literaturkritik.de, Deutschland
19 dec 2012
Leben und Schreiben zwischen Stambul und Stromboli
Erster Band einer Werkausgabe Armin T. Wegners erschienen
Von Norbert Mecklenburg
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
Armin T. Wegner (1886-1978) ist bisher bedauerlicherweise kaum noch
mit seinem literarischen Werk, allenfalls mit seiner Biografie
präsent, die so markant in die Gewaltgeschichte der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts verstrickt war. Sohn eines preußischen Beamten und
einer engagierten Frauenrechtlerin und Pazifistin, promovierter Jurist
und bereits als Schriftsteller hervorgetreten, erlebte und erlitt er
das Grauen des modernen Krieges als deutscher Sanitätssoldat in Polen,
Istanbul, an den Dardanellen, in Bagdad und wurde erschütterter
Augenzeuge des Völkermordes an den Armeniern, den das mit dem
deutschen verbündete osmanische Reich im Schatten des Kriegsgeschehens
1915/16 bestialisch betrieb.
Nach dem Krieg erhob Wegner vielfältig öffentlich Anklage in dieser
Sache, engagierte sich auf der Seite der Revolutionäre und Pazifisten,
unternahm weitere Orientreisen, etablierte sich in der Weimarer
Republik als erfolgreicher Autor und lebte mit seiner Frau, der
Schriftstellerin Lola Landau, zwischen Berlin und ihrem Landsitz in
der Mark Brandenburg. Infolge eines ebenso redlichen wie naiven
Appells an Adolf Hitler, die Judenverfolgung zu stoppen (wie naiv, ja
geradezu verblendet, das kann man in Landaus Autobiografie ?Vor dem
Vergessen` nachlesen), verhaftet, gefoltert, in KZ-Haft überführt,
ging er 1934 ins Exil und lebte seit 1936 in Rom und Positano, ohne
noch größere literarische Werke hervorzubringen.
Nach Kriegsende blieb er, der auf einem Schriftstellerkongress 1947
als verstorben betrauert wurde, lange ein Vergessener. 1974 und 1976
kamen dann zwei verdienstvolle Auswahlausgaben seiner Lyrik und Prosa
im Peter Hammer Verlag heraus (?Fällst du, umarme auch die Erde`;
?Odyssee der Seele`), Forschungsarbeiten erschienen, und eine bis
heute erfreulich aktive Armin T. Wegner-Gesellschaft, Auftraggeber
dieser neuen Werkausgabe, wurde in Wuppertal, seinem Geburtsort,
gegründet. Im Zusammenhang mit fortschreitender internationaler
Aufarbeitung des Armenier-Genozids (?Aghet`) trat auch die Stimme
Wegners wieder mehr hervor. 2011 wurde sein Lichtbildvortrag ?Die
Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste` philologisch
mustergültig von Andreas Meier ediert, und ein instruktiver Sammelband
mit Studien und Zeugnissen kam heraus, wie Meiers Edition und die neue
Werkausgabe im Wallstein Verlag, der sich dieses Autors damit in
beachtlicher Weise annimmt.
Nun liegt ?Der Knabe Hüssein` als Auftakt zu dieser Ausgabe vor, die
sich deren Herausgeber, der Wuppertaler Komponist und Musiker Ulrich
Klan, der sich um den Autor sehr verdient gemacht hat, mehrbändig, der
Verlag, vorsichtiger, dreibändig denkt. Was bietet dieser erste Band,
dessen Schutzumschlag ein malerisches Foto des spätosmanischen
Istanbul (bei Wegner: ?Stambul`) ziert und dessen Inhalt aus vier
Teilen mit 55 Stücken mehr oder weniger kurzer Erzählprosa sowie einem
Anhang besteht? Um es gleich vorweg zu sagen: Es sind überwiegend
bereits in den genannten Auswahlbänden nachgedruckte Texte, und es
sind sehr ungleichwertige Teile.
Das erste, ein unreifes, literarisch geringwertiges Büchlein ?Gedichte
in Prosa` von 1910 (dessen Einleitung und erster Teil, ohne dass das
vermerkt wäre, weggelassen wurde), ist eher überflüssig. Der
Vierundzwanzigjährige zeigt sich hier als großes sprach- und
fantasieverliebtes Kind. Der zweite Teil, sensible, anschauliche
Reise- und Kriegsaufzeichnungen von 1915/16, unter dem Titel ?Im Hause
der Glückseligkeit` 1920 erschienen (hier ist der Schlussteil ohne
Hinweis weggelassen worden), ist stofflich und sprachlich zumindest
interessant. Kriegsgeschehen und -folgen, die Schönheit der alten
Metropole zwischen Europa und Orient, kreatürliche Solidarität mit
Armen und Kranken, Eseln und Katzen ` das mischt sich in bunter Folge.
Herausragend der Text ?Reise nach den Dardanellen`, dessen Dichte an
ähnliche Abschnitte in der ?Ästhetik des Widerstands` von Peter Weiss
erinnert.
Der dritte, mit Recht titelgebende Teil bildet mit den (diesmal
vollständigen) ?türkischen Novellen` von 1921 den Höhe- und
Schwerpunkt des Bandes. Er besteht aus vier gleich intensiv
gestalteten Erzählungen aus der osmanischen Türkei im und vor dem
Ersten Weltkrieg. Zwei porträtieren die ?Täter als Opfer`, eine ein
?Opfer als Täter`. Und die letzte bietet ein Vorspiel des Genozids:
eine Episode aus den Armenier-Massakern von 1895/96, die damals
europaweit folgenlose Empörung auslösten, heute jedoch, im Schatten
des noch unvergleichlich Grauenvolleren, das zwanzig Jahre später
geschah, fast ganz vergessen sind.
?Der Knabe Hüssein` ist ein elfjähriger türkischer Bauernjunge, dessen
Vater im Krieg erschlagen wurde. Er wird aus Hass und Rache innerhalb
von drei Jahren, gestählt im Einsatz bei Gallipoli, zu einer
mörderischen Kampfmaschine und ist zugleich ein zum Verlieben schöner
Jüngling. Der ganze Text ist ?die liebevollste, zärtlichste
Massenmördergeschichte, die ich kenne` (Volker Weidermann). ` ?Osman`:
Ein glücklich jungverheirateter Bauer aus Westanatolien wird zum
Kriegsdienst eingezogen, das heißt ins Unglück, das nun über ihn und
seine Familie hereinbricht, ohne dass er seinen naiv-islamischen
Glauben und seine Heimatliebe verliert. Er wird Zeuge aller Gräuel
dieses Krieges, einschließlich des Armenier-Genozids. Eine
Kriegsverletzung macht ihn zum Krüppel, seine Frau hat einen anderen
Mann genommen, so wird er in Istanbul Bettler, der im Traum das schöne
Paradies sieht ` eine von Empathie erfüllte, tieftraurige Erzählung.
?Der Bankier`: Onigk Karribian, ein armenischer Handwerkersohn in
Bagdad, ist aus Ehrgeiz, Hass, Machtgier und Vergeltungsdrang
angesichts der osmanischen Untaten an seinem Volk zum reichen und
skrupellosen Geschäftsmann, fanatischen politischen Widerstandskämpfer
und heimlichen Spion geworden. Seine Pläne und Machenschaften enden
jäh, als er im Rahmen des allgemeinen Genozid-Geschehens verhaftet und
hingerichtet und seine Familie auf den Todesmarsch geschickt wird.
Diese Erzählung verbindet die wenig authentische Wiedergabe einer
Deportations-Atmosphäre im osmanischen Bagdad von 1915/16 mit der Wahl
einer untypischen, nach sehr problematischen Stereotypen modellierten
Hauptfigur.
?Der Sturm auf das Frauenbad` ` Massaker und Romanze: Aus der
Pogrom-Serie von 1895/96 hat Wegner die Handlung in der
ostanatolischen Stadt Erzurum im Spätherbst 1896 (richtig 1895)
spielen lassen und, sich ziemlich flüchtig und willkürlich an seine
Quellen anlehnend, vor allem wohl die Anklageschrift von Johannes
Lepsius ?Armenien und Europa` (1897), mit ebenso treffenden wie
grell-grausamen Strichen vergegenwärtigt. Inmitten der bestialischen,
vom Provinzgouverneur Schakir Pascha (der Name vielleicht eine
Kontamination aus denen des ebenso genannten Großwesirs bis 1895 und
des jungtürkischen Genozid-Organisators Dr. Bahaeddin Schakir, der
1914/15 von Erzurum aus operierte) selbst organisierten und
durchgeführten Gräueltaten an den armenischen Menschen der Stadt
vollzieht sich eine menschliche Gegengeschichte: Ausgerechnet der Sohn
dieses Schlächters, ein junger osmanischer Offizier mit französischer
Bildung, der sich in eine schöne armenische Witwe verliebt hat, rettet
diese vor Schändung und Mord und flieht mit ihr über Mardin Richtung
Mossul, auf ein neues Leben hoffend.
Diese vier ?türkischen Novellen` Wegners stellen eine bewundernswerte
Leistung an interkultureller erzählerischer Darstellungskunst dar.
Zugleich sind sie literarisierte Zeitzeugnisse eines mitfühlenden und
-leidenden Herzens aus der ersten Epoche der Brutalitäten des frühen
20. Jahrhunderts. Dem tut nur wenig Abbruch, dass der Erzähler ` wie
Hüseyin Erdem nachgewiesen hat ` ab und zu danebengreift, zum Beispiel
wenn er wiederholt von muslimischen ?Priestern` spricht, und dass er
sich nicht selten eurozentrisch herablassenden, ja rassistisch
arroganten Vorurteilen und Stereotypen verhaftet zeigt ` dem, was seit
Edward W. Said Orientalismus genannt wird. (Der hierin besonders
problematische Text ?Türkische Leute` aus ?Im Hause der
Glückseligkeit` ist in die Ausgabe nicht aufgenommen worden.)
Der vierte Teil des Bandes bündelt sehr heterogene frühe und späte,
überwiegend autobiografisch gefärbte Prosa. Darunter verstecken sich
zwei besonders markante Stücke. Das eine ist der wertvollste Text des
ganzen Bandes, die erschütternde Kurzgeschichte ?Der Knabe Atam` von
1932: noch einmal eine jetzt mit erzählerischer Reife und menschlicher
Empathie dargebotene Episode aus dem Grauen des Armenier-Genozids, dem
Wegners geplantes, in geringwertigen Fragmenten überliefertes, als
Ganzes jedoch nicht zustande gekommenes Hauptwerk ?Die Austreibung`
beziehungsweise ?Schatten vor der Sonne` gewidmet war. Im April 1915
werden die Armenier der als ?armenische Festung` legendenhaften Stadt
Seitun (Zeytun) im Taurusgebirge deportiert. Wegner erzählt ebenso
anrührend wie lakonisch die exemplarische Geschichte vom Ende eines
armenischen Winzers, Bienenzüchters und Schusters und seiner Familie.
Sie fliehen, von den mörderischen türkischen Soldaten verfolgt, in die
Berge und stürzen sich gemeinsam von einem Felsen in den Tod. Der
fünfjährige Atam bleibt allein zurück.
Das andere markante Prosastück in diesem letzten Teil bildet zugleich
sinnig den Abschluss des ganzen Bandes: ?Zwiegespräch mit einem
Toten`, nach 1957 entstanden und bisher unveröffentlicht. Es
verfremdet auf abgründige Weise Trauma und Tragik des Schriftstellers
Wegner: eine erzählerisch nur wenig distanzierte Selbstdarstellung,
die ebenso gezielt wie gequält zwischen Selbstüberschätzung und
Selbstentblößung, Selbstverleugnung und Selbstbewahrung hin- und
herpendelt und deren schwarze, bittere Ironie ein ratloses
Gegengewicht darstellt zu den eingestreuten hochgestochenen und hohlen
Deutungsansätzen für das zeitgeschichtliche Maximalverbrechen, dessen
Opfer auch der Autor geworden war.
Im Anhang des Bandes findet man Nützliches, unter anderem einen
Lebenslauf des Autors, Publikationsnachweise (aber, wie gesagt, ohne
Hinweise auf Kürzungen) und einen sensiblen Essay über Wegners
Erzählungen von Volker Weidermann, der bereits 2008 in seinem ?Buch
der verbrannten Bücher` auch diesen Autor gewürdigt hatte. Was man im
Anhang leider nicht findet, sind Erläuterungen, die ein Leser aber oft
dringend braucht: sowohl hinsichtlich der Einordnung der einzelnen
Werke in die Kontexte von Leben, Schreiben, Zeitgeschichte als auch
hinsichtlich mancher erklärungs- oder korrekturbedürftiger Stellen.
So sind zum Beispiel in der Erzählung ?Der Sturm auf das Frauenbad`
die Lokalisierung und Datierung des Geschehens auf 1896 falsch. Die
unter dem ?blutigen Sultan` Abdülhamid verübten Massaker in und um
Erzurum, von denen die Erzählung handelt, fanden am 30. Oktober 1895
statt. Und ein ?Frauenbad` wurde nicht in Erzurum, sondern (am 30.
November 1895) in Kayseri gestürmt. Auch eine Passage in der Erzählung
?Der Bankier` über den 22. ?Tamus` (Wegner meint wohl den türkischen `
nicht arabischen! ` Namen ?temmuz` für den Monat Juli) im Jahre ?1315
der Hedschra` (falsch erläutert als 1899), an dem angeblich ?auf
Befehl des Sultans fast alle armenischen Männer in den Städten des
Reiches getötet` worden seien, ist sachlich und zeitlich völlig
irreführend. (Die bereits grauenvoll großen Massaker vor dem Genozid
von 1915 fanden 1894-96 und 1909 statt.)
Diese Beispiele ließen sich durch andere vermehren. Sie sollen nur
zeigen, wie wertvoll kompetente Sacherläuterungen wären. Den weiteren
Bänden dieser verdienstvollen Werkausgabe werden solche hoffentlich
beigegeben werden. Der erste mit seinem Schwerpunkt auf drei
Erzählungen um die Armenier-Massaker stößt heute vielleicht dadurch
auf erhöhte Aufmerksamkeit, dass es mittlerweile auch viele
historiografische und andere literarische Zeugnisse dieses Geschehens
gibt. So hat kürzlich der angesehene liberale türkische Journalist
Hasan Cemal ein beachtenswertes Buch ?Ermeni Soykırımı` (?Der
Armenier-Völkermord`) veröffentlicht (Istanbul 2012). Hasan Cemal ist
Enkel jenes Cemal Pascha, der oberster Verantwortlicher genau der
Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen war, die Wegner in seiner
unvergesslichen Kurzgeschichte ?Der Knabe Atam` dargestellt hat.
Armin T. Wegner: Der Knabe Hüssein und andere Erzählungen.
Herausgegeben von Volker Weidermann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
311 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311046
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=17435
From: Baghdasarian
19 dec 2012
Leben und Schreiben zwischen Stambul und Stromboli
Erster Band einer Werkausgabe Armin T. Wegners erschienen
Von Norbert Mecklenburg
Besprochene Bücher / Literaturhinweise
Armin T. Wegner (1886-1978) ist bisher bedauerlicherweise kaum noch
mit seinem literarischen Werk, allenfalls mit seiner Biografie
präsent, die so markant in die Gewaltgeschichte der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts verstrickt war. Sohn eines preußischen Beamten und
einer engagierten Frauenrechtlerin und Pazifistin, promovierter Jurist
und bereits als Schriftsteller hervorgetreten, erlebte und erlitt er
das Grauen des modernen Krieges als deutscher Sanitätssoldat in Polen,
Istanbul, an den Dardanellen, in Bagdad und wurde erschütterter
Augenzeuge des Völkermordes an den Armeniern, den das mit dem
deutschen verbündete osmanische Reich im Schatten des Kriegsgeschehens
1915/16 bestialisch betrieb.
Nach dem Krieg erhob Wegner vielfältig öffentlich Anklage in dieser
Sache, engagierte sich auf der Seite der Revolutionäre und Pazifisten,
unternahm weitere Orientreisen, etablierte sich in der Weimarer
Republik als erfolgreicher Autor und lebte mit seiner Frau, der
Schriftstellerin Lola Landau, zwischen Berlin und ihrem Landsitz in
der Mark Brandenburg. Infolge eines ebenso redlichen wie naiven
Appells an Adolf Hitler, die Judenverfolgung zu stoppen (wie naiv, ja
geradezu verblendet, das kann man in Landaus Autobiografie ?Vor dem
Vergessen` nachlesen), verhaftet, gefoltert, in KZ-Haft überführt,
ging er 1934 ins Exil und lebte seit 1936 in Rom und Positano, ohne
noch größere literarische Werke hervorzubringen.
Nach Kriegsende blieb er, der auf einem Schriftstellerkongress 1947
als verstorben betrauert wurde, lange ein Vergessener. 1974 und 1976
kamen dann zwei verdienstvolle Auswahlausgaben seiner Lyrik und Prosa
im Peter Hammer Verlag heraus (?Fällst du, umarme auch die Erde`;
?Odyssee der Seele`), Forschungsarbeiten erschienen, und eine bis
heute erfreulich aktive Armin T. Wegner-Gesellschaft, Auftraggeber
dieser neuen Werkausgabe, wurde in Wuppertal, seinem Geburtsort,
gegründet. Im Zusammenhang mit fortschreitender internationaler
Aufarbeitung des Armenier-Genozids (?Aghet`) trat auch die Stimme
Wegners wieder mehr hervor. 2011 wurde sein Lichtbildvortrag ?Die
Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste` philologisch
mustergültig von Andreas Meier ediert, und ein instruktiver Sammelband
mit Studien und Zeugnissen kam heraus, wie Meiers Edition und die neue
Werkausgabe im Wallstein Verlag, der sich dieses Autors damit in
beachtlicher Weise annimmt.
Nun liegt ?Der Knabe Hüssein` als Auftakt zu dieser Ausgabe vor, die
sich deren Herausgeber, der Wuppertaler Komponist und Musiker Ulrich
Klan, der sich um den Autor sehr verdient gemacht hat, mehrbändig, der
Verlag, vorsichtiger, dreibändig denkt. Was bietet dieser erste Band,
dessen Schutzumschlag ein malerisches Foto des spätosmanischen
Istanbul (bei Wegner: ?Stambul`) ziert und dessen Inhalt aus vier
Teilen mit 55 Stücken mehr oder weniger kurzer Erzählprosa sowie einem
Anhang besteht? Um es gleich vorweg zu sagen: Es sind überwiegend
bereits in den genannten Auswahlbänden nachgedruckte Texte, und es
sind sehr ungleichwertige Teile.
Das erste, ein unreifes, literarisch geringwertiges Büchlein ?Gedichte
in Prosa` von 1910 (dessen Einleitung und erster Teil, ohne dass das
vermerkt wäre, weggelassen wurde), ist eher überflüssig. Der
Vierundzwanzigjährige zeigt sich hier als großes sprach- und
fantasieverliebtes Kind. Der zweite Teil, sensible, anschauliche
Reise- und Kriegsaufzeichnungen von 1915/16, unter dem Titel ?Im Hause
der Glückseligkeit` 1920 erschienen (hier ist der Schlussteil ohne
Hinweis weggelassen worden), ist stofflich und sprachlich zumindest
interessant. Kriegsgeschehen und -folgen, die Schönheit der alten
Metropole zwischen Europa und Orient, kreatürliche Solidarität mit
Armen und Kranken, Eseln und Katzen ` das mischt sich in bunter Folge.
Herausragend der Text ?Reise nach den Dardanellen`, dessen Dichte an
ähnliche Abschnitte in der ?Ästhetik des Widerstands` von Peter Weiss
erinnert.
Der dritte, mit Recht titelgebende Teil bildet mit den (diesmal
vollständigen) ?türkischen Novellen` von 1921 den Höhe- und
Schwerpunkt des Bandes. Er besteht aus vier gleich intensiv
gestalteten Erzählungen aus der osmanischen Türkei im und vor dem
Ersten Weltkrieg. Zwei porträtieren die ?Täter als Opfer`, eine ein
?Opfer als Täter`. Und die letzte bietet ein Vorspiel des Genozids:
eine Episode aus den Armenier-Massakern von 1895/96, die damals
europaweit folgenlose Empörung auslösten, heute jedoch, im Schatten
des noch unvergleichlich Grauenvolleren, das zwanzig Jahre später
geschah, fast ganz vergessen sind.
?Der Knabe Hüssein` ist ein elfjähriger türkischer Bauernjunge, dessen
Vater im Krieg erschlagen wurde. Er wird aus Hass und Rache innerhalb
von drei Jahren, gestählt im Einsatz bei Gallipoli, zu einer
mörderischen Kampfmaschine und ist zugleich ein zum Verlieben schöner
Jüngling. Der ganze Text ist ?die liebevollste, zärtlichste
Massenmördergeschichte, die ich kenne` (Volker Weidermann). ` ?Osman`:
Ein glücklich jungverheirateter Bauer aus Westanatolien wird zum
Kriegsdienst eingezogen, das heißt ins Unglück, das nun über ihn und
seine Familie hereinbricht, ohne dass er seinen naiv-islamischen
Glauben und seine Heimatliebe verliert. Er wird Zeuge aller Gräuel
dieses Krieges, einschließlich des Armenier-Genozids. Eine
Kriegsverletzung macht ihn zum Krüppel, seine Frau hat einen anderen
Mann genommen, so wird er in Istanbul Bettler, der im Traum das schöne
Paradies sieht ` eine von Empathie erfüllte, tieftraurige Erzählung.
?Der Bankier`: Onigk Karribian, ein armenischer Handwerkersohn in
Bagdad, ist aus Ehrgeiz, Hass, Machtgier und Vergeltungsdrang
angesichts der osmanischen Untaten an seinem Volk zum reichen und
skrupellosen Geschäftsmann, fanatischen politischen Widerstandskämpfer
und heimlichen Spion geworden. Seine Pläne und Machenschaften enden
jäh, als er im Rahmen des allgemeinen Genozid-Geschehens verhaftet und
hingerichtet und seine Familie auf den Todesmarsch geschickt wird.
Diese Erzählung verbindet die wenig authentische Wiedergabe einer
Deportations-Atmosphäre im osmanischen Bagdad von 1915/16 mit der Wahl
einer untypischen, nach sehr problematischen Stereotypen modellierten
Hauptfigur.
?Der Sturm auf das Frauenbad` ` Massaker und Romanze: Aus der
Pogrom-Serie von 1895/96 hat Wegner die Handlung in der
ostanatolischen Stadt Erzurum im Spätherbst 1896 (richtig 1895)
spielen lassen und, sich ziemlich flüchtig und willkürlich an seine
Quellen anlehnend, vor allem wohl die Anklageschrift von Johannes
Lepsius ?Armenien und Europa` (1897), mit ebenso treffenden wie
grell-grausamen Strichen vergegenwärtigt. Inmitten der bestialischen,
vom Provinzgouverneur Schakir Pascha (der Name vielleicht eine
Kontamination aus denen des ebenso genannten Großwesirs bis 1895 und
des jungtürkischen Genozid-Organisators Dr. Bahaeddin Schakir, der
1914/15 von Erzurum aus operierte) selbst organisierten und
durchgeführten Gräueltaten an den armenischen Menschen der Stadt
vollzieht sich eine menschliche Gegengeschichte: Ausgerechnet der Sohn
dieses Schlächters, ein junger osmanischer Offizier mit französischer
Bildung, der sich in eine schöne armenische Witwe verliebt hat, rettet
diese vor Schändung und Mord und flieht mit ihr über Mardin Richtung
Mossul, auf ein neues Leben hoffend.
Diese vier ?türkischen Novellen` Wegners stellen eine bewundernswerte
Leistung an interkultureller erzählerischer Darstellungskunst dar.
Zugleich sind sie literarisierte Zeitzeugnisse eines mitfühlenden und
-leidenden Herzens aus der ersten Epoche der Brutalitäten des frühen
20. Jahrhunderts. Dem tut nur wenig Abbruch, dass der Erzähler ` wie
Hüseyin Erdem nachgewiesen hat ` ab und zu danebengreift, zum Beispiel
wenn er wiederholt von muslimischen ?Priestern` spricht, und dass er
sich nicht selten eurozentrisch herablassenden, ja rassistisch
arroganten Vorurteilen und Stereotypen verhaftet zeigt ` dem, was seit
Edward W. Said Orientalismus genannt wird. (Der hierin besonders
problematische Text ?Türkische Leute` aus ?Im Hause der
Glückseligkeit` ist in die Ausgabe nicht aufgenommen worden.)
Der vierte Teil des Bandes bündelt sehr heterogene frühe und späte,
überwiegend autobiografisch gefärbte Prosa. Darunter verstecken sich
zwei besonders markante Stücke. Das eine ist der wertvollste Text des
ganzen Bandes, die erschütternde Kurzgeschichte ?Der Knabe Atam` von
1932: noch einmal eine jetzt mit erzählerischer Reife und menschlicher
Empathie dargebotene Episode aus dem Grauen des Armenier-Genozids, dem
Wegners geplantes, in geringwertigen Fragmenten überliefertes, als
Ganzes jedoch nicht zustande gekommenes Hauptwerk ?Die Austreibung`
beziehungsweise ?Schatten vor der Sonne` gewidmet war. Im April 1915
werden die Armenier der als ?armenische Festung` legendenhaften Stadt
Seitun (Zeytun) im Taurusgebirge deportiert. Wegner erzählt ebenso
anrührend wie lakonisch die exemplarische Geschichte vom Ende eines
armenischen Winzers, Bienenzüchters und Schusters und seiner Familie.
Sie fliehen, von den mörderischen türkischen Soldaten verfolgt, in die
Berge und stürzen sich gemeinsam von einem Felsen in den Tod. Der
fünfjährige Atam bleibt allein zurück.
Das andere markante Prosastück in diesem letzten Teil bildet zugleich
sinnig den Abschluss des ganzen Bandes: ?Zwiegespräch mit einem
Toten`, nach 1957 entstanden und bisher unveröffentlicht. Es
verfremdet auf abgründige Weise Trauma und Tragik des Schriftstellers
Wegner: eine erzählerisch nur wenig distanzierte Selbstdarstellung,
die ebenso gezielt wie gequält zwischen Selbstüberschätzung und
Selbstentblößung, Selbstverleugnung und Selbstbewahrung hin- und
herpendelt und deren schwarze, bittere Ironie ein ratloses
Gegengewicht darstellt zu den eingestreuten hochgestochenen und hohlen
Deutungsansätzen für das zeitgeschichtliche Maximalverbrechen, dessen
Opfer auch der Autor geworden war.
Im Anhang des Bandes findet man Nützliches, unter anderem einen
Lebenslauf des Autors, Publikationsnachweise (aber, wie gesagt, ohne
Hinweise auf Kürzungen) und einen sensiblen Essay über Wegners
Erzählungen von Volker Weidermann, der bereits 2008 in seinem ?Buch
der verbrannten Bücher` auch diesen Autor gewürdigt hatte. Was man im
Anhang leider nicht findet, sind Erläuterungen, die ein Leser aber oft
dringend braucht: sowohl hinsichtlich der Einordnung der einzelnen
Werke in die Kontexte von Leben, Schreiben, Zeitgeschichte als auch
hinsichtlich mancher erklärungs- oder korrekturbedürftiger Stellen.
So sind zum Beispiel in der Erzählung ?Der Sturm auf das Frauenbad`
die Lokalisierung und Datierung des Geschehens auf 1896 falsch. Die
unter dem ?blutigen Sultan` Abdülhamid verübten Massaker in und um
Erzurum, von denen die Erzählung handelt, fanden am 30. Oktober 1895
statt. Und ein ?Frauenbad` wurde nicht in Erzurum, sondern (am 30.
November 1895) in Kayseri gestürmt. Auch eine Passage in der Erzählung
?Der Bankier` über den 22. ?Tamus` (Wegner meint wohl den türkischen `
nicht arabischen! ` Namen ?temmuz` für den Monat Juli) im Jahre ?1315
der Hedschra` (falsch erläutert als 1899), an dem angeblich ?auf
Befehl des Sultans fast alle armenischen Männer in den Städten des
Reiches getötet` worden seien, ist sachlich und zeitlich völlig
irreführend. (Die bereits grauenvoll großen Massaker vor dem Genozid
von 1915 fanden 1894-96 und 1909 statt.)
Diese Beispiele ließen sich durch andere vermehren. Sie sollen nur
zeigen, wie wertvoll kompetente Sacherläuterungen wären. Den weiteren
Bänden dieser verdienstvollen Werkausgabe werden solche hoffentlich
beigegeben werden. Der erste mit seinem Schwerpunkt auf drei
Erzählungen um die Armenier-Massaker stößt heute vielleicht dadurch
auf erhöhte Aufmerksamkeit, dass es mittlerweile auch viele
historiografische und andere literarische Zeugnisse dieses Geschehens
gibt. So hat kürzlich der angesehene liberale türkische Journalist
Hasan Cemal ein beachtenswertes Buch ?Ermeni Soykırımı` (?Der
Armenier-Völkermord`) veröffentlicht (Istanbul 2012). Hasan Cemal ist
Enkel jenes Cemal Pascha, der oberster Verantwortlicher genau der
Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen war, die Wegner in seiner
unvergesslichen Kurzgeschichte ?Der Knabe Atam` dargestellt hat.
Armin T. Wegner: Der Knabe Hüssein und andere Erzählungen.
Herausgegeben von Volker Weidermann.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
311 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311046
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=17435
From: Baghdasarian