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Der "Musa Dagh"

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    DER "MUSA DAGH"
    Claudia Kuehner

    Tages-Anzeiger, Deutschland.
    10. September 2005

    Im Sommer 1929 verbrachte Franz Werfel einige Zeit in Damaskus. Dort
    traf er in einem Kaffeehaus auf einen Armenier, der begann, ihm
    vom Schicksal seines Volkes zu erzaehlen. Es war der erste Genozid
    der modernen Zeit. Mitten im Ersten Weltkrieg, 1915/16, vertrieb
    die tuerkische Armee auf Befehl der Jungtuerken Enver Pascha und
    Talaat Bey die in der Osttuerkei lebenden christlichen Armenier
    in die mesopotamische Wueste, unter dem Vorwand, sie stuenden auf
    der Seite von Russland, mit dem die Tuerkei im Krieg war, und sie
    wollten einen eigenen Staat ausrufen. Mit unvorstellbarer Barbarei
    gingen sie gegen die Armenier vor, in der Absicht, das ganze Volk
    auszurotten. 1,5 Millionen kamen um, Frauen, Maenner, Greise,
    Kinder. Die meisten starben auf den Todesmaerschen; viele wurden
    erschossen, erschlagen, ihre Koepfe auf Speere aufgespiesst. Alles
    ist fotografisch dokumentiert. Die Armenier, die im 4. Jahrhundert als
    erstes Volk geschlossen zum Christentum uebergetreten waren, zumeist
    als erstklassige Haendler und Handwerker lebten und eine reiche Kultur
    geschaffen haben, waren ueber die Jahrhunderte immer wieder tuerkischer
    Verfolgung ausgesetzt. In vielem glich ihr Schicksal dem juedischen.

    Werfel war so erschuettert, dass er beschloss, einen Roman zu
    schreiben. Er betrieb ausgedehnte Studien, 1933 erschien der Roman
    "Die vierzig Tage des Musa Dagh" - ein gewaltiges Werk von vielen
    hundert Seiten, doch fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite.

    Bis heute ist er d a s literarische Monument der armenischen Geschichte
    geblieben. Im Mittelpunkt stehen einige wenige Dorfbewohner, die
    vor den anrueckenden tuerkischen Truppen auf diesen "Mosesberg"
    (die Uebersetzung von Musa Dagh) - am Mittelmeer, in der Naehe des
    heutigen Iskanderun gelegen - fliehen konnten und nun heroischen
    Widerstand leisten. Angefuehrt werden sie von dem Aristokraten
    Gabriel Bagradian, der einst in der tuerkischen Armee als Offizier
    gedient und viele Jahre in Paris gelebt hat, und dem Priester Ter
    Haigasun. Ihnen gelingt es trotz ihrer Unterlegenheit dreimal, den
    tuerkischen Ansturm abzuwehren. Die Rettung kommt schliesslich von
    einem alliierten Flottengeschwader, das die Armenier aufnimmt. Gabriel
    Bagradian aber ueberlebt nicht.

    Werfel geniesst bis heute die dankbare Verehrung dieses Volkes. Der
    Roman des christlich getauften Juden wurde 1933 von den Nazis sofort
    verboten und von den deutschen Juden umso mehr gelesen, die die
    Schicksalsgemeinschaft erkannten. Von Hiler wiederum wird kolportiert,
    er habe vor SS-Offizieren gesagt, wer sich denn noch an die Vertreibung
    der Armenier erinnere.

    Zu den vielen Figuren, die den Roman bevoelkern und alle Facetten
    menschlichen Verhaltens und Fuehlens in solch auswegloser Lage zeigen,
    gehoert auch ein protestantischer deutscher Pastor, gezeichnet nach
    der realen Figur Johannes Lepsius. Er gehoerte zu jenen Deutschen -
    das Kaiserreich war mit den Tuerken verbuendet -, die verzweifelt
    versuchten, zu Gunsten der Armenier auf die tuerkische Fuehrung
    einzuwirken. Der andere Deutsche, den die Armenier aehnlich wie
    Werfel verehren, ist der Schriftsteller Armin T. Wegner (1886 -1978),
    der als Sanitaetssoldat Zeuge des Voelkermordes wurde und in einem
    offenen Brief an den amerikanischen Praesidenten Woodrow Wilson
    protestierte. Auch er verarbeitete das Erlebte spaeter literarisch in
    "Weg ohne Heimkehr" und "Der Knabe Huessein". Ihn erbitterte vor allem,
    dass das mit der Tuerkei verbuendete deutsche Kaiserreich gegen den
    Massenmord nichts tat.

    Auch Wegner musste 1934 aus Deutschland fliehen, nachdem er Hitler
    aufgefordert hatte, der beginnenden Judenverfolgung Einhalt zu
    gebieten.

    Bis heute hat jede tuerkische Regierung den Voelkermord geleugnet,
    doch genau dadurch geraet er nicht in Vergessenheit, wie auch der
    juengste schweizerisch -tuerkische Streit um den rechten Parteichef
    Perincek wieder zeigt. Wer sich den Hintergrund literarisch aneignen
    will, muss den "Musa Dagh" lesen.
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