Der Tagesspiegel, Deutschland 23/1/2015
Bundesregierung will nicht von Völkermord sprechen
23.01.2015 15:01 von Matthias Meisner
Am 24. April 2015 jährt sich zum 100. Mal der Beginn des Völkermordes
an den Armeniern. Die Bundesregierung vermeidet weiter, die Massaker
klar als Genozid zu benennen.
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Mehr als 20 Staaten der Welt - von Argentinien bis Zypern - haben die
Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren klar als
Völkermord bezeichnet. Darunter sind auch Frankreich, Italien, Polen
und Russland. In vier Ländern - Griechenland, Schweiz, Slowakei und
Spanien - kann die Leugnung des Völkermordes sogar strafrechtlich
verfolgt werden. Die Bundesregierung aber will den Begriff "Genozid"
weiterhin nicht verwenden, wie sie in einer dem Tagesspiegel
vorliegenden Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der
Linksfraktion bestätigt.
Der 24. April bildet den größten Trauertag im armenischen Jahr - an
diesem Tag im Jahre 1915 war die Masseninhaftierung und anschließende
Deportation der intellektuellen, politischen und kulturellen Elite der
Armenier in Konstantinopel der Auftakt für Massentötungen, denen nach
Untersuchungen unabhängiger Historiker in den Jahren 1915 und 1916
mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen.
Eine Bewertung dieser "geschichtlichen Ereignisse" sollte
Wissenschaftlern vorbehalten bleiben, erklärt die Bundesregierung. Sie
ist der Auffassung, "dass die Aufarbeitung der Massaker und
Vertreibungen von 1915/16 in erster Linie Sache der betroffenen Länder
Türkei und Armenien ist".
Linke: Bundesregierung zieht sich aus Mitverantwortung
Die Linken-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke, die die Anfrage
eingereicht hat, findet das inakzeptabel. Sie sagte dem Tagesspiegel,
mit dieser Behauptung ziehe sich die Bundesregierung aus der
Mitverantwortung für die damaligen Verbrechen. "Denn das deutsche
Kaiserreich war als engster militärischer Verbündeter des Osmanischen
Reiches sowohl Mitwisser als auch teilweise Mittäter." Mit ihrer
Eingrenzung auf die Staaten Türkei und Armenien lasse die
Bundesregierung zudem die millionenstarke armenische Diaspora, für die
die Genoziderfahrung bis heute identitätsprägend sei, ebenso außen vor
wie die türkeistämmige Migration in Deutschland. "Gerade letztere
steht zum Teil unter dem Einfluss türkisch-nationalistischer
Lobbygruppen und Regierungsstellen, die die Verbrechen an den
Armeniern bis heute leugnen", sagte Jelpke.
Der Bundestag hatte vor zehn Jahren in einer parteiübergreifenden
Resolution die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern verurteilt.
Darin war die Rede von "Taten der jungtürkischen Regierung des
Osmanischen Reiches, die zur fast vollständigen Vernichtung der
Armenier in Anatolien geführt haben". Und: "Zahlreiche unabhängige
Historiker, Parlamente und internationale Organisationen bezeichnen
die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord." Der
Begriff "Genozid" wurde auch damals vermieden. Aus Sicht der Linken
ist die Regierung inzwischen sogar noch hinter die damalige
Sprachregelung zurückgefallen.
Steinmeier war 2014 in Armenien
Planungen für eine eigene Gedenkveranstaltung zum 24. April 2015
verfolgt die Bundesregierung "zum gegenwärtigen Zeitpunkt" nicht,
heißt es weiter. Vertreter des Zentralrats der Armenier in Deutschland
und anderer armenischer Organisationen hätten den Wunsch nach einer
Teilnahme von Vertretern der Bundesregierung an Gedenkveranstaltungen
geäußert: "Die Bundesregierung prüft derzeit die Möglichkeiten einer
Teilnahme." Außenminister Frank Walter Steinmeier (SPD) hatte Armenien
zuletzt im Oktober vergangenen Jahres besucht und an der
Völkermord-Gedenkstätte Tsitsernakaberd einen Kranz abgelegt. In der
Linksfraktion hatte es 2007 heftige Auseinandersetzungen um die
Armenien-Frage gegeben. Besonders umstritten war die Rolle von Hakki
Keskin, damals Bundestagsabgeordneter der Linken und früherer
Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.
Bild vergrößernUlla Jelpke - Foto: Wolfgang Kumm/dpa
Streit um Lepsius-Haus in Potsdam
In der Antwort an die Linksfraktion gibt die Bundesregierung erstmals
zu, dass es nur eingeschränkt gelungen ist, mit dem aus Bundesmitteln
geförderten Lepsius-Haus in Potsdam zur Aussöhnung von Deutschen,
Armeniern und Türken beizutragen. Diese "ursprüngliche Intention" sei
"bislang nicht vollständig umgesetzt worden", erklärt Staatsminister
Michael Roth (SPD). Als Grund dafür nennt er eine "von türkischer
Seite pro-armenisch perzipierte Haltung" des Fördervereins
Lepsiushaus, die in der Konzeption bisheriger Veranstaltungen und
Veröffentlichungen zum Ausdruck gekommen sei.
Jelpke sieht die Schuldfrage nicht in einer angeblich pro-armenischen
Ausrichtung des Lepsiushauses. Sie meint: "Vielmehr erscheint das Haus
eines christlichen Islammissionars, der zudem auch eine zwielichtige
Rolle bei der Manipulation von diplomatischen Akten über den Genozid
nach Kriegsende gespielt hatte sowie die einseitige Fokussierung auf
die Person des Theologen als ungeeignet für einen solchen Begegnungs-
und Versöhnungsauftrag."
http://www.tagesspiegel.de/politik/genozid-vor-100-jahren-an-den-armeniern-bundesregierung-will-nicht-von-voelkermord-sprechen/11271184.html
Bundesregierung will nicht von Völkermord sprechen
23.01.2015 15:01 von Matthias Meisner
Am 24. April 2015 jährt sich zum 100. Mal der Beginn des Völkermordes
an den Armeniern. Die Bundesregierung vermeidet weiter, die Massaker
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Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren klar als
Völkermord bezeichnet. Darunter sind auch Frankreich, Italien, Polen
und Russland. In vier Ländern - Griechenland, Schweiz, Slowakei und
Spanien - kann die Leugnung des Völkermordes sogar strafrechtlich
verfolgt werden. Die Bundesregierung aber will den Begriff "Genozid"
weiterhin nicht verwenden, wie sie in einer dem Tagesspiegel
vorliegenden Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der
Linksfraktion bestätigt.
Der 24. April bildet den größten Trauertag im armenischen Jahr - an
diesem Tag im Jahre 1915 war die Masseninhaftierung und anschließende
Deportation der intellektuellen, politischen und kulturellen Elite der
Armenier in Konstantinopel der Auftakt für Massentötungen, denen nach
Untersuchungen unabhängiger Historiker in den Jahren 1915 und 1916
mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen.
Eine Bewertung dieser "geschichtlichen Ereignisse" sollte
Wissenschaftlern vorbehalten bleiben, erklärt die Bundesregierung. Sie
ist der Auffassung, "dass die Aufarbeitung der Massaker und
Vertreibungen von 1915/16 in erster Linie Sache der betroffenen Länder
Türkei und Armenien ist".
Linke: Bundesregierung zieht sich aus Mitverantwortung
Die Linken-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke, die die Anfrage
eingereicht hat, findet das inakzeptabel. Sie sagte dem Tagesspiegel,
mit dieser Behauptung ziehe sich die Bundesregierung aus der
Mitverantwortung für die damaligen Verbrechen. "Denn das deutsche
Kaiserreich war als engster militärischer Verbündeter des Osmanischen
Reiches sowohl Mitwisser als auch teilweise Mittäter." Mit ihrer
Eingrenzung auf die Staaten Türkei und Armenien lasse die
Bundesregierung zudem die millionenstarke armenische Diaspora, für die
die Genoziderfahrung bis heute identitätsprägend sei, ebenso außen vor
wie die türkeistämmige Migration in Deutschland. "Gerade letztere
steht zum Teil unter dem Einfluss türkisch-nationalistischer
Lobbygruppen und Regierungsstellen, die die Verbrechen an den
Armeniern bis heute leugnen", sagte Jelpke.
Der Bundestag hatte vor zehn Jahren in einer parteiübergreifenden
Resolution die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern verurteilt.
Darin war die Rede von "Taten der jungtürkischen Regierung des
Osmanischen Reiches, die zur fast vollständigen Vernichtung der
Armenier in Anatolien geführt haben". Und: "Zahlreiche unabhängige
Historiker, Parlamente und internationale Organisationen bezeichnen
die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord." Der
Begriff "Genozid" wurde auch damals vermieden. Aus Sicht der Linken
ist die Regierung inzwischen sogar noch hinter die damalige
Sprachregelung zurückgefallen.
Steinmeier war 2014 in Armenien
Planungen für eine eigene Gedenkveranstaltung zum 24. April 2015
verfolgt die Bundesregierung "zum gegenwärtigen Zeitpunkt" nicht,
heißt es weiter. Vertreter des Zentralrats der Armenier in Deutschland
und anderer armenischer Organisationen hätten den Wunsch nach einer
Teilnahme von Vertretern der Bundesregierung an Gedenkveranstaltungen
geäußert: "Die Bundesregierung prüft derzeit die Möglichkeiten einer
Teilnahme." Außenminister Frank Walter Steinmeier (SPD) hatte Armenien
zuletzt im Oktober vergangenen Jahres besucht und an der
Völkermord-Gedenkstätte Tsitsernakaberd einen Kranz abgelegt. In der
Linksfraktion hatte es 2007 heftige Auseinandersetzungen um die
Armenien-Frage gegeben. Besonders umstritten war die Rolle von Hakki
Keskin, damals Bundestagsabgeordneter der Linken und früherer
Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland.
Bild vergrößernUlla Jelpke - Foto: Wolfgang Kumm/dpa
Streit um Lepsius-Haus in Potsdam
In der Antwort an die Linksfraktion gibt die Bundesregierung erstmals
zu, dass es nur eingeschränkt gelungen ist, mit dem aus Bundesmitteln
geförderten Lepsius-Haus in Potsdam zur Aussöhnung von Deutschen,
Armeniern und Türken beizutragen. Diese "ursprüngliche Intention" sei
"bislang nicht vollständig umgesetzt worden", erklärt Staatsminister
Michael Roth (SPD). Als Grund dafür nennt er eine "von türkischer
Seite pro-armenisch perzipierte Haltung" des Fördervereins
Lepsiushaus, die in der Konzeption bisheriger Veranstaltungen und
Veröffentlichungen zum Ausdruck gekommen sei.
Jelpke sieht die Schuldfrage nicht in einer angeblich pro-armenischen
Ausrichtung des Lepsiushauses. Sie meint: "Vielmehr erscheint das Haus
eines christlichen Islammissionars, der zudem auch eine zwielichtige
Rolle bei der Manipulation von diplomatischen Akten über den Genozid
nach Kriegsende gespielt hatte sowie die einseitige Fokussierung auf
die Person des Theologen als ungeeignet für einen solchen Begegnungs-
und Versöhnungsauftrag."
http://www.tagesspiegel.de/politik/genozid-vor-100-jahren-an-den-armeniern-bundesregierung-will-nicht-von-voelkermord-sprechen/11271184.html