Die Welt, Deutschland
15 / 1 / 2015
Armenien und das Menschheitsgedächtnis
Geschähe dieser Völkermord heute, generierte er eine kilometerlange
Laufzeile aus Breaking News. Das ist gut so. Massenmörder kommen heute
nicht mehr so leicht aus der Erinnerung davon.
Von Wolfgang Büscher
WELT-Gruppe
Bald ist es wieder so weit, dann beginnt in Berlin die ITB, die
Internationale Tourismusbörse; 11.000 Aussteller aus 180 Ländern
werden erwartet - das Reisen ist eine Riesenindustrie geworden. Nie
waren wir so weltläufig wie heute. Zur selben Zeit reisen andere ganz
anders. Steigen in Nordafrika in halb lecke Boote und rostzerfressene
Frachter, die Schlepper ihnen für teures Geld bieten, um an Europas
goldene Küsten zu gelangen.
Wir leben im Zwielicht, das ist nicht neu, es war immer so. Aber die
technischen Hebel unserer Zeit machen daraus ein grelles Ereignis. Als
Kind hörte ich die Geschichte vom Großvater. Nach dem ersten Weltkrieg
aus britischer Gefangenschaft entlassen, wurde er auf ein halb leckes
Schiff mit Kurs auf die Heimat gesetzt.
Zur Person: Wolfgang Büscher
Biografie
Wolfgang Büscher ist Autor der "Welt"-Gruppe. Für seine Reportagen und
Bücher hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den
Ludwig-Börne-Preis. Über seine Wanderung nach Moskau im Jahre 2001
schrieb er seinen ersten Bestseller ("Berlin - Moskau, eine Reise zu
Fuß"). Zuletzt erschien "Hartland. Zu Fuß durch Amerika".
Es muss ihm auf der Nordsee ungefähr so zumute gewesen sein wie jenen,
die heute übers Mittelmeer irrlichtern. Er hoffte, die Fahrt zu
überleben. Hörte ich diese Geschichte zehnmal erzählen oder nur
einmal? Egal, meine für solche Bilder empfängliche Fantasie griff sie
willig auf. Abertausende solcher Geschichten geisterten durch die
Familien.
Ungeheure Katastrophen blieben öffentlich unerzählt, blieben private
Erinnerung. Wie der Völkermord an den Armeniern im Jahre 1915, der in
diesem Jahr ein volles Jahrhundert zurückliegt.
Erinnerung an das Grausame lebt meist in den Familien
Armenische Familien sind voller Erinnerungen an die unvorstellbarsten,
grausamsten Schicksale. Es sprach sich zwar in der Welt herum, was den
Armeniern geschah, aber die große Erzählung vom Mord an diesem Volk -
wo ist sie?
Gut, damals erschien Franz Werfels Buch darüber. Aber steht die
Ungeheuerlichkeit der armenischen Tragödie in einem Verhältnis zum
Interesse, das die Welt daran nahm?
Geschähe dieser Völkermord heute, generierte er eine kilometerlange
Laufzeile aus Breaking News. Das ist gut so. Massenmörder kommen heute
nicht mehr so leicht aus der Erinnerung davon. Dennoch, das Zwielicht
bleibt. Die Beleuchter haben gewechselt, es sind Profis, sie arbeiten
mit modernstem Gerät.
Auch wenn die lebensgefährliche Heimfahrt meines Großvaters und seiner
Kameraden 1918 auf diesem englischen Schiff eine Fernsehnachricht
geworden wäre - es wäre nur ein kurzer Blitz am Nachthimmel des
Menschheitsgedächtnisses gewesen. Es wäre eine Geschichte, die in der
Familie bewahrt wird, geblieben.
http://www.welt.de/debatte/kolumnen/unterwegs/article136408654/Armenien-und-das-Menschheitsgedaechtnis.html
15 / 1 / 2015
Armenien und das Menschheitsgedächtnis
Geschähe dieser Völkermord heute, generierte er eine kilometerlange
Laufzeile aus Breaking News. Das ist gut so. Massenmörder kommen heute
nicht mehr so leicht aus der Erinnerung davon.
Von Wolfgang Büscher
WELT-Gruppe
Bald ist es wieder so weit, dann beginnt in Berlin die ITB, die
Internationale Tourismusbörse; 11.000 Aussteller aus 180 Ländern
werden erwartet - das Reisen ist eine Riesenindustrie geworden. Nie
waren wir so weltläufig wie heute. Zur selben Zeit reisen andere ganz
anders. Steigen in Nordafrika in halb lecke Boote und rostzerfressene
Frachter, die Schlepper ihnen für teures Geld bieten, um an Europas
goldene Küsten zu gelangen.
Wir leben im Zwielicht, das ist nicht neu, es war immer so. Aber die
technischen Hebel unserer Zeit machen daraus ein grelles Ereignis. Als
Kind hörte ich die Geschichte vom Großvater. Nach dem ersten Weltkrieg
aus britischer Gefangenschaft entlassen, wurde er auf ein halb leckes
Schiff mit Kurs auf die Heimat gesetzt.
Zur Person: Wolfgang Büscher
Biografie
Wolfgang Büscher ist Autor der "Welt"-Gruppe. Für seine Reportagen und
Bücher hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den
Ludwig-Börne-Preis. Über seine Wanderung nach Moskau im Jahre 2001
schrieb er seinen ersten Bestseller ("Berlin - Moskau, eine Reise zu
Fuß"). Zuletzt erschien "Hartland. Zu Fuß durch Amerika".
Es muss ihm auf der Nordsee ungefähr so zumute gewesen sein wie jenen,
die heute übers Mittelmeer irrlichtern. Er hoffte, die Fahrt zu
überleben. Hörte ich diese Geschichte zehnmal erzählen oder nur
einmal? Egal, meine für solche Bilder empfängliche Fantasie griff sie
willig auf. Abertausende solcher Geschichten geisterten durch die
Familien.
Ungeheure Katastrophen blieben öffentlich unerzählt, blieben private
Erinnerung. Wie der Völkermord an den Armeniern im Jahre 1915, der in
diesem Jahr ein volles Jahrhundert zurückliegt.
Erinnerung an das Grausame lebt meist in den Familien
Armenische Familien sind voller Erinnerungen an die unvorstellbarsten,
grausamsten Schicksale. Es sprach sich zwar in der Welt herum, was den
Armeniern geschah, aber die große Erzählung vom Mord an diesem Volk -
wo ist sie?
Gut, damals erschien Franz Werfels Buch darüber. Aber steht die
Ungeheuerlichkeit der armenischen Tragödie in einem Verhältnis zum
Interesse, das die Welt daran nahm?
Geschähe dieser Völkermord heute, generierte er eine kilometerlange
Laufzeile aus Breaking News. Das ist gut so. Massenmörder kommen heute
nicht mehr so leicht aus der Erinnerung davon. Dennoch, das Zwielicht
bleibt. Die Beleuchter haben gewechselt, es sind Profis, sie arbeiten
mit modernstem Gerät.
Auch wenn die lebensgefährliche Heimfahrt meines Großvaters und seiner
Kameraden 1918 auf diesem englischen Schiff eine Fernsehnachricht
geworden wäre - es wäre nur ein kurzer Blitz am Nachthimmel des
Menschheitsgedächtnisses gewesen. Es wäre eine Geschichte, die in der
Familie bewahrt wird, geblieben.
http://www.welt.de/debatte/kolumnen/unterwegs/article136408654/Armenien-und-das-Menschheitsgedaechtnis.html