Announcement

Collapse
No announcement yet.

The Armenian Massacres & the Turkish Identity (in German)

Collapse
X
 
  • Filter
  • Time
  • Show
Clear All
new posts

  • The Armenian Massacres & the Turkish Identity (in German)

    Neue Zürcher Zeitung
    9. Juli 2005

    Geschichte als Schlüssel zur Zukunft

    Auswärtige Autoren

    Der Armeniermord und die Identität der Türkei

    Der Völkermord von 1915/16 an den Armeniern ist virulente Gegenwart.
    Mit dem Vorwurf, sie stiessen der türkischen Nation einen Dolch in
    den Rücken, liess der türkische Justizminister Cemil Çiçek am 24. Mai
    wutentbrannt eine Historikerkonferenz in Istanbul über die
    spätosmanisch-armenische Geschichte platzen. Unter den Eingeladenen
    war auch der "dissidente" Historiker Taner Akçam, nicht eingeladen
    hingegen war der Präsident des staatlichen Instituts für Geschichte,
    Yusuf Halaçoglu, der oberste Hüter türkischer Nationalgeschichte. Im
    Folgenden sollen je zwei Bücher dieser zwei Antagonisten sowie eine
    Veröffentlichung deutscher Quellen besprochen werden, die für das
    Thema zentral sind.

    Ein Tabu aus der Gründungszeit

    1976 wegen publizistischer Tätigkeit verurteilt, floh Akçam nach
    Deutschland, wo es ihm trotz vielen Schwierigkeiten, darunter
    Todesdrohungen von Seiten türkischer Nationalisten, gelang, einen
    eigenständigen akademischen Weg einzuschlagen und hartnäckig zu
    verfolgen. Wichtig war dabei die Unterstützung durch Jan Philipp
    Reemtsma, den Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
    Akçam, gegenwärtig Gastprofessor für Geschichte an der University of
    Minnesota, widmet ihm seinen Band "From Empire to Republic". Dieser
    besteht aus mehreren Essays, die um Akçams Einsicht vom armenischen
    Völkermord als dem zentralen Tabu der türkischen Nationalgeschichte
    kreisen. Radikal und zugleich einfühlsam hinterfragt er die
    innertürkische Perspektive auf die nationale Gründungsepoche
    (1913-1938). Er hat seine grundlegende These bereits 1992 in einem
    Buch auf Türkisch formuliert - jetzt ist sie konzentriert im zweiten
    Kapitel des Bandes auf Englisch nachlesbar.

    Akçam verbindet seine These mit der Überzeugung, dass ohne ein
    radikales Überdenken der Entstehung des Nationalstaats die politische
    Kultur der Republik beschädigt, das heisst in Sachen Menschenrechte
    und Demokratie defizitär bleiben wird. Insofern ist das historische
    Schaffen für ihn der Schlüssel zur demokratischen Zukunft seines
    Landes. Dies umfasst sowohl gegenwartsgeschichtliche Reflexion als
    auch dokumentarische Knochenarbeit mit türkischen, osmanischen,
    armenischen und anderen Quellen. So analysiert Akçam detailliert die
    jungtürkische Politik ethnischer Homogenisierung Anatoliens, die 1913
    einsetzte, im Frühjahr 1914 mit heimlich organisierten Vertreibungen
    osmanischer Christen von der Westküste einen ersten Höhepunkt fand
    und im Ersten Weltkrieg in der Vernichtung der armenischen
    Gemeinschaft gipfelte. Auch rekonstruiert er die Herausbildung der
    konkreten Entscheidung dafür im März/April 1915.

    Der Prozess gegen die Verantwortlichen

    Akçams Buch "Armenien und der Völkermord" enthält drei Teile: eine
    Darstellung des Völkermordes und seiner Vorgeschichte, eine Recherche
    über die internationalen und liberalen osmanischen Anstrengungen, den
    Verantwortlichen 1918-1920 den Prozess zu machen, und eine Auswahl
    von Übersetzungen der Prozessprotokolle. Diese 1996 erstmals
    veröffentlichte, weiterhin aktuelle Doktorarbeit Akçams verdiente
    eine Neuauflage. Schade ist nur, dass die Gelegenheit nicht genutzt
    wurde, um einen Namenindex beizufügen und Errata zu korrigieren;
    inakzeptabel ist, dass jeglicher Hinweis auf die Erstauflage fehlt. -
    Nicht nur nationalistische Drohungen, auch Demütigungen akademischer
    Art musste Akçam in den vergangenen zwei Jahrzehnten über sich
    ergehen lassen. Im Gegensatz zum akademischen Establishment hat der
    marginalisierte Dissident die Zeichen der Zeit und die
    Herausforderungen der Gesellschaft früh erkannt. Daher hat er
    intellektuell etwas zu sagen und wird - so ist für die Türkei zu
    hoffen - bald eine Lehrposition in seinem eigenen Land erhalten.

    Deutsche Zeugen und Akteure

    Das Versagen, sich mit dem Völkermord auseinanderzusetzen, hängt
    damit zusammen, dass der Staat den Wissenschaftsbetrieb kontrolliert
    und die Positionen entsprechend verteilt, zu einem guten Teil auch an
    den Privatuniversitäten. Damit ist für Selbstreproduktion und
    -referenzialität gesorgt. Das lässt sich vom deutschsprachigen
    Wissenschaftsbetrieb so nicht sagen. Und doch ist es nicht die
    Historikerzunft - ihr ist die deutsche Vergangenheit an der Seite der
    Jungtürken bisher ziemlich fremd geblieben - , sondern ein
    pensionierter Journalist, der im April dieses Jahres eine
    wissenschaftliche Ausgabe der überaus bedeutenden deutschen Quellen
    zu Kleinasien im Ersten Weltkrieg vorgelegt hat. Damit kam er gerade
    noch rechtzeitig für eine Debatte, die unterdessen, mit 90 Jahren
    Verspätung, auch die "politische Klasse" erfasst hat. Wolfgang Gust,
    der Herausgeber, wurde dabei von seiner Frau Sigrid, einer Juristin,
    und einem internationalen Netzwerk von Experten unterstützt.

    In einer substanziellen Einleitung von rund hundert Seiten fasst Gust
    die Etappen und Schauplätze des Völkermords zusammen und wirft
    zugleich einen guten, kritischen Blick auf die deutschen Akteure vor
    Ort. Darunter befanden sich so verschiedene wie Johannes Lepsius
    (deutscher Patriot, aber schliesslich doch noch mehr ein Christ,
    Chronist und humanitärer Aktivist) sowie Kriegsminister Enver Paschas
    Freunde Hans Humann, Marineattaché bei der Botschaft, und Fritz
    Bronsart von Schellendorf, der Chef des Generalstabs. Auf die
    Einleitung folgen 500 Seiten mit einer Auswahl diplomatischer Akten,
    dann deren englische Kurzversion und schliesslich ein Index. Die
    deutsche Dokumentation ist zentral, weil Deutsche als
    Kriegsverbündete privilegierte Zeugen waren, sowohl in unmittelbarer
    Nähe der militärischen und zivilen Eliten als auch mit relativ freiem
    Zugang ins Landesinnere, wo sich der Völkermord abspielte. Die
    Gesamtheit der einschlägigen deutschen diplomatischen Akten hat Gust
    auf dem Internet zugänglich gemacht (www.armenocide.de), wo auch die
    Möglichkeit einer elektronischen Suche besteht.

    Die Propagandaversion

    Yusuf Halaçoglu und sein Team haben sich die Aufgabe stellen lassen,
    eine nationalistische Up-to-date-Version zu formulieren, wie die
    Armenier aus Kleinasien "verschwanden". Vor allem der Band aus dem
    Jahr 2004 bemüht sich darum, auch ausländische Quellen zu
    berücksichtigen, insbesondere prestigeträchtige deutsche. Dabei soll
    das Thema von seiner "mathematischen, das heisst demographischen
    Dimension" angegangen werden. So wird Walter Rössler, der deutsche
    Konsul in Aleppo, als Beleg für die Behauptung genommen, nur etwa
    200"000 Armenier seien während "der Ereignisse im Ersten Weltkrieg"
    umgekommen.

    Rössler machte allerdings in seinem Brief an Reichskanzler Bethmann
    vom 20. Dezember 1915 darauf aufmerksam, dass die von Grossbritannien
    vorgebrachte Zahl von 800"000 armenischen Toten leider realistisch
    sei, und warnte eindringlich vor Gegenpropaganda. Der Missbrauch
    dieser Quelle geht so vor sich: Rössler schätzte im selben Schreiben,
    dass eine halbe Million Deportierter noch lebend Syrien erreichte und
    dass eine weitere halbe Million gar nicht deportiert wurde. Diese
    Million übernehmen die Autoren, subtrahieren sie von den 1,5
    Millionen, die sie selbst als Anzahl kleinasiatischer Armenier
    annehmen, ziehen weitere Hunderttausende ab, die sie als
    auslandabwesend taxieren, und enden so bei einer Minimalzahl, die für
    naive Leser als gestützt durch deutsche Quellen erscheint.

    Wege der Verdrehung

    Gewalt wird nicht nur den deutschen Quellen angetan. Halaçoglu
    spricht in seinem ersten Buch von vorübergehenden Umsiedlungen und
    der vorgesehenen Rückgabe der umfangreichen armenischen Besitztümer.
    Die vielfach bezeugte Wirklichkeit vor Ort, aber auch Quellen des
    Zentralstaats sagen anderes aus: Nach seiner Inspektionsreise nach
    Mittel- und Ostanatolien hielt der Innenminister Talat am 5. Dezember
    1916 befriedigt fest, wie segensreich es gewesen sei, die Armenier zu
    entfernen, und wie erfolgreich die Muslime deren Güter und Läden in
    Besitz genommen hätten.

    Es fehlt an Terrainkenntnis, am Willen zum Gesamtbild und an
    historischer Quellenkritik. So ist es absurd, die Anweisungen in
    einem Telegramm Talats vom 29. August 1915 an die Provinzgouverneure
    Mittel- und Ostanatoliens als einen Beleg dafür zu zitieren, dass bei
    der Deportation keine Vernichtungsabsicht geherrscht habe, die
    Sicherheit gewährleistet gewesen sei, gewalttätige Beamte bestraft
    worden sowie die Katholiken und Protestanten von der Deportation
    ausgeschlossen gewesen seien. Denn die dortigen Verschickungen waren
    zum grossen Teil schon abgeschlossen, inklusive Katholiken und
    Protestanten, die meisten Männer ausserhalb der Städte massakriert,
    Frauen und Kindern vielfacher Drangsal - Massenvergewaltigung,
    Hunger, Durst, Krankheit - ausgesetzt worden, und Talat hatte kurz
    zuvor dem deutschen Botschafter Hohenlohe mitgeteilt: "La question
    arménienne n'existe plus."

    Das Telegramm vom 29. August, das als "Beweis" gegen den Völkermord
    aufgeführt wird, hatte schon Botschafter Hohenlohe als
    Propagandatrick durchschaut. Denn zusammen mit weiteren Telegrammen
    hatte Talat Bey es am 2. September 1915 in deutscher Übersetzung dem
    deutschen Botschafter zuhanden der europäischen Presse übergeben.
    Hohenlohe riet jedoch in seinem Brief vom 4. September dem
    Reichskanzler Bethmann-Hollweg von einer Publikation ab - zu
    offensichtlich war die Propagandalüge, zu grotesk war der Widerspruch
    zu den gegenteiligen Berichten des eigenen Nachrichtendienstes.

    Man nimmt als Historiker erschüttert zur Kenntnis, dass
    Berufskollegen im Staatsdienst die Disziplin und Ordentlichkeit der
    Deportationen, die vorzügliche Verpflegung und gesundheitliche
    Betreuung sowie den komfortablen Transport mittels Eisenbahn oder
    Ochsenwagen behaupten und sich damit brüsten, es habe sich dabei
    "wohl um die systematischste Organisation von Umsiedlungen im 20.
    Jahrhundert" gehandelt. Vollends tragikomisch wird es, wenn der
    Steuererlass des Innenministeriums für die Deportierten vom 4. August
    1915 - als das meiste armenische Gut geraubt war und viele Armenier
    schon getötet waren - als besonders humanitäre Massnahme des Staates
    gepriesen wird. Solche Geschichtsvorstellungen sind unhaltbar und
    Teil einer zu überwindenden politischen Kultur. Justizminister Çiçeks
    Rückgriff auf nationalistische Instinkte, um eine kritische
    Historikerkonferenz zu torpedieren, belegt dies. Die heftigen
    Reaktionen in der Presse gegen Çiçek nähren indes die Hoffnung, dass
    die Öffentlichkeit dies fortan nicht mehr duldet und die Konferenz
    bald doch noch stattfinden kann.

    Hans-Lukas Kieser

    Taner Akçam: From empire to republic. Turkish nationalism and the
    Armenian genocide. Zed Books, London 2004. 288"S.

    Taner Akçam: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und
    die türkische Nationalbewegung. Verlag Hamburger Edition, Hamburg
    2004. 439"S., Fr. 28.60, "16.-.

    Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16.
    Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts.
    Verlag zu Klampen, Springe 2005. 675"S., Fr. 69.-, "40.-.

    Yusuf Halaçoglu: Ermeni tehciri ve gerçekler (1914-1918). Türk Tarih
    Kurumu, Ankara 2001. Im gleichen Verlag auf Englisch: Facts on the
    relocation of Armenians 1914-1918. 2002.

    Yusuf Halaçoglu, Ramazan Çalk, Kemal Çiçek, Hikmet Özdemir, Ömer
    Turan: Ermeniler. Sürgün ve göç. Türk Tarih Kurumu, Ankara 2004.
Working...
X