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Turkisches Gericht Klagt Pamuk An

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    TURKISCHES GERICHT KLAGT PAMUK AN
    von Boris Kalnoky

    Die Welt, Deutschland
    1 sept. 2005

    Dem Schriftsteller droht wegen einer Armenien-Äußerung Haftstrafe

    Istanbul - In ihrem ehrgeizigen Streben, eines Tages zur europaischen
    Staatenfamilie gehoren zu durfen, macht die Turkei vieles eindrucksvoll
    richtig. Mancher Schritt geht freilich so arg daneben, daß selbst
    wohlgesinnte Beobachter Bauchgrimmen bekommen. Der bislang schrillste
    Mißklang ist die Entscheidung eines Istanbuler Staatsanwaltes, den
    international anerkanntesten Schriftsteller des Landes vor Gericht zu
    zerren. Orhan Pamuk muß sich am 16. Dezember des Vorwurfs erwehren,
    die "turkische Identitat verunglimpft" zu haben.

    Konkret geht es um eine Aussage Pamuks, in der Turkei seien 30 000
    Kurden und eine Million Armenier getotet worden und niemand rede
    daruber.

    Viel wird wirklich nicht daruber geredet, denn der Gummi-Paragraph
    301/1, der besser zu einem totalitaren Regime als in die demokratische
    Turkei passen wurde, bedroht jeden mit sechs bis 36 Monaten Gefangnis,
    der das tut. Dieses Strafmaß gilt auch fur Pamuk.

    Was denn die "turkische Identitat" sein soll, die es da mit Gewalt
    vor jeglicher Kritik zu schutzen gilt, das bleibt ebenso unerklart
    wie die Frage, was genau an Pamuks Aussagen einen Angriff auf besagte
    Identitat darstellen soll. Daß mindestens 30 000 Kurden getotet wurden,
    das gilt allgemein als historisch korrekt und wurde indirekt auch
    von turkischen Staatsanwalten ins Feld gefuhrt, als es darum ging,
    Kurdenfuhrer Abdullah Ocalan zu verurteilen. Freilich war da nur von
    "mehr als 30 000 Todesopfern" im Guerillakrieg der PKK die Rede. Daß
    die meisten von ihnen Kurden waren, wurde nicht prazisiert.

    Was die armenischen Opfer betrifft, so wird man Pamuk vermutlich
    bitten, Beweise fur die Zahl "eine Million" zu erbringen. Das
    kann schwer werden, da es keine verlaßlichen Opferzahlen gibt. Die
    armenischen Behauptungen von "1,5 Millionen Opfern" beim "Genozid" von
    1915 sind mit Sicherheit ubertrieben, die turkischen Regierungszahlen
    von rund "300 000 Opfern" der "Vertreibung" gelten bei den meisten
    nichtturkischen Historikern als stark untertrieben. 600 000 bis 800
    000 Todesopfer ist ein Mittelwert, auf den sich gemaßigte Historiker
    eingestellt haben, freilich ohne diese Zahl dokumentieren zu konnen.

    Aber die Zahlenklauberei lenkt nur von der Hauptsache ab, daß es
    namlich zu Vergehen gegen die Menschlichkeit gekommen ist, fur die der
    Staat, dessen Schutz die damaligen ottomanischen Burger anbefohlen
    waren, direkt verantwortlich war, da es doch die Regierung war,
    die die Vertreibung der armenischen Zivilbevolkerung anordnete und
    organisierte. Daß es dabei zu großen Verlusten an Menschenleben kommen
    wurde, zumal die Opfer ohne Verpflegung oder Infrastruktur bewußt
    in die Glutholle der syrischen Wuste gebracht wurden, das mussen die
    turkischen Fuhrer gewußt und in Kauf genommen haben.

    Die große Frage ist nun, ob im Verfahren gegen Pamuk ein ubereifriger
    konservativer Staatsanwalt als Einzelganger vorprescht, um den besten
    geistigen Botschafter der liberaleren Turkei außer Gefecht zu setzen
    - oder ob dahinter Politiker die Faden ziehen. Immerhin lauft seit
    Monaten eine staatlich organisierte und koordinierte Kampagne in der
    Genozid-Debatte. Die Regierung hat erkannt, daß das internationale
    "Vorurteil", es habe einen Genozid an den Armeniern gegeben, potentiell
    zu großem politischen Schaden fuhren kann, und ist nun bemuht, die
    Initiative zu ergreifen, um die Genozid-These zu entkraften. Das
    Verfahren gegen Pamuk paßt in diese Strategie ebenso hinein wie vor
    einiger Zeit die Torpedierung einer Historikerkonferenz. Da hatte
    der Justizminister vor dem Parlament gegen die Organisatoren gewutet,
    und diese hatten prompt die ganze Veranstaltung abgeblasen.

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