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Syriens Armenier Furchten Um Ihre Zukunft

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    SYRIENS ARMENIER FURCHTEN UM IHRE ZUKUNFT

    Neue Zurcher Zeitung AG, Zurich
    Montag, 14. April 2014

    Jurg Bischoff, Beirut Montag, 14. April 2014, 14:51

    Islamistische Rebellen haben im Marz ein armenisches Dorf in Syrien
    gesturmt. Den syrischen Armeniern droht moglicherweise ein neuer
    Exodus.

    Am Morgen des 21. Marz drangen im Norden der syrischen Provinz
    Latakia die Rebellen uber die turkische Grenze vor und besetzten den
    Grenzubergang zwei Kilometer ostlich des Dorfs Kasab. Wahrend eine
    Handvoll junge Manner mit ihren Gewehren die vorruckenden Kampfer
    aufzuhalten suchten, packten die rund 2000 Einwohner des Dorfes ein
    paar Habseligkeiten zusammen und fluchteten nach Suden. Die Schusse,
    Explosionen und die "Allahu akbar!"-Rufe, die zu ihnen drangen,
    weckten bei den Dorfbewohnern neben Angst auch die Erinnerung an das
    Leiden ihres Volkes, von dem die Alten im Dorf erzahlten. Denn die
    Einwohner von Kasab sind Armenier.

    Propagandaschlacht

    Kasab ist eines der letzten armenischen Dorfer in der Levante. An der
    sudlichen Grenze eines Siedlungsgebiets gelegen, das sich uber weite
    Teile Anatoliens erstreckte, hatte es die systematische Vertreibung und
    Ausloschung der Armenier durch die Turken wahrend und nach dem Ersten
    Weltkrieg uberlebt. Nicht ohne seinen Blutzoll geleistet zu haben:
    1909 wurden bei einem Massaker uber 160 seiner Einwohner getotet,
    und 1915 wurden alle seine Einwohner deportiert. In die Wuste Syriens
    hinausgetrieben, fanden die meisten von ihnen den Tod. Nach dem Krieg
    kehrten die Uberlebenden unter dem Schutz der Franzosen, die Kilikien
    und Syrien besetzt hatten, ins Dorf zuruck.

    Die Einwohner Kasabs haben nach dem Uberfall der Rebellen in
    Latakia eine vorlaufige Zuflucht gefunden. Rund um das Dorf
    gehen die Kampfe zwischen Regierungstruppen und den islamistischen
    Aufstandischen weiter, unter diesen eine grosse Gruppe von Kampfern
    des Kaida-Ablegers Jabhat an-Nusra. Das Regime hat neue Truppen ins
    Kampfgebiet gebracht. Zum Beweis, wie fest die Rebellen Kasab im Griff
    haben, liess sich der Prasident der Syrischen Nationalen Koalition,
    Ahmed Jarba, bei einem Besuch in der Gegend Ende Marz fotografieren.

    Nach dem Fall Kasabs starteten Armenier in der Diaspora eine
    Medienkampagne, um auf das Schicksal seiner Bewohner aufmerksam zu
    machen. Da die Rebellen uber die turkische Grenze eingedrungen waren,
    wurde die Turkei beschuldigt, den Uberfall auf Kasab geplant zu haben.

    Der Prasident der Republik Armenien, Serge Sarkissian, beklagte
    offentlich die "dritte Deportation" der Einwohner des Dorfes. Medien
    des Regimes brachten Meldungen uber Massaker und zerstorte Kirchen,
    die in den sozialen Netzwerken weiterverbreitet wurden.

    Die Rebellen veroffentlichten im Gegenzug Videos, die Kampfer im
    freundlichen Gesprach mit ein paar zuruckgebliebenen alten Leuten
    zeigen und belegen, dass zumindest eine Kirche des Dorfes unversehrt
    geblieben ist. Der Burgermeister Kasabs dementierte die Berichte
    uber Massaker und bestatigte, dass sich alle Einwohner des Dorfes in
    Sicherheit befanden.

    Zuflucht in der Levante

    Die Armenier haben zu Syrien ein besonderes Verhaltnis. "Wahrend des
    Genozids haben uns die Turken umgebracht, und die Christen in Europa
    haben uns im Stich gelassen", erklarte der uber 80-jahrige armenische
    Schriftsteller und Verleger Toros Toronian aus Aleppo in einem Gesprach
    letztes Jahr in Beirut. "Nur die Araber haben uns geholfen.

    Sie haben uns aufgenommen, uns erlaubt, Kirchen und Schulen zu bauen,
    unsere Sprache und unsere Kultur zu pflegen." Syrien sei ein Land,
    das Vielfalt zugelassen habe, sagt Toronian, die Armenier mussten in
    Syrien bleiben, um dessen Vielfalt zu erhalten.

    In Syrien und Libanon leben zusammen rund 200 000 Armenier. Die
    meisten fanden hier Zuflucht, nachdem die Franzosen 1921 das drei
    Jahre zuvor besetzte Kilikien vor den Truppen Kemal Ataturks hatten
    raumen mussen. Eine zweite Welle von Armeniern stromte nach Syrien,
    als die Franzosen 1938 auch den Sandjak von Alexandrette, die heutige
    Provinz Hatay, den Turken uberliessen. Auf Intervention des Vatikans
    in Paris wurde Kasab damals im letzten Moment Syrien zugeschlagen,
    so dass das Dorf erhalten blieb. 1944 machten die Armenier fast ein
    Funftel der Einwohner Aleppos aus.

    Aleppo und Beirut sind bis heute armenische Refugien geblieben,
    in denen Schulen auf Armenisch unterrichten, armenische Bucher und
    Zeitungen gedruckt werden. Im Unterschied zur Republik Armenien und
    zur Diaspora in Iran wird in der Levante der westarmenische Dialekt
    gesprochen, so dass die armenischen Viertel und Dorfer Syriens und
    Libanons heute zu den wenigen Ruckzugsgebieten westarmenischer Kultur
    gehoren. Seit 1930 hat auch der Katholikos "des Grossen Hauses von
    Kilikien", einer der zwei Patriarchen der Armenischen Kirche, seinen
    Sitz in Antelias bei Beirut.

    Bleiben oder auswandern?

    Schon bevor der Angriff der Rebellen die Einwohner Kasabs aus ihren
    Hausern vertrieb, sind die Armenier von Aleppo in den Strudel des
    Burgerkrieges geraten. Seit dem Angriff der Rebellen im Sommer 2012
    ist die Stadt geteilt, die Kampfe und die Bombardierungen haben ganze
    Viertel zerstort und Tausende von Zivilisten das Leben gekostet. Wie
    alle anderen Einwohner der Stadt haben die Armenier Aleppos ihre
    Toten beerdigt, ihre Verletzten und Kranken gepflegt, mit Hunger
    und Verzweiflung gekampft. Unter den Armeniern in Aleppo machte der
    Spruch die Runde "Barfuss sind wir hier angekommen, barfuss werden
    wir wieder von hier fortgehen".

    Im Unterschied zu den anderen Syrern haben die Armenier das Gluck,
    eine gesicherte Zuflucht zu haben: die Republik Armenien. Laut
    Regierungsangaben haben sich seit dem Ausbruch des Burgerkriegs 11 000
    Fluchtlinge aus Syrien in Armenien niedergelassen. In der Hauptstadt
    Erewan werden bereits Plane fur einen Stadtteil geschmiedet, der fur
    die Fluchtlinge bestimmt ist und "Neu-Aleppo" heissen soll.

    Doch armenische Nationalisten missbilligen die Flucht ins Mutterland.

    "Aleppo ist das Herz der armenischen Diaspora. Deshalb mussen wir die
    armenische Prasenz in Aleppo so lang wie moglich erhalten", erklart
    in Beirut ein Funktionar der Dashnak, der nicht namentlich genannt
    sein will. Die Dashnak, offiziell Armenische Revolutionare Foderation,
    ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die grosste nationalistische
    Partei der Armenier und in der Levante noch heute deren wichtigste
    politische Stimme. In Syrien vertritt der armenische Nationalist ein
    "pragmatisches" Verhalten: "Wir mussen loyale Burger des syrischen
    Staates bleiben, ohne uns im Burgerkrieg auf eine Seite zu stellen."

    "Flucht ist keine Option"

    Gelegentliche Berichte im Internet uber armenische Kampfergruppen,
    die fur Asad oder fur die Rebellen Partei genommen hatten, bezeichnen
    syrische Armenier als unglaubwurdig. Es gebe einige junge Manner, die
    auf der einen oder auf der anderen Seite kampften, sagt Toronian. "Sie
    tun das fur Geld oder um sich als Helden zu fuhlen. Die armenische
    Gemeinschaft jedoch hat ihre Neutralitat erklart." Diese Haltung
    grundet in der traumatischen armenischen Erfahrung der letzten hundert
    Jahre, denn wann immer sich die Armenier in einen Krieg gesturzt haben,
    waren sie die Verlierer.

    "Auch wenn die Islamisten heute am Eingang zu den armenischen Vierteln
    Aleppos stehen, ist Flucht keine Option", sagt der Dashnak-Mann.

    "Sollen wir sie nach Beirut bringen? Doch wer sagt, dass Libanon
    auf die Dauer sicherer ist?" Auch die Republik Armenien komme nur
    beschrankt als Zuflucht infrage, da sie wirtschaftlich zu schwach
    sei, um Zehntausende von Fluchtlingen aufzunehmen. In der Tat sind
    wiederholte Kampagnen, Armenier aus der Diaspora ins Land zu holen,
    seit den Sowjetzeiten klaglich gescheitert, weil die "Heimkehrer"
    bald entweder in ihren alten Wohnort zuruckkehrten oder nach Europa
    und Amerika weiterzogen. Oder in die Turkei? "Daran will ich gar
    nicht denken!", sagt der Nationalist schaudernd.

    http://www.nzz.ch/aktuell/international/auslandnachrichten/syriens-armenier-fuerchten-um-ihre-zukunft-1.18284006




    From: A. Papazian
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