei sollen Wegstrecken
gewählt werden, die nur schwach besiedelt sind. Der tscherkessische
Arzt telegrafierte bereits am 18. August, dass es ihm gelungen sei
126.000 Menschen zu vertreiben.
126.000 Menschen in nur drei Tagen! Es gibt Berichte, die besagen,
dass den Vertriebenen vor den Stadtmauern noch Kleidung und Schmuck
abgenommen wurde. Jeder kam und machte mit den Leuten was er wollte,
manche nahmen sich Mädchen und Frauen, heirateten oder vergewaltigten
sie.
In Berichten deutscher Diplomaten, die ich aus Materialien des
historischen Seminars Zurich einsah, heiÃ~_t es bereits im Juli
1915, dass Dr. Reschid in der Nähe von Mardin 700 Christen "wie
Hammel abgeschlachtet" habe. Der Gouverneur wurde als "Bluthund"
beschrieben. Er selbst handelte offenbar im Bewusstsein, das einzig
Richtige zu machen. Seine Taten erklärte er später so:
"Doktor zu sein lieÃ~_ mich nicht meine Nationalität vergessen. In
dieser Situation dachte ich bei mir, He, Doktor Reschid! Es gibt zwei
Alternativen: Entweder werden die Armenier die Turken liquidieren,
oder die Turken sie! Vor die Notwendigkeit gestellt, zu wählen,
zögerte ich nicht lange. Mein Turkentum triumphierte uber meine
ärztliche Identität. Die Geschichte anderer Völker kann uber mich
schreiben, was sie will, mich bekummert's gar nicht. Die armenischen
Banditen waren eine Menge schädlicher Mikroben, die den Körper des
Vaterlandes befallen hatten. War es nicht die Pflicht des Arztes,
die Mikroben zu töten?"
Die Menschen beginnen in ihren Familien nachzuforschen
Wie viele Christen zwischen 1915 und 1916 starben, ist nicht bekannt.
Fur mich persönlich spielt es keine Rolle, ob es 700.000, 800.000
oder eineinhalb Millionen waren. Wichtig ist zu begreifen, dass Burger
in Diyarbakir und anderswo zusahen, wie ihre Mitburger misshandelt
und umgebracht wurden - oder sogar dabei mitmachten. Ã~Dhnlich wie
die judische Bevölkerung in Deutschland, waren auch die Armenier
integrierte Mitburger. Sämtliche Rechtsanwälte, Ã~Drzte und Apotheker
waren Armenier, der zweite Vorsitzende des Parlamentes in Diyarbakir
war immer ein Armenier, die Hälfte der Mitglieder im Stadtparlament
waren Armenier.
1914 lebten laut einer offiziellen Zählung alleine in Diyarbakir
72.926 Armenier, davon 9.660 Katholiken, 7.376 Protestanten, der Rest
gregorianisch-apostolische Armenier.
Als Å~^eyhmus Diken 2011 auf der kurdischen Buchmesse in Diyarbakir
die Eröffnungsrede hielt, fragte er die 400 Gäste: "Wie viele von
euch sind Armenier?" Es meldeten sich sechs Leute. Dann fragte er:
"Wie viele von euch wissen, dass der Opa oder die Oma armenisch
sind?" 200 Finger hoben sich.
Es beginnt sich etwas zu ändern. Die Menschen forschen in ihren
Familien und wollen wissen, wer Opfer und wer Täter war. Wäre ich
damals in diesem Raum gewesen, hätte ich auch zu denen gehört,
die bei der zweiten Frage den Finger gehoben hätten. Meine Tante
ist Armenierin und uns Kindern war es verboten daruber zu sprechen.
WeiÃ~_ ich wirklich, dass ich nicht auch einer Täterfamilie angehöre?
Diese Tabus gehören der Vergangenheit an. Man kann heute in der Turkei
uber den Völkermord an den Armeniern sprechen, allerdings muss man
damit rechnen, dass nationalistisch gesinnte Teile der Bevölkerung
durchdrehen, wenn man es macht. Und es wird von offizieller Seite keine
Verantwortung fur deren Taten ubernommen. Es stimmt, was Diken sagt:
es braucht in so einer Atmosphäre Mut zu sagen "Wir verdammen die
Mörder. Wir schämen uns!" Es gehe nicht darum Hass und Zwietracht
zu säen, sagt Diken, sondern den Teppich zu luften. Ich fuhle mich
diesen Autoren nahe. Denen, die trotz allem Widerstand, weiter daruber
schreiben, sich nicht einschuchtern lassen.
Meine Tante wurde von meiner alevitisch-kurdischen Familie vor der
Deportation gerettet, das macht mich froh und ist fur mein Leben eine
Verpflichtung zum Handeln.
Aber weiÃ~_ ich wirklich, dass ich nicht auch einer Täterfamilie
angehöre? Selbst wenn kein Familienmitglied persönlich Hand angelegt
haben sollte, so waren die Christen in der Turkei wie auch die Juden
in Deutschland Mitburger - ich schäme mich unendlich dafur! Wer
zu einer so einfachen wie empathischen Reaktion wie Bedauern oder
Scham angesichts von Völkermorden nicht fähig ist, sondern wie
verruckt Belege fur die angebliche Schuld der von Pogromen verfolgten
Minderheiten sucht, dem ist ohnehin nicht mehr zu helfen. In der
Turkei aber auch in Deutschland leben Leser, die nur die Rhetorik
der Nationalisten kennen, nach dem Motto, "die Kurden, Aleviten
oder Armenier gefährden die Einheit der Nation". Mit Leuten, die
Menschenrechtsverletzungen nicht als solche benennen können, kann
man keinen Weg der Versöhnung gehen, das ist mir klar geworden.
In Diyarbakir aber ist Versöhnung zu spuren, zumindest zwischen
Armeniern und Kurden, die Militärhubschrauber aber drehen derweil
ihre Runden und beäugen misstrauisch die Menschen.
http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-08/kolumne-tuerkische-tage-diyarbakir-armenien-tuerkei